Freie Wähler: Auf dem Weg zur "ganz normalen" Partei?

Die Freien Wähler treten zur Europawahl an. Doch der erfolgreichste Landesverband trägt die Entscheidung nicht mit

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In den vergangenen Jahren haben sich die Freien Wähler in mehreren Bundesländern zu einer festen Größe entwickelt. Bei der baden-württembergischen Kommunalwahl am 13. Juni 2004 feierten sie ihren bislang größten Erfolg und stellen seitdem 44 Prozent aller Gemeinderäte und 24 Prozent der Kreisräte. Aber auch bei den Kommunalwahlen im Saarland (2004), in Sachsen oder Schleswig-Holstein (2008) fanden die Freien Wähler erheblichen Zuspruch. Seit September 2008 ist mit ihnen auch auf Landesebene zu rechnen. Bei der Wahl zum 16. Bayerischen Landtag gewannen sie 10,2 Prozent der Stimmen und zogen mit 21 Abgeordneten in das Parlament ein.

Der Vormarsch ist in den eigenen Reihen allerdings nicht unumstritten, denn viele Freie Wähler sehen ihre Aufgaben ausschließlich im kommunalen Bereich und wollen darüber hinaus als Alternative zu den etablierten Parteien wahrgenommen werden. Doch einigen ehrgeizigen Führungskräften, die längst auch in der Bürgerbewegung ein umfangreiches Betätigungsfeld gefunden haben, reicht die Beschäftigung mit Kindergärten, Stadtfinanzen und Verkehrsprojekten nicht mehr aus. Sie wollen bundesweit beachtet werden und zukünftig sogar auf europäischer Ebene ein Wörtchen mitreden.

Am 24. Januar hatten Freie Wähler aus ganz Deutschland bereits eine Bundeswählergruppe gegründet, die im Status eines eingetragenen Vereins arbeitet und "nur natürliche Personen" als Mitglieder aufnehmen kann. Am vergangenen Wochenende wurde nun beschlossen, zunächst zur Europawahl am 7. Juni anzutreten. Hierzu ist keine Parteigründung erforderlich. Je nach Verlauf des Urnengangs soll dann über die Teilnahme an der Bundestagswahl entschieden werden.

14 von 16 Landesverbänden stimmten den Plänen zu, Spitzenkandidatin soll nach Angaben des bayerischen Landesvorsitzenden Hubert Aiwanger voraussichtlich die frühere „CSU-Rebellin“ Gabriele Pauli werden. Ein programmatischer Schwerpunkt könnte auf der Erweiterung der Entscheidungsspielräume für die Kommunen in der Europäischen Union liegen. Das Thema „Kommunen als Keimzellen des Staates“ spielte auch bislang eine entscheidende Rolle in den Wahlkämpfen der Freien Wähler.

Die Freien Wähler fordern mehr Handlungsspielraum für die Kommunen, weil hier am zielsichersten auf politische Probleme reagiert werden kann, und weil hier der örtliche Sachverstand einfließen kann. (...) Meistens kommt die Kommune mit weniger Mitteln schneller zum Ziel als Zentralbehörden das können. Es ist also auch vor dem Hintergrund des Umganges mit Steuergeldern zu fordern, den Kommunen so viel Macht wie möglich einzuräumen.

ZUKUNFT SICHERN! Die Leitlinien der Freien Wähler

Abrechnung mit den Altparteien, Führerscheinrichtlinie und Rinderimpfung

Von einem regulären Parteiprogramm oder einer mehrheitsfähigen Einstellung zu den wesentlichen Politikfeldern sind die Freien Wähler, bei denen sich bundesweit nach eigenen Angaben 282.000 Mitglieder organisiert haben, naturgemäß weit entfernt. Die regionale Aufsplitterung verhinderte bislang eine einheitliche Meinungsbildung, so dass jede Wählergruppe mit ihren eigenen Themen auf Stimmenfang ging.

Die Leitlinien des bayerischen Landesverbandes stellen den „Bürger in den Mittelpunkt der Politik“, fordern eine lebenswerte „Zukunft für den ländlichen Raum“, „Arbeit muss sich wieder lohnen!“ oder „Der Familie eine Chance!“ und sehen in der Bildung natürlich den „Schlüssel zur Zukunft“.

Aufregend klingt das alles nicht, aber offenbar gelingt es den Freien Wählern immer wieder, sich als authentisch-bürgerliche und besonders glaubwürdige Alternative zu präsentieren. Folgerichtig sieht Malte Tech, Vorsitzender des erst Ende 2008 gegründeten Landesverbandes Schleswig-Holstein, eine wesentliche Aufgabe darin, „der Schrecken der zu satt gewordenen und bürgerfernen Altparteien zu werden“. Sein vorläufiges „Programm“ beginnt mit einer Abrechnung. Alle anderen Parteien haben ihre Identität verloren und die eigene Klientel verraten, erheben Forderungen, „die aus sozialistischen Träumen stammen“, oder dienen ausschließlich dem eigenen Machterhalt und Profitinteresse. Nur für die Freien Wähler gilt das selbstverständlich nicht.

