Frieden war gestern. Heute ist Krieg!

Bundeskanzler Schiolz bei der Teufelsaustreibung. Bild: Youtube/Screenshot

Bundeskanzler Scholz verbannt die Friedensbewegung zurück in die Achtzigerjahre. Warum das symptomatisch für seine "Zeitenwende" ist. Und was dahintersteckt.

Olaf Scholz denkwürdiger Auftritt auf dem Münchner Marienplatz steht, im Nachgang betrachtet, für zwei wesentliche Entwicklungen, die sich seit der russischen Invasion in der Ukraine vollziehen.

Erstens für eine Verrohung des öffentlichen Diskurses, die in der Scholz’schen Beschreibung von Gegendemonstranten mit Friedenstauben als "gefallene Engel, die aus der Hölle kommen" gipfelte. Zweitens für eine sonderbare, aber charakteristische Rhetorik, welche sich in der Verbannung der Friedensbewegung in die 80er-Jahre zeigte.

Der Bundeskanzler äußerte wörtlich:

"Ja, und da sieht man immer wieder, manchmal auch hier – Einige, die kommen zusammen, und halten die Slogans der Friedensbewegung der 80er-Jahre hoch, mit Friedenstauben, und rufen "Frieden schaffen ohne Waffen! Da ich einige dieser Kundgebungen organisiert habe in den 80ern will ich hier klar sagen: Es ist nicht richtig, den armen Ukrainern zu sagen, sie sollen einfach ihr Land erobern lassen, das hat mit Freiheit, Demokratie und Friedensliebe gar nichts zu tun.:Olaf Scholz, Kundgebung am 18.8.2023 in München

Im Handstreich werden die äußerst positiv besetzten Symbole und Slogans der Friedensbewegung veraltet und ungültig gezeichnet, indem sie einfach zeitlich verortet werden. Es gibt kein inhaltliches Argument für deren Inaktualität, sie scheinen einfach nicht in unsere Zeit zu passen.

Was zunächst als unsaubere Argumentation erscheint, kann tatsächlich als konsequentes Beispiel für eine Sichtweise verstanden werden, welche die Gegenwart des Krieges von kontinuierlichen Konsensen und Idealen abschneidet. Man könnte diese Rhetorik als "Enthistorisierung der Gegenwart" bezeichnen.

Das Bild wird beschworen, wir befänden uns plötzlich in einer neuen Zeit, in der das Alte schon allein deswegen (und nicht aus inhaltlichen Gründen!) keine Gültigkeit mehr habe. Um die Gegenwart wird eine diskursive Brandmauer gezogen, an der längerfristige Analysen, Ideale oder Konsense abprallen.

Der erzielte Effekt besteht darin, die Handlungsoptionen der Politik um vorher Unpopuläres zu erweitern; früher Undenkbares denk- und machbar zu machen. Wenn wir uns plötzlich in einer neuen Zeit befinden, die von der Vergangenheit durch einen harten Bruch getrennt ist, scheint es offensichtlich, dass bisherige Überzeugungen und Erfahrungen schon allein deswegen keine Rolle mehr spielen können.

Der größere kommunikative Kontext, in welchem die Verbannung der Friedensbewegung in die 80er verständlicher wird, ist die nach wie vor beschworene "Zeitenwende". Es lohnt, sich von den merkwürdigen Äußerungen von Olaf Scholz irritieren zu lassen, und kurz zu dieser zurückzukehren.

Die "Zeitenwende" als Brandmauer um die Gegenwart

Olaf Scholz prägte den Begriff der "Zeitenwende" wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. In seiner Regierungserklärung wiederholte er den Begriff mehrmals, ohne aber inhaltlich zu erklären, weshalb das (zweifellos einschneidende) Ereignis der russischen Invasion epochemachend sei. Fest stand für ihn nur: "Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor".

Was das genau bedeutet, bleibt bis heute offen. Selbstverständlich kann man dafür argumentieren, dass sich momentan ein Epochenwandel vollzieht. Ebenso könnte man aber eine traurige Kontinuität, eine Steigerungsbeziehung behaupten.

