Frankreich: Die Wut steigt weiter

Seite 2: Streikfolgen und Polizeigewalt

Am Vorabend – Montag – waren 171 Menschen meist jüngeren Alters in Paris festgenommen worden; zuvor waren mobile Kleingruppen u.a. durch den Stadtteil rund um den Saint Lazare-Bahnhof, das Opernviertel, die Umgebung des Louvre-Museums sowie über die Place de la Bastille gezogen, ohne Anmeldung einer Demo und mit Koordinierung über Telegramm oder Signal und andere Netzwerke. Dabei brannten einige Mülleimer und -container.

"Das Macronsägen-Massaker : Arbeitslosenkasse, Renten, Krankenhaus, Klimapolitik, Schulwesen ..." Demonstration in Paris, 11. März 2023. Foto: Bernard Schmid

Auch Streikfolgen machen sich zunehmend bemerkbar; frankreichweit mussten bislang (Stand Nacht zum Mittwoch) fünf Prozent der Tankstellen den Verkauf mindestens einiger Erdölprodukte einstellen. Im südostfranzösischen Département Bouches-du-Rhône (Rhonemündung), zu dem Marseille gehört, lag zuletzt jede zweite Tankstelle trocken.

Am Dienstagmittag erzwangen starke Polizeieinheiten den Zugang zur bestreikten Raffinerie im Erdölhafen von Fos-sur-Mer in der Nähe von Marseille, um zumindest einige Tankwagen aufladen zu können (normalerweise werden dort bis zu 800 Tankwagen täglich abgefertigt). Die CGT Bouches-du-Rhône leistete handfesten Widerstand gegen deren Einwand.

Die zahlreichen mobilisierten Mitglieder und Unterstützerinnen und Unterstützer wurden mit Tränengas eingedeckt und antworteten ihrerseits z.T. mit Steinwürfen; drei Polizisten wurden laut offiziellen Angaben verletzt, von ihnen zwei im Krankenhaus von Martigues behandelt.

In mittleren und kleineren Städten, wie Dijon und Gueugnon in der ostfranzösisichen Region Bourgogne (Burgund), mehren sich Fabrikblockaden.

Polizeigewalt

Auch die Repression eskaliert, in der Nacht vom Donnerstag letzter Woche zum Freitag wurden allein in Paris 292 Festgenommene verzeichnet, in jener vom vergangenen Montag zum Dienstag mindestens 271.

Allem Anschein nach nimmt die Polizei jedoch oft einfach mit, wer zur falschen Zeit am falschen Ort war. Von den 292 Aufgegriffenen in der Nacht zum vorigen Freitag, den 17. März, kamen 283 ohne Strafverfolgung frei, doch erst nach 15- bis 24-stündigem Gewahrsam.

Auch in den Medien bis hin zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen, aber auch zum wirtschaftsliberalen Privatfernsehsender BFM TV – dieser benutzte am Dienstag zur Frühstückszeit auch explizit und ohne die sonst übliche Distanzierung den Begriff von "Polizeigewalt" und zeigte Bilder eines Zusammengeschlagenen am Boden – wächst die Kritik an "willkürlichen Aufgriffen".

Die linkere der drei Richtergewerkschaften, der SM (syndicat de la magistrature), und die Anwältinnengewerkschaft SAF wetterten in Kommuniqués gegen eine "Instrumentalisierung der Justiz zur Repression gegen soziale Bewegungen". Der SAF klärte in einer internen E-Mail die eigenen Mitglieder auf, was im Falle einer unerwarteten Verhaftung zu tun sei.

Überdies kam es auch zu Übergriffen auf Journalisten oder Journalistinnen. Und im westfranzösischen Nantes erstatteten vier jungen Frauen Strafanzeige wegen sexualisierter Gewalt bei einem Polizeieinsatz.

Allzu schnell dürfte sich die Lage kaum beruhigen, das Abwürgen der Abstimmung zur "Reform" sowie der knappe Ausgang der Abstimmung eröffneten eine handfeste innenpolitische Krise.

Am heutigen Donnerstag findet der neunte zentrale, durch die Gewerkschaften aufgerufene Aktionstag seit Ende Januar statt. Ein wesentlich massiverer Ausfall von Verkehrsmitteln als an den vorigen beiden wurde verzeichnet.

Der Tag begann mit Gleisbesetzungen in Bahnhöfen in mehreren südfranzösischen Städten wie Marseille, Montpellier und Toulouse besetzt; zu Wochenanfang war es dazu in Bordeaux und Toulon gekommen.

Im westfranzösischen Saint-Nazaire wurde die Brücke über den Loire-Strom, über die ein wesentlicher Teil des Warenverkehrs vom Atlantik her verläuft, bei Besetzungsaktionen beschädigt.

Während im Raum Paris die Müllabfuhr weiterstreikt, wo nicht Beschäftigte durch "réquisitions" – strafbewehrte Dienstverpflichtungen, bei Zuwiderhandlungen drohen bis zu sechs Monate Haft; eine Kontrollklage vor dem Verwaltungsgericht gegen die Anordnung ist möglich – zum Dienst gezwungen wurden, blockierten Unterstützerinnen und Unterstützer am Morgen mehrere Depots, um die Ausfahrt der Müllwagen zu verhindern. In Aubervilliers bei Paris schafften sie es, die anrückende Polizei zurückzudrängen.

Die Dimensionen der Demonstrationen, u.a. in Paris und in zahlreichen weiteren Städten, werden im Laufe des Tages über die Dynamik des derzeitigen Mobilisierungsstands Auskunft erteilen. Dazu wurden 5.000 Angehörige von Polizei und Gendarmerie allein in der Hauptstadt, 12.000 landesweit mobilisiert.