Die Freien Wähler verstehen sich als Gegenbewegung. Nicht Parteiprogramme, Listenplätze, festgefahrene Machtstrukturen, nicht abstrakte und menschenferne Theorien – sondern nur die unmittelbare, partizipative, also teilhabende Entscheidungsfindung freier Bürger kann auf die Fragen Antworten finden, wie wir in dieser unübersichtlich gewordenen Welt eine gemeinsame Zukunft gestalten wollen. (…) Nicht die Macht und die Bürokratie, nicht das Geld und der Mehrwert stehen im Mittelpunkt – sondern der Mensch.

Gründungsprogramm Freie Wähler Schleswig-Holstein

In der politischen Alltagspraxis geht es dann auch etwas weniger pathetisch. Die Anträge, welche die Freien Wähler im laufenden Monat in den Bayerischen Landtag einbrachten, beziehen sich auf die energetische Gebäudesanierung der Polizeigebäude im Freistaat, die Impfung von Rindern gegen die Blauzungenkrankheit, eine Änderung der Führerscheinrichtlinie für Einsatzkräfte von Feuerwehr, Rettungsdienst und Katastrophenschutz, die Abschaffung der Studiengebühren oder die Verringerung der Klassenhöchststärken an Volksschulen, Realschulen und Gymnasien.

Auf der Suche nach dem eigenen Programm

Der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, hat in jüngster Zeit sein Herz für die Freien Wähler entdeckt, allerdings auch entscheidende Defizite ausgemacht. Über die großen bundespolitischen Themen könne man sich noch nicht kompetent äußern, meinte Henkel am Wochenende: „Da denkt bei euch doch jeder noch was anderes.“

Der 68-Jährige, der sich vor einem Jahr noch für die Hamburger FDP stark machte, um eine Regierungsbeteiligung der "stramm sozialistischen" Grünen zu verhindern, traut den Freien Wählern immerhin zu, „die Übermacht der Parteien zu knacken“. Zu diesem Zweck hat Henkel der Wählergruppe einen Programmentwurf vorgeschlagen, der eine Ausweitung plebiszitärer Elemente wie Volksbefragungen und Volksinitiativen oder die Direktwahl des Bundespräsidenten beinhaltet.

Er sähe die Freien Wähler am liebsten als potenziellen Koalitionspartner von CDU und FDP, um wirtschaftsliberale Positionen zu stärken und selbsternannte „Arbeiterführer“ wie den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) oder „Sozialpopulisten reinsten Wassers“ vom Format eines Horst Seehofer (CSU) in die Schranken zu weisen.

Um sein Bekenntnis zum Bürgertum zu verbreiten, nutzt Hans-Olaf Henkel nicht nur die Expansionsbestrebungen der Freien Wähler. Er plädiert als Vorstandsvorsitzender des Konvent für Deutschland für eine „Reform der Reformfähigkeit“, kämpft als Buchautor um die wahre Mitte und äußert sich in Zeitschriften, die ebenfalls mit dem Zeitgeist hadern, die vermeintliche Vormachtstellung einer „saturierten Linken“ bekämpfen und über neue konservative Ansätze nachdenken. Der Tenor bleibt dabei immer gleich: Schluss mit Parteien, die sich programmatisch nach „links“ verlagern, einen reinen Versorgungsstaat aufbauen und so die Selbstverantwortung jedes einzelnen Bürgers torpedieren.

Es geht darum, die gesellschaftliche, soziale und politische Lage des Bürgers systematisch zu schwächen, mit dem Ziel, ihn hilfsbedürftig zu machen. Dann kommt der Staat, der zuvor alles zur Unterminierung der bürgerlichen Autarkie getan hat, wie der gute Hirte, um zu „helfen“. Darüber hinaus redet man den Menschen so lange ihre Schwächen und ihre Hilfsbedürftigkeit ein, bis sie selbst daran glauben. Dann preist man ihnen die Vorzüge des starken – vorsorgenden – Staates. So macht man aus Bürgern wieder Untertanen. Freie Menschen dagegen brauchen keine staatlichen Wohltaten, es genügt ihnen, wenn sie vernünftig regiert werden.