Einen Krieg im Herzen Europas gab es bereits in den 90ern, und als sich Russland 2014 völkerrechtswidrig die Krim einverleibte, sprach man zwar von einer Krise, rief jedoch zu Mäßigung und Deeskalation auf. Die Rückeroberung mit Waffengewalt war damals jedenfalls undenkbar.

Die "Zeitenwende"-Chiffre ist vielmehr vorgreifende Behauptung als ernsthafte Zeitanalyse. Ihre eigentliche Wirkung liegt darin, sowohl historische Kontexte als auch bestehende Konsense, Prinzipien und Überzeugungen elegant zu unterlaufen, welche den behaupteten "Erfordernissen" der Zeit lästig geworden sind.

Sie ist ein rhetorisch-diskursives "Schmiermittel", um nun ruckartig entgegen verbreiteten Idealen handeln, und die Gegenwart möglichst naiv und ahistorisch aufzufassen zu können. Die vorgreifende Behauptung einer "Zeitenwende" konstruiert eine kontrafaktische, weil enthistorisierte Scheinrealität. Um die Gegenwart wird eine diskursive Brandmauer gezogen, welche mittel- bis langfristige Räson und Erfahrung von lästigen Zwischenrufen abhält.

Die Behauptung einer neuen Zeit, in der das Alte allein schon deswegen seine Gültigkeit verliere, kappt kontinuierliche Gedankengänge, die sich in die längere Vergangenheit (und Zukunft) erstreckten. Vorige Gemeinplätze wie ein tendenzieller Pazifismus oder der Ruf nach Diplomatie können zugunsten des "Ernstfalls" ausgeschaltet werden.

Die komplizierte Vorgeschichte des Krieges kollabiert in hypnotischen Formeln wie "Der von niemandem provozierte verbrecherische Angriffskrieg Russlands"; er wirkt nun wie eine geschichts- und interessenlose Überraschung von biblischer Eindeutigkeit.

Der Handlungsspielraum der Politik wird durch die Ausrufung der Zeitenwende quer zu unbequemen Konsensen geöffnet. Jetzt ist eben alles anders. Eine gigantische Aufrüstung, die Rehabilitation der militärischen Sieglogik, die Aufhebung des Tabus, Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, die Schmähung von Diplomatie sowie ein positiver Imagewandel der Rüstungsindustrie und der Bundeswehr, um nur die drastischsten zu nennen – all das vollzieht sich diesseits der um die Gegenwart gezogenen, rhetorischen Brandmauer.

Verweise in die Vergangenheit gibt es nur dann, wenn sie die Zuspitzung vorantreiben oder die Kursänderungen unterstützen. Nicht aber dann, wenn sie etwa mit der Erfahrung von Stellungskriegen oder der Einsicht, "dass ein Krieg gegen eine Atommacht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne gewonnen werden kann" (Habermas), die ausgerufenen Maximalziele verkomplizieren.

In der Zeitenwende muss sich scheinbar derjenige rechtfertigen, der an Altem festhält, nicht der, der den Kurs ändert. Unangenehmen, inhaltlichen Grundsatzdebatten über Krieg, Frieden und Waffen kommt man so aus dem Weg. Bestand vorher ein breiter Konsens, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, muss man sich nun explizit rechtfertigen, gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete zu sein.

Dabei wurde das Ideal selbst gar nicht revidiert, dieser Krieg scheint mit dem sonstigen Geschehen einfach wenig zu tun zu haben. Er ist eine Ausnahme, die von längerfristiger Logik nicht erreicht werden kann.

Ein schöner Nebeneffekt: Wer jetzt militärisch denkt, kann seine eigene Friedfertigkeit weiter vor sich hertragen. In der "Zeitenwende" gelten eben andere Regeln als "normalerweise", wo man sich vielleicht sogar selbst als Pazifist bezeichnet(e). Die Chiffre der Zeitenwende erlaubt es also einem tendenziell gegen den Krieg eingestellten Milieu, auch angesichts ungeheurer Kehrtwenden das Gesicht zu wahren.

