Frauenrechte und Feminismus in Russland: ein Mosaik

An Nadeschda Tolokonnikowa von Pussy Riot denken viele, wenn es um Feminismus in Russland geht. Ihre Instragram-Seite betreibt die Gruppe auf Englisch. Foto: re:publica/Jan Zappner CC-BY-SA-2.0

Ein mutmaßlicher Haustyrannenmord hat eine breite Debatte ausgelöst. Klischees, schmerzhafte Realitäten und Lichtblicke für "den schönsten Teil der Menschheit"

Russische Frauen gehen nicht einkaufen, ohne sich geschminkt zu haben, so lautet ein bekanntes Stereotyp. Nicht umsonst nennt man die Frauen in Russland "den schönsten Teil der Menschheit". Spaß beiseite: Es gibt aktuell in der russischen Gesellschaft spannende Entwicklungen im Bezug auf Frauenrechte, die viel tiefer gehen und wichtige Aspekte des Soziallebens betreffen. Es entsteht dabei manchmal der Eindruck, die Fragmente passen nicht ins Bild eines einzigen Landes, so unterschiedlich sind sie.

Gewaltopfer statt Mörderinnen: die Chatschaturjan-Schwestern

2018 hat die Geschichte um den Mord an Michail Chatschaturjan durch seine drei Töchter viele Schlagzeilen gemacht. Das Motiv für die Tat war jahrelange, massive Gewalt, die die Mädchen zu Hause erleiden mussten. Nach der Verhaftung sah die Zukunft der Schwestern zunächst düster aus. Die Ermittlungsbehörden gingen von einem Mord mit vorheriger Absprache aus, und Teile der Verwandtschaft des getöteten Vaters bezeugten seine Unschuld.

Der Vorfall sorgte für eine breite gesellschaftliche Debatte. Die Institution der Familie, die zu wichtigsten Säulen der russischen Kultur gehört, wurde infrage gestellt. Wie kam es dazu, dass in so einer auf den ersten Blick vorbildlichen Familie die Töchter vom eigenen Vater missbraucht wurden? Wie kam es dazu, dass dies vor dem Mord nie herausgekommen war? Und wie viele Familien gibt es noch, in denen junge oder ältere Frauen misshandelt werden, ohne dass Außenstehende davon erfahren?

Im März 2021 bekam der Prozess eine neue Dimension: die Mädchen wurden von Mörderinnen zu Opfern umklassifiziert, damit auch posthum gegen den Vater ermittelt werden konnte. Am 11. August teilten die Anwälte der Chatschaturjan-Schwestern mit, Experten haben Gewalt in der Familie Chatschaturjan nachgewiesen, die den Mord kausal verursacht habe. Psychiater stellten fest, dass alle drei Mädchen seit 2014 unter brutaler Misshandlung und sexueller Gewalt gelitten hatten.

Der Kriminalfall zeigte, wie viele Lücken das russische Rechtssystem hat, das keine Sicherheit für Frauen und Mädchen gewährleistet, wenn sie Gewalt in der Familie erleben. Jedoch gehen die Meinungen, was unter "Gewalt" zu verstehen ist, in Russland weit auseinander. 2019 ergab eine Umfrage des Lewada-Zentrums zu diesem Thema, dass nur die Hälfte der Russen sexuelle Handlungen ohne Zustimmung überhaupt für Gewalt halten. Nur 58 Prozent der Russen sahen demnach Gewalt ohne Folgen für die Gesundheit als solche an. Drei Viertel halten Prügel mit gesundheitlichen Folgeschäden für Gewalt.

#IchWollteNichtSterben vs. #FürDieFamilie

Allerdings gibt es in Russland auch gesellschaftliches Engagement für eine ernstere Sicht auf das laut Umfrage von vielen verharmloste Thema. Damit die Taten definiert sind und Frauen gesetzliche Unterstützung bekommen, braucht es ein Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt, glaubt eine Gruppe von Aktivistinnen - einen entsprechenden Gesetzentwurf gibt es seit 2016.

#IchWollteNichtSterben (#янехотелаумирать) heißt ein Hashtag, der von Alena Popowa und Alexandra Mitroschina in soziale Netzwerke gesetzt und dort weiterverbreitet wurde. Frauen posteten dabei Fotos mit geschminkten Wunden am Gesicht und Körper, um daran zu erinnern, was sich hinter einem vordergründig harmonischen Familienbild verbergen kann.

Mit fast einer Million Unterschriften ist die Petition von Alena Popowa auf der Webseite Change.org eine der meist unterschriebenen Petitionen in Russland überhaupt. Sie richtet sich an die Regierung Russlands und die Staatsduma. Zu den Forderungen gehört vor allem der Beschluss des Gesetzes zur häuslichen Gewalt. Einige Duma-Abgeordneten unterstützen die Initiative, darunter Oxana Puschkina, eine der Mitautorinnen des Gesetzentwurfs.

Nach wie vor halten nicht alle in Russland ein solches Gesetz für nötig. Einen offenen Brief dagegen unterschrieben etwa 180 Organisationen, meist aus dem Umfeld der orthodoxen Kirche und von Abtreibungsgegnern. Die verweisen unter anderem darauf, dass unter Unterstützern des Gesetzes viele LGBTQ-Organisationen sind, was "traditionellen russischen Werten widerspricht". Auch gegen die Initiative gerichtete Demonstrationen unter dem Motto "#FürDieFamilie" gab es seit 2019.

