Frankreich: Regierungschef Philippe prinzipiell offen für Plebiszite
Das Instrument der direkten Demokratie gehöre zur großen Debatte infolge der Proteste. Allerdings setzt der Premierminister Grenzen
Der französische Premierminister Edouard Philippe rechnet vor: Alleinstehende ohne Kinder, die bis zu 1.560 Euro netto monatlich verdienen, bekommen künftig 100 Euro mehr. Bei alleinstehenden Müttern, die zahlreich bei den Kreisverkehr-Protest-Stationen der Gelben Westen vertreten seien, liegt die Grenze für die 100-Euro-Prämie bei 2.000 Euro Nettoverdienst im Monat.
Bei einem Paar mit zwei Kindern, bei dem ein Elternteil das Mindesteinkommen und der Partner oder die Partnerin 1.750 Euro netto im Monat verdient, werden sich die Einkommen um 200 Euro erhöhen. Da man sich dabei der Beschäftigungsprämie für Geringverdiener bediene, seien auch "Freie" und Staatsbeschäftigte eingeschlossen, deren Einkommen in der Nähe des Mindestlohns liegen.
Die Beispiele sind einem Gespräch des Regierungschefs entnommen, das er mit der französischen Wirtschafts- und Finanzzeitung Les Echos geführt hat und das heute veröffentlicht wird. Auf die Frage, warum nicht alle Mindestlohnempfänger den 100-Euro-Aufschlag bekommen, antwortet Edouard Philippe, dass nicht alle dafür vorgesehen wären, weil man mit der Maßnahme auf die Mittelklasse ziele, aber erstaunlicherweise 1,2 Millionen Mindestlohnempfänger den 30 Prozent der Haushalte angehören würden, die zu den bestgestellten in Frankreich rechnen.
Man wolle aber die Kaufkraft der Haushalte verbessern, die zur Mittelklasse gehören, was ja zu den Forderungen der Gelben Westen gehöre. Wenn man nun das Gesamteinkommen des Haushalts zur Basis nehme, so erscheine ihm dies nicht als skandalös, sondern als Angelegenheit der sozialen Gerechtigkeit.
Priorität: Entgegenkommen zeigen
Dem Interview mit dem Premierminister ist, wie schon bei der Rede Macrons vor genau einer Woche, das Bemühen abzulesen, auf die Protestbewegung einzugehen und sie mit konkreten Vorschlägen zu beruhigen (auch wenn heute der Fraktionschef der Regierungspartei mit überheblichen Aussagen auffiel). Hauptansatzpunkt ist die Kaufkraft, die in Frankreich nicht erst unter Macron, sondern schon unter Präsident Sarkozy ein großes Thema war.
Zum anderen scheint sich innerhalb der Regierung die Maxime durchgesetzt zu haben, möglichst sachte auf weitergehende Forderungen der Proteste einzugehen. Zu sehen ist das an Philippes Reaktion auf die Forderung nach mehr direkter Demokratie. Wie berichtet, fiel bei den Demonstrationen der Gelben Westen am vergangenen Samstag auf Plakaten diesmal besonders das Kürzel RIC auf. Es steht für référendum d'initiative citoyenne, wörtlich übersetzt: Referendum aufgrund einer Initiative der Bürger.
(Andere ebenfalls häufiger zu lesende Plakatinschriften, die Macron zum Rücktritt auffordern - "Macron dégage", auf Deutsch sinngemäß "Macron, hau ab" - sind anscheinend nicht nur der Regierung unangenehm, sondern auch dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender France 3. Jedenfalls musste der sich nun des Vorwurfs erwehren, dass er diese Forderung aus einem Foto herausretuschiert hat. Der Sender entschuldigte sich, überzeugte aber nicht wirklich mit der Begründung, dass dies unabsichtlich geschehen sei).
