Flucht aus Dagestan: "Mädchen haben da keine Rechte"
Vier gerade erst volljährige Frauen aus der russischen Republik Dagestan entkamen schweren Misshandlungen. Rechtslage auf dem Papier und Behördenpraxis gehen dort weit auseinander: Beamte paktieren zum Teil mit patriarchalen Clans.
Die Schwestern Khadizhat und Patimat Khizreiev sowie ihre Cousinen Amina Gazimagomedova und Primat Magomedova wuchsen in einer fundamentalistisch-muslimischen Familie in Dagestan auf, einer zu Russland gehörenden Republik nördlich des Kaukasus. Gemäß einem Bericht der lettischen Zeitung Meduza erlebten sie in ihren Familien regelmäßig körperliche Gewalt aus oft nichtigem Anlass, etwa Zweifeln an ihrer Frömmigkeit.
Die russische Menschenrechtsgruppe SK SOS veröffentlichte Fotos der Folgen schwerer Misshandlungen, die eine der Betroffenen von 2019 und 2021 erlebt hatte. Diese Bilder hatte die junge Frau aufbewahrt, um die Gewalt gegen sie später nachweisen zu können. Sie war zusammengeschlagen worden, da ihre Mutter bezweifelte, dass sie genug betete, ein weiteres Mal war ihr Bruder der Täter.
Die jungen Frauen berichteten einer russischen Journalistin, ihnen sei eine Ausbildung verboten worden und sie seien nach einem ersten Fluchtversuch eingesperrt worden. "Mädchen haben da keine Rechte", fassten sie ihre dramatische Situation in der Heimat zusammen.
Auch Genitalverstümmelung wird von regionalen Behörden geduldet
Auch sind alle vier in ihrer Kindheit beschnitten worden. Diese Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsorgane ist formal auch in Russland illegal und außerhalb des Kaukasus nicht verbreitet. Dort wird sie jedoch vor allem in Dagestan von den regionalen Behörden geduldet, berichtete die Politologin Saida Sirazhudinova der russischen Onlinezeitung lenta.ru im Jahr 2016.
Als eines der Mädchen mit ihrem Cousin verheiratet werden sollte und auch den anderen Zwangsverheiratungen angekündigt wurden, entschlossen sich die vier jungen Frauen zur Flucht nach Georgien. Damit setzten sie sich zunächst einer zusätzlichen Gefahr aus, denn die Flucht bedeutete für die Familie nach den örtlichen Vorstellungen einen großen Ehrverlust.
Da alle vier junge Frauen volljährig waren, stand ihnen aber formal nach russischen Recht die Ausreise ins Nachbarland frei. Dennoch wurden sie am Freitag am Grenzübergangspunkt Werchnij Lars von den russischen Beamten festgehalten und ihnen wurden die Reisepässe abgenommen.
Zunächst hieß es, sie seien im russischen Schuldenregister eingetragen – nach russischem Recht ein zulässiger Grund für eine Ausreiseverweigerung. Da eine mitgereiste Anwältin einer Menschenrechtsgruppe eine Bescheinigung über die Schuldenfreiheit der Mädchen vorzeigen konnte, gaben die Grenzbeamten jedoch zu, dass sie wegen der Ausreise "Kontakt nach oben" aufgenommen hätten.
In dieser Situation nahmen die jungen Frauen ein dramatisches Video auf, das sich via Instagram schnell viral über das gesamte russischsprachige Internet verbreitete.
Alle vier bestätigten in die Kamera, dass sie an der Grenze zu Georgien seien und ihnen im Falle der Auslieferung an Eltern und Verwandte der Tod drohe. Der genaue Grund ihres Festhaltens an der Grenze war ihnen zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt. Auch ein kurzes Interview mit einer russischen Journalistin entstand in diesen Minuten.
Beamte versuchten Aussprache mit Familie zu erzwingen
Wenig später trafen von den Behörden alarmierte Verwandte am Grenzübergang ein – es kam zu hochdramatischen Szenen, die die Anwältin der Mädchen zum Teil ebenfalls auf Video festgehalten hat. Obwohl die jungen Frauen sie nicht sehen wollten, wurden ein Cousin und eine Mutter zu ihnen vorgelassen und versuchten sie zu einer Rückkehr zu drängen.
Dabei wurden sie so rabiat, dass die Grenzbeamten sich letztendlich zusammen mit der Anwältin schützend zwischen die Verwandten und die Mädchen stellten und drohten, sie notfalls mit Waffengewalt zu schützen.
Nach etwa zehn Stunden Wartezeit und diesen hochdramatischen Szenen entschlossen sich die russischen Grenzer dann doch, die vier jungen Frauen nach Georgien ausreisen zu lassen. Nach Auskunft der Menschenrechtler von SK SOS befinden sie sich dort mittlerweile in Sicherheit.
Auch innerhalb Russlands standen regionale Behörden aus dem Nordkaukasus immer wieder wegen ihres Verhaltens in Bezug auf die Unterdrückung von Frauen unter breiter gesellschaftlicher Kritik, berichtete 2021 die Moskauer Politologin Julia Dudnik. Schlagzeilen machte damals die Flucht einer jungen Frau aus Tschetschenien in ein Frauenhaus in der Nachbarrepublik Dagestan. Sie wurde von tschetschenischen Sicherheitsbehörden von dort entführt und verschwand kurz darauf.
Bei den Frauenrechten in Russland entsteht auch "manchmal der Eindruck, die Fragmente passen nicht ins Bild eines einzigen Landes", stellte Dudnik damals fest. So ist die Situation moderner Frauen in Metropolen eher auf westlichem Niveau, in nordkaukasischen Provinzen dagegen viel schwieriger. Inwieweit die zunehmend ultrakonservative Politik der russischen Regierung auch die Lage der Frauen allmählich landesweit verschlechtert, wird sich bald zeigen.