Friedenstauben als 80er-Folklore

Zurück also zu den Äußerungen des Bundeskanzlers zur Friedensbewegung. Sie zielen auf denselben Gedanken, sind schlüssig aus der Perspektive einer "Zeitenwende". Friedenstauben und "Frieden schaffen ohne Waffen" sind weithin positiv besetzt und verarbeiten geschichtliche Erfahrungen. Ihr Auftauchen auf Gegendemonstrationen ist für den Scholz'schen Standpunkt damit gefährlich. Sie erinnern an frühere Wertsetzungen und Erfahrungen. Sie schließen Handlungsspielräume.

Also müssen sie entkräftet werden, allerdings ohne die dahinterstehenden Ideale inhaltlich anzugreifen. Dies gelingt, indem die Symbole und Slogans plump und suggestiv als Kind einer anderen Zeit bezeichnet werden.

Durch zeitliche Verortung wird Verstaubtheit, Inaktualität suggeriert. Die inhaltlichen Prinzipien bleiben unangetastet, Olaf Scholz inszeniert sich mit seinem Verweis, früher selbst Friedensdemos organisiert zu haben, sogar als eine Autorität in Friedenssachen.

Es wäre auch unklug, würde er sagen: "Wir haben uns damals geirrt, tatsächlich beendet man Kriege durch Waffengewalt und Aufrüstung". Das könnte selbst bei willensschwachen Unterstützern Zweifel wecken. Und außerdem ist es umso einfacher, die Friedenslogik plötzlich zu rehabilitieren, wenn man sie vorher lediglich temporär außer Kraft gesetzt hat - sollten sich die Interessenlagen ändern.

Raus aus der Zeitblase!

Nicht zwingend steckt hinter der Enthistorisierungs-Rhetorik geschickte Täuschung oder Strategie. Es soll dem Bundeskanzler nicht abgesprochen werden, von einem analytisch armen Standpunkt aufrichtig diesen Blick zu vertreten. Dies ändert aber nichts an den beschriebenen, für die Politik vorteilhaften Effekten.

Die Ausrufung der "Zeitenwende" enthistorisiert die Gegenwart. Mit den Äußerungen über die aus der Zeit gefallene Friedensbewegung wiederholt sich die Geste. Die Folge ist eine Neutralisierung und Verschiebung entscheidender Fragestellungen. Dabei müssen längerfristige Gedanken unbedingt einbezogen werden, um gute Entscheidungen zu treffen.

Dieser Krieg ist nicht der Erste und wird auch nicht der letzte bleiben. Die Irritation über die Kehrtwenden in der deutschen Politik muss wieder sichtbar gemacht werden. Warum haben wir früher meist nach Mäßigung, Verhandlungen und Waffenstillständen gerufen, aber jetzt soll alles anders sein?

Für manche Entscheidungen mag es tatsächlich gute Gründe geben. Einer Politik der radikalen Kurzsichtigkeit muss aber deutlich widersprochen werden. Vor allem müssen endlich realistische Zielsetzungen für ein Kriegsende offenbart werden, anstatt diese hinter einem undefinierten "Sieg" der Ukraine offenzuhalten.

Natürlich ist Friedensdenken kein Selbstläufer. Es gibt die Gefahr der Beeinflussung durch den Aggressor, Russland, für den mögliche Kompromisslösungen einem Teilsieg gleichkämen. Ebenso ist das Problem real, dass die Rechten das Thema Frieden gerade für sich ausschlachten und, wie auf dem Marienplatz, tatsächlich an den Gegendemonstrationen beteiligt sind. Das heißt aber nicht, dass man den progressiven Wunsch nach Frieden und die Friedenstaube zugunsten eines konvertitenhaft überspitzten Neo-Militarismus aufgeben kann.

Es führt kein Weg daran vorbei, die Katastrophe des Krieges in der Ukraine, die im letzten Schritt Russland zu verantworten hat, dennoch historisch und kontinuierlich aufzufassen, wenn man an einer Lösung interessiert ist. Der Rückzug in eine ahistorisch-naive Blase der Eindeutigkeiten ist für progressive Kräfte keine gültige Option.