"Ein gutes Instrument in einer Demokratie"
Im Interview mit Les Echos bestätigte Eduard Philippe, dass die Forderung nach einem Referendum ebenfalls zur großen Debatte gehöre, die man - wie es Macron ankündigte - die nächsten Monate führen werde. France Soir, das damit jenen Teil des Interviews abdeckt, das in der Onlineversion von Les Echos nicht auftaucht, zitiert ihn mit den Worten, dass er nicht wüsste, "wie man gegen das Prinzip sein kann. Das Referendum kann ein gutes Instrument in einer Demokratie sein".
Auch hier gilt das neue Prinzip "erstmal Entgegenkommen zeigen". Im Nachsatz zieht der Premierminister Grenzen. Das Referendum auf Initiative der Bevölkerung könne nicht jedwedes Thema unter jedweden Umständen behandeln.
Laut des Berichts von France Soir gibt es auch im Parlament Stimmen, die sich "im Prinzip" dafür aussprechen, aber auch Reserven gegen allzu große politische Möglichkeiten dieser Form der direkten Demokratie geltend machen. Man fürchtet durch ein Plebiszit, das nach den Forderungen der Gelben Westen Gesetzesentwürfe einbringen wie auch über Gesetze abstimmen soll, eine Schwächung des Parlaments.
Ohnehin sei das Parlament durch das System der 5. Republik geschwächt, da dem Präsidenten darin eine übergroße Rolle zugesprochen wurde. Man sieht: Der großen Debatte, welche die "gespaltene Nation" wieder zusammenführen soll, fehlt es nicht an Themen. Die Frage ist, ob sie auch mit einem ernsthaften politischen Willen zur Veränderung angegangen werden.
700.000 statt 4,5 Millionen Unterzeichner
Nach Informationen der Zeitung sehen Vorschläge aus den Reihen der Gelben Westen vor, dass landesweit 700.000 Stimmen für ein Referendum zusammenkommen müssen. Das wären erheblich weniger, als es eine Verfassungsänderung von 2008, initiiert unter der Präsidentschaft Sarkozys, verlangt. Diese setzt voraus, dass der Vorschlag zu einer Volksabstimmung von einem Fünftel der Abgeordneten der Nationalversammlung unterstützt werden muss und von einem Zehntel der Wählerschaft des Landes, was auf etwa 4,5 Millionen Unterzeichner hinausläuft.
Die wenig überraschende Folge: "In zehn Jahren konnte kein Referendum organisiert werden."
Steuererhöhungen für Google, Amazon, Apple und Facebook
Dem eingangs genannten Gespräch mit dem Premierminister ist auch zu entnehmen, dass die Kompensation für die Mehrausgaben durch die staatliche Aufstockung der niedrigen Einkommen mit komplizierten Operationen verbunden ist, da man die Unternehmen weiter begünstigen will, damit die Wirtschaft in Schwung komme.
Das bleibt wesentliches Element der Wirtschaftspolitik, wie Philippe betont. Deswegen haben man sich auch gegen eine allgemeine Erhöhung des Mindestlohns entschieden, da dies den Unternehmen zu große Lasten auferlegt hätte. Nun versucht man sich an Balanceakten.
Budget-Erleichterungen sollen darüber hinaus Entlassungen von Staatsbeschäftigten bringen. Solche Sparmaßnahmen waren allerdings schon unter dem Vorgängerpräsidenten Hollande so unpopulär, dass er damit größte Mühe hatte.
Als weitere Einkunftsquelle wird auf eine höhere Besteuerung von Google, Apple, Facebook und Amazon verwiesen, die sich auch in Forderungen der Gilets jaunes wiederfinden. Laut Wirtschaftsminister Bruno Le Maire sollen schon ab Januar 2019 mehr Steuern bei den genannten US-Konzernen erhoben werden, die einen Firmensitz in Frankreich haben. Übers Jahr geschätzt sollen die Steuern 500 Millionen Euro an Einnahmen erbringen.