Frauenhäuser und #DuBistNichtAllein

Eine 22-jährige Frau namens Chalimat Taramowa aus der autonomen Teilrepublik Tschetschenien flüchtete im Juni von ihrer Familie in ein Frauenhaus im benachbarten Dagestan. Laut ihrem damaligen Video-Post hatte sie in ihrer Familie Gewalt wegen ihrer sexuellen Orientierung erlebt und wollte den Nordkaukasus verlassen. Von Silowiki, Beamten aus dem Apparat der Teilrepublik, und ihrem Vater, dem Ex-Vizeminister Tschetscheniens für Wohnungs- und Kommunalwirtschaft, wurde sie aber aus der Zuflucht - so war der offizielle Sprachgebrauch - "befreit" und nach Hause gebracht.

Dorthin kamen angebliche tschetschenische Menschenrechtler, die offiziell feststellten, die Bedingungen in der Familie seien in Ordnung und die junge Frau fühle sich wohl. Geflüchtet sei sie in Folge von Manipulationen einer Bekannten. Anfang August erschienen die Nachrichten, Chalimat sei wieder geflohen. Die Frauenhaus-Organisatorin Swetlana Anochina meint jedoch, Taramowa könnte schon tot sein und die Nachricht diene zur Verwirrung der Öffentlichkeit.

Frauenhäuser gibt es in verschiedenen Regionen Russlands, und damit verbunden sind nicht nur grausame Geschichten. Dass Frauen das Haus, in dem sie Gewalt erleben, möglichst schnell verlassen können, ist das Ziel solcher Häuser in Russland wie in anderen Ländern. Es geht dabei in Russland aber nicht nur um potenzielle finanzielle Probleme, die damit verbunden sind, sondern auch um fehlendes Vertrauen zur Polizei und psychologische Barrieren, meint Agunda Bekojewa, Menschenrechtlerin aus Nordossetien.

Wichtig war, dass auch große Marken auf das Problem der häuslichen Gewalt aufmerksam machten und bei einem anderen Projekt von Alena Popowa #DuDistNichtAllein (#тынеодна) mitwirkten. Der russische Essenslieferdienst "Delivery Club", die Mobilfunkgesellschaft "Tele 2" und andere Firmen stellten spezielle Gratis-Kisten für Frauen, die das eigene Haus verlassen mussten, mit für sie zentralem Inhalt: Pflegemittel, Kleidungsstücke, Gutscheincodes für Taxis und Nahrung.

Das feministische Gesicht Russlands

Frauenrechte sind ein Thema, dass viele Aktivist/innen in Großstädten in Russland bewegt. In Europa kennt man vor allem die Punk-Band "Pussy Riot", die wegen des "Punk-Gebets" gegen Präsident Wladimir Putin 2012 in der Christ-Erlöser-Kathedrale bekannt ist. Die Aktion wurde staatlicherseits als Rowdytum eingestuft. Nadeschda Tolokonnikowa, und Marija Aljochina, zwei Bandmitglieder, verbrachten dafür fast zwei Jahre im Gefängnis, Jekaterina Samuzewitsch bekam eine Bewährungsstrafe.

Heute setzen sich die Teilnehmerinnen für Genderfreiheit, gegen das Patriarchat und Sexismus ein. Merkwürdig ist dabei aber, dass die Instagram-Seite der Gruppe, die über ihr Engagement im Bezug auf Russland informiert, ausschließlich auf Englisch betrieben wird.

Auf Russisch und gezielt im russischen Netz erzählte in ihrem Blog und auf anderen Plattformen Tatjana Nikonowa von Geschlechtergerechtigkeit, Sexualität und "Body Positivity". Auf sympathische Weise griff sie Themen auf, die in Russland selten angesprochen wurden, und legte großen Wert auf die Aufklärung der Jugend. Fehlendes Verständnis und Hasswellen, die zum Alltag von Aktivistinnen gehören, nahm Nikonowa dabei mit Humor auf. Bekannt wurde zum Beispiel ihre Debatte mit ihrem Namensvetter Alexander Nikonow, dem Autor des Buches "Ende des Feminismus. Was die Frau vom Menschen unterscheidet".

2020 bekam Nikonowa den Preis "Beste Bloggerin" des Magazins "Lady Mail.ru" in der Kategorie "Frauenrechte". Nach ihrem Tod im Mai 2021 haben Nikonowas Freunde beschlossen, eine Community zu schaffen, in der Expertinnen und Experten verschiedener Bereiche ihre Aufklärungstätigkeit fortführen können

Nach wie vor bleibt aber die feministische Szene in Russland allgemein gespalten. Die Ansichten gehen weit auseinander. Diskussionen über den "richtigen" Feminismus nehmen zu; Auseinandersetzungen unter den Aktivistinnen, zwischen den Anhängern der "traditionellen Werte" und Feministinnen, die diese kritisch sehen, sind heftig. Sie widerspiegeln die vielfältige ideologische Landschaft gerade zu Frauenthemen innerhalb Russlands.

Positiv ist, dass es hier überhaupt eine Debatte, wenn auch nicht immer inklusive alle Seiten, gibt: Sie ist, wo Meinungen so weit auseinander gehen, ein schmerzhafter, aber der einzige Weg.

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