Hans-Olaf Henkel

So heterogen die Freien Wähler auch (noch) sein mögen: In der politischen Grundausrichtung stimmen viele von ihnen mit Henkel überein. Kein Wunder also, dass nach dem Erfolg bei der bayerischen Landtagswahl ausschließlich über Koalitionsmöglichkeiten im „bürgerlichen“ Lager diskutiert wurde und Hubert Aiwanger der Idee, die sozialdemokratische Bewerberin um das Bundespräsidentenamt zu unterstützen, eine klare Absage erteilte: „Wir werden ganz deutlich Köhler wählen.“

Widerspruch aus Baden-Württemberg und Sachsen

14 von 16 Landesverbänden stimmten am Wochenende der Kandidatur der Freien Wähler für die Europawahl zu. Doch die wichtige Gruppe aus Baden-Württemberg verweigerte dem neuen Wahlverein die Gefolgschaft. Schlimmer noch: Das Präsidium des Landesverbandes beschloss einstimmig, weder an Europa- noch Bundestagswahlen teilzunehmen und überdies aus dem Bundesverband auszutreten.

Die Sorge um den Verlust von Individualität, Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit scheint bei diesem Entschluss eine zentrale Rolle gespielt zu haben. In Baden-Württemberg wollen die Freien Wähler explizit keine Partei werden und auch kein für die Mitglieder verbindliches Programm auflegen.

Wir treten auf kommunaler Ebene als freie und unabhängige und überparteiliche Gruppe an, die ohne Parteiprogramm und ohne Fraktionszwang arbeitet. Würden wir in Wahlen oberhalb der kommunalen Ebene antreten würden wir faktisch zur Partei werden. Im Falle von Bundestags- und Landtagwahlen müssten wir auch rechtlich eine Partei werden. Damit entstünde ein Widerspruch, den uns die Wähler auf Dauer nicht abnehmen. In den Kommunen parteilos und unabhängig und oberhalb der Kommunen Partei zu sein, geht nicht zusammen. Mit einem solchen Schritt würden wir unsere Glaubwürdigkeit und damit unsere Stärke verlieren.

Freie Wähler – Landesverband Baden-Württemberg

Auch die Freien Wähler aus Sachsen wollten die Entscheidung nicht mittragen. Für beide Landesverbände geht es allerdings neben grundsätzlichen Erwägungen auch um ein schwieriges Terminproblem. Am 7. Juni finden sowohl die Wahlen zum Europäischen Parlament als auch Kommunalwahlen in beiden Bundesländern statt. Offenbar ist derzeit nicht klar, wie man sich gleichzeitig als kompetenter Ansprechpartner vor Ort und Experte für europäische Themen präsentieren soll.

Kritik am „Anti-Parteien-Gehabe“

Die Wahlerfolge der Freien Wähler haben bei den etablierten Parteien gleichwohl ihre Spuren hinterlassen. Vor allem die angeschlagene CSU fürchtet die Konkurrenz aus dem eigenen politischen Lager. Der neue Generalsekretär Alexander Dobrindt will deshalb nicht nur die bedrohlich erstarkte FDP "entzaubern", sondern auch prominente Fürsprecher der Freien Wähler als „Geisterfahrer zwischen den politischen Welten“ enttarnen. Dobrindt bemüht sich deshalb um den Nachweis, dass die Wählergruppe ihr ursprüngliches Selbstverständnis längst aufgegeben hat.

Die Partei der Freien Wähler ist mittlerweile eine ganz normale Partei, da wirkt dieses Anti-Parteien-Gehabe aufgesetzt und lächerlich. Wer staatliche Wahlkampfkostenerstattung bezieht, wer zu Landtags- und Europawahlen antritt und den Bundespräsidenten mitwählt, der ist eine etablierte Partei.

Alexander Dobrindt

Tatsächlich haben mehrere Landesverbände bereits Parteistatus erreicht, und das gemeinsame Logo kursiert schon seit vielen Jahren in den Gruppierungen der Freien Wähler. Von dem Umstand, dass auf der Homepage des Bundesverbandes aktuelle Entwicklungen offenbar keine entscheidende Rolle spielen, wollen sich die Arrivierten nun nicht länger irritieren lassen. Dobrindt fordert lückenlose Aufklärung – insbesondere auch in wirtschaftlichen Fragen. Der Generalsekretär will die Freien Wähler bewegen, den Forderungen des Parteiengesetzes zu entsprechen und ihre Finanzierung offen zu legen.

Im „Superwahljahr“ 2009 werden die Freien Wähler Grundsatzentscheidungen treffen und den Ankündigungen schnell Taten folgen lassen müssen, um weiter den unverfilzten Hoffnungsträger des bürgerlichen Lagers spielen zu können. Am 28. Februar stehen sie bereits wieder im Blickpunkt der Öffentlichkeit. In Gießen sollen dann die Kandidaten für die Europawahl gekürt werden.