Flucht aus Dagestan: "MĂ€dchen haben da keine Rechte"

Auch systematische Straflosigkeit bei Gewalt gegen Frauen und MĂ€dchen kann ein Fluchtgrund sein. Symbolbild: Tumisu auf Pixabay (Public Domain)
Vier gerade erst volljÀhrige Frauen aus der russischen Republik Dagestan entkamen schweren Misshandlungen. Rechtslage auf dem Papier und Behördenpraxis gehen dort weit auseinander: Beamte paktieren zum Teil mit patriarchalen Clans.
Die Schwestern Khadizhat und Patimat Khizreiev sowie ihre Cousinen Amina Gazimagomedova und Primat Magomedova wuchsen in einer fundamentalistisch-muslimischen Familie in Dagestan auf, einer zu Russland gehörenden Republik nördlich des Kaukasus. GemÀà einem Bericht der lettischen Zeitung Meduza [1] erlebten sie in ihren Familien regelmĂ€Ăig körperliche Gewalt aus oft nichtigem Anlass, etwa Zweifeln an ihrer Frömmigkeit.
Die russische Menschenrechtsgruppe SK SOS veröffentlichte Fotos der Folgen schwerer Misshandlungen [2], die eine der Betroffenen von 2019 und 2021 erlebt hatte. Diese Bilder hatte die junge Frau aufbewahrt, um die Gewalt gegen sie spÀter nachweisen zu können. Sie war zusammengeschlagen worden, da ihre Mutter bezweifelte, dass sie genug betete, ein weiteres Mal war ihr Bruder der TÀter.
Die jungen Frauen berichteten einer russischen Journalistin, ihnen sei eine Ausbildung verboten worden und sie seien nach einem ersten Fluchtversuch eingesperrt worden. "MĂ€dchen haben da keine Rechte", fassten sie ihre dramatische Situation in der Heimat zusammen.
Auch GenitalverstĂŒmmelung wird von regionalen Behörden geduldet
Auch sind alle vier in ihrer Kindheit beschnitten worden. Diese VerstĂŒmmelung der weiblichen Geschlechtsorgane ist formal auch in Russland illegal und auĂerhalb des Kaukasus nicht verbreitet. Dort wird sie jedoch vor allem in Dagestan von den regionalen Behörden geduldet, berichtete die Politologin Saida Sirazhudinova der russischen Onlinezeitung lenta.ru im Jahr 2016 [3].
Als eines der MĂ€dchen mit ihrem Cousin verheiratet werden sollte und auch den anderen Zwangsverheiratungen angekĂŒndigt wurden, entschlossen sich die vier jungen Frauen zur Flucht nach Georgien. Damit setzten sie sich zunĂ€chst einer zusĂ€tzlichen Gefahr aus, denn die Flucht bedeutete fĂŒr die Familie nach den örtlichen Vorstellungen einen groĂen Ehrverlust.
Da alle vier junge Frauen volljĂ€hrig waren, stand ihnen aber formal nach russischen Recht die Ausreise ins Nachbarland frei. Dennoch wurden sie am Freitag am GrenzĂŒbergangspunkt Werchnij Lars von den russischen Beamten festgehalten und ihnen wurden die ReisepĂ€sse abgenommen.
ZunĂ€chst hieĂ es, sie seien im russischen Schuldenregister eingetragen â nach russischem Recht ein zulĂ€ssiger Grund fĂŒr eine Ausreiseverweigerung. Da eine mitgereiste AnwĂ€ltin einer Menschenrechtsgruppe eine Bescheinigung ĂŒber die Schuldenfreiheit der MĂ€dchen vorzeigen konnte, gaben die Grenzbeamten jedoch zu, dass sie wegen der Ausreise "Kontakt nach oben" aufgenommen hĂ€tten.
In dieser Situation nahmen die jungen Frauen ein dramatisches Video [4] auf, das sich via Instagram schnell viral ĂŒber das gesamte russischsprachige Internet verbreitete.
Alle vier bestÀtigten in die Kamera, dass sie an der Grenze zu Georgien seien und ihnen im Falle der Auslieferung an Eltern und Verwandte der Tod drohe. Der genaue Grund ihres Festhaltens an der Grenze war ihnen zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt. Auch ein kurzes Interview mit einer russischen Journalistin entstand in diesen Minuten.
Beamte versuchten Aussprache mit Familie zu erzwingen
Wenig spĂ€ter trafen von den Behörden alarmierte Verwandte am GrenzĂŒbergang ein â es kam zu hochdramatischen Szenen, die die AnwĂ€ltin der MĂ€dchen zum Teil ebenfalls auf Video festgehalten hat. Obwohl die jungen Frauen sie nicht sehen wollten, wurden ein Cousin und eine Mutter zu ihnen vorgelassen und versuchten sie zu einer RĂŒckkehr zu drĂ€ngen.
Dabei wurden sie so rabiat, dass die Grenzbeamten sich letztendlich zusammen mit der AnwĂ€ltin schĂŒtzend zwischen die Verwandten und die MĂ€dchen stellten und drohten, sie notfalls mit Waffengewalt zu schĂŒtzen.
Nach etwa zehn Stunden Wartezeit und diesen hochdramatischen Szenen entschlossen sich die russischen Grenzer dann doch, die vier jungen Frauen nach Georgien ausreisen zu lassen. Nach Auskunft der Menschenrechtler von SK SOS befinden sie sich dort mittlerweile in Sicherheit.
Auch innerhalb Russlands standen regionale Behörden aus dem Nordkaukasus immer wieder wegen ihres Verhaltens in Bezug auf die UnterdrĂŒckung von Frauen unter breiter gesellschaftlicher Kritik, berichtete 2021 die Moskauer Politologin Julia Dudnik [5]. Schlagzeilen machte damals die Flucht einer jungen Frau aus Tschetschenien in ein Frauenhaus in der Nachbarrepublik Dagestan. Sie wurde von tschetschenischen Sicherheitsbehörden von dort entfĂŒhrt und verschwand kurz darauf.
Bei den Frauenrechten in Russland entsteht auch "manchmal der Eindruck, die Fragmente passen nicht ins Bild eines einzigen Landes", stellte Dudnik damals fest. So ist die Situation moderner Frauen in Metropolen eher auf westlichem Niveau, in nordkaukasischen Provinzen dagegen viel schwieriger. Inwieweit die zunehmend ultrakonservative Politik der russischen Regierung auch die Lage der Frauen allmÀhlich landesweit verschlechtert, wird sich bald zeigen.
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[1] https://meduza.io/feature/2022/10/29/ogromnaya-veroyatnost-chto-nas-ubyut
[2] https://t.me/sksosorg/219
[3] https://lenta.ru/articles/2016/08/17/obrezanie/
[4] https://www.instagram.com/reel/CkToVtWDgB5/?utm_source=ig_embed&ig_rid=e08b6fa4-7653-492a-9f49-011f971a4002
[5] https://www.heise.de/tp/features/Frauenrechte-und-Feminismus-in-Russland-ein-Mosaik-6167613.html
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