Fall Amri: Verfassungsgericht unterwirft sich dem Verfassungsschutz

Das Urteil des höchsten deutschen Gerichtes zu den V-Männern und V-Mann-Führern hat einen Konstruktionsfehler und ist anachronistisch - Einige kommentierende Betrachtungen

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat in der Berliner Fussilet-Moschee eine menschliche Quelle eingesetzt. Die Moschee war einer der Orte, von dem aus mutmaßlich mehrere Täter den Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 organisiert haben. Einer von ihnen war der Tunesier Anis Amri.

Der "Spitzel" aus der Moschee ist ein wichtiger Zeuge (siehe: Der BfV-Informant im Täterumfeld). Vielleicht war er sogar Mitwisser. Im schlimmsten Falle zählte er zu den Tatbeteiligten. Ausschließen kann man es nicht. Über das, was diese nachrichtendienstliche Quelle seit mindestens 2015 in Erfahrung brachte, schweigen die, die es wissen können. Das sind vor allem die Quellenführer und Quellenauswerter des BfV.

Der parlamentarische Untersuchungsausschuss des Bundestags müsste den V-Mann befragen. So wie er auch die ehemalige "V-Person 01" des Landeskriminalamtes (LKA) von Nordrhein-Westfalen befragt hat, die in der gewaltbereiten dschihadistischen Szene Informationen beschaffte. V-Leute sind die unmittelbarsten Zeugen.

Bei der BfV-Quelle in der Fussilet-Moschee jedoch ging man auf Seiten der Abgeordneten von Anfang an nicht so weit. Der "Spitzel" selber sollte tabu bleiben dürfen, die Staatsraison wurde akzeptiert. Für die Mitglieder der Koalitionsfraktionen, Union und SPD, sollte das auch für den hauptamtlichen V-Mann-Führer aus dem BfV gelten. Die drei kleinen Oppositionsparteien wollten den allerdings vernehmen.

"Das Aufklärungsinteresse des Parlaments muss zurücktreten"

Das Bundesinnenministerium als Dienstherr des BfV und Teil der Bundesregierung lehnte ab und weigerte sich, dem Ausschuss die Namen der verantwortlichen Beamten zu nennen. FDP, Linkspartei und Grüne zogen bereits im Dezember 2018 vor das Bundesverfassungsgericht, dessen Entscheidung nun am 3. Februar 2021 bekannt gegeben wurde: Keine Vernehmung des V-Mann-Führers, ansonsten wäre das Staatswohl in Gefahr. Im Juristendeutsch:

"Das Aufklärungsinteresse des Parlaments muss hinter den überwiegenden Belangen des Staatswohls zurücktreten."

Beschlossen worden war das BVerfG-Urteil am 16. Dezember 2020, als es mitgeteilt wurde, hatte der U-Ausschuss die Zeugenbefragungen gerade beendet.

Das Urteil wird dem Erkenntnisstand im Amri-Komplex nicht gerecht - und es fällt hinter eine parlamentarisch-demokratische Entwicklung zurück, denn im NSU-Komplex wurden in den U-Ausschüssen nicht nur V-Mann-Führer, sondern auch V-Leute als Zeugen vernommen.

Zunächst zum jüngsten Terrorkomplex. Das Bundesverfassungsgericht baut sein Pro-Verfassungsschutz-Urteil auf folgendem angeblichen Sachverhalt auf, Zitat:

"Am Abend des 19. Dezember 2016 steuerte der Attentäter Anis Amri einen Sattelzug in eine Menschenmenge auf einem Berliner Weihnachtsmarkt. Dabei starben elf Menschen, viele weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Den Fahrer des geraubten LKW hatte Amri zuvor erschossen."

Was das Gericht als Tatsache hinstellt, ist nicht mehr als eine mutmaßliche, spekulative Tätertheorie der zentralen Ermittlungsinstanzen Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt. Das ist nebenbei eine der wesentlichen Erkenntnisse aus drei Jahren Arbeit des Bundestagsuntersuchungsausschusses.

Tatsächlich spricht nach Auffassung des Autors mehr dagegen als dafür, dass Amri den LKW in den Weihnachtsmarkt gesteuert und den polnischen Fahrer Lukasz U. erschossen hat. In der Fahrerkabine der Zugmaschine wurden beispielsweise keine Fingerabdrücke und keine belastbaren DNA-Spuren von Amri gefunden, stattdessen aber mehrfach Genmaterial einer unbekannten bisher nicht identifizierten Person.

Dass ein Gericht, zumal das höchste der Republik, die Täterhypothese der Ermittler unbesehen übernimmt, ist problematisch. Ein Täter hat solange als mutmaßlich zu gelten, solange er eben gerade nicht gerichtsfest als solcher überführt und verurteilt wurde. Dass gegen den toten Amri kein Prozess mehr geführt wird, ändert an diesem Grundsatz nichts. In den Amri-Ausschüssen wird nämlich ebenfalls hoheitlich nach der Wahrheit gesucht.

Falsche Voraussetzungen - weitere Täterermittlungen sind nötig

Die steht im Falle Anis Amri nicht fest. Das Bundesverfassungsgericht ist nach Auffassung des Autors, der die Bundestagsuntersuchungsausschusssitzungen verfolgt hat, von falschen Voraussetzungen ausgegangen bei seiner Betrachtung der Frage, ob ein parlamentarisches Gremium einen Beamten zu den Informationen, die ein geheimer Informant lieferte, befragen darf. Tat und Täter sind eben nicht geklärt, sondern weiterhin offen.

Es geht also nicht nur um eine Nachbetrachtung "etwaiger Versäumnisse" von Behörden, sondern - ganz aktuell - um notwendige weitere Täterermittlungen. Wenn sich der fragliche V-Mann des BfV im mutmaßlichen Täterkreis bewegt hat, könnte er rein theoretisch sogar der LKW-Fahrer gewesen sein. Dann bekäme die Maxime, er sei durch die Nicht-Vernehmung zu schützen, eine ganz andere Bedeutung.

Und dann stellte sich auch die Frage des Staatswohls noch einmal ganz anders. Wo das Staatswohl zu finden ist, kann bei einem unaufgeklärten Vielfachmord noch gar nicht reklamiert werden.

V-Personen: "ambivalentes Element"

Die Möglichkeit, dass eine staatliche Quelle, die zu Terroristenkreisen Kontakt hat, sich an deren Taten beteiligen muss, ist ein immanentes Risiko des V-Mann-Wesens. Im Fall des Attentats auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback kann man ein solches theoretisches Szenario am Beispiel des RAF-Mitglieds und der mutmaßlichen Informantin des BfV, Verena Becker, sogar konkret durch deklinieren.

Im abweichenden Minderheitsvotum des Verfassungsrichters Peter Müller im Fall Amri kommt diese Verstrickung zwischen Nachrichtendienst und potentiellem Täterkreis auch zum Ausdruck. Der Einsatz von "V-Personen, die selbst dem Umfeld der beobachteten verfassungsfeindlichen Bestrebung angehören", stelle ein "ambivalentes Element nachrichtendienstlicher Tätigkeit" dar, schreibt Müller. Er zieht daraus die Konsequenz, dass Kontrolle "nur auf parlamentarischer Ebene" stattfinden könne, den U-Ausschüssen komme dabei "eine herausragende Rolle" zu.

Aber auch im Mehrheitsbeschluss ist davon die Rede, dass das islamistisch-terroristische Milieu in "Kleinstgruppen organisiert" und "stark abgeschottet" sei.

Das heißt: Wenn von Seiten des Innenministeriums behauptet wird, die BfV-Quelle sei potentiell gefährdet, müsste sie Teil dieser inneren Struktur gewesen sein und mindestens gefährliches Wissen besitzen.

Auffällig ist, warum nichts vom Wissen dieser Quelle bekannt werden darf.

Die Frage ist also: Wie hätte das Karlsruher Gericht entschieden, wenn es davon ausgegangen wäre, dass bislang ungeklärt ist, wer den LKW in die Menschenmenge auf dem Breitscheidplatz gesteuert hat? Und dass ungeklärt ist, wer alles zum mutmaßlichen Attentäterkreis gehörte. Wenn also, um den Anschlag aufzuklären, das Wissen der BfV-Quelle benötigt würde.

Anachronistisches Urteil

Das Urteil des Zweiten BVerfG-Senats ist obendrein anachronistisch, weil es hinter das zurückfällt, was sich in mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zum NSU-Skandal als Praxis durchgesetzt hat: Die Zeugenvernehmung von ehemaligen V-Leuten aus der rechtsextremen Szene.

So zum Beispiel in den Landtagen von Thüringen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Hessen oder Brandenburg, wo unter anderem die Ex-Spitzel Tino B., Carsten S., Stephan L., Toni St. oder Benjamin G. persönlich auftreten mussten. Keinem ist etwas passiert.

Und dann gibt es noch einen bemerkenswerten Sachverhalt, der fast untergegangen wäre: Denn mit der BfV-Quelle im Terrorfall Breitscheidplatz von 2016 ist auch das Attentat vom Münchner Oktoberfest von 1980 ins Spiel gekommen. Und zwar durch das Bundesinnenministerium selbst. In seinem Widerspruch von Juni 2018 gegenüber dem U-Ausschuss, den V-Mann-Führer zu benennen, bezieht es sich auf den "Oktoberfestbeschluss" des Bundesverfassungsgerichtes vom 13. Juni 2017.

Hintergrund war ein Antrag von Bundestagsfraktionen der Opposition, die von der Bundesregierung wissen wollten, ob eine bestimmte Person, die den Sprengstoff der Münchner Bombe geliefert haben soll, eine V-Person einer Sicherheitsbehörde gewesen sei. In seinem Beschluss wies das oberste Gericht unter anderem auch auf eine "berechtigte Geheimhaltungsbedürftigkeit bei Quellenoperationen der Nachrichtendienste" hin.

Und nun argumentierte das Bundesinnenministerium wie folgt: Wenn sich diese Entscheidung des Verfassungsgerichtes auf eine lange abgeschlossene Quellenoperation bezog und die betreffende V-Person bereits 1981 verstorben ist, dann müsse Geheimhaltung erst recht für eine aktuelle Quellenoperation wie in der Berliner Fussilet-Moschee im Amri-Komplex gelten.

Treffer. Zwar nicht für 2016, aber für 1980. Unfreiwillig hat die Bundesregierung zugegeben, dass jene Person, von der möglicherweise der Sprengstoff für die Oktoberfestbombe kam, doch im Dienst einer Sicherheitsbehörde stand. Nur Ironie der Geschichte oder Merkmal des Terrorismusgeschehens in der Bundesrepublik?

Im Fall Breitscheidplatz und Fussilet-Moschee steht die Sache umgekehrt: Hier wissen wir bereits, dass es einen V-Mann im Täterumfeld gab. Was wir noch nicht wissen, ist, welche Rolle er im Zusammenhang mit dem Anschlag spielte.