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Friedlicher als der Bundestag

Organisatoren des Bürgerrates diskutieren mit zugeschalteten Teilnehmern über "Deutschlands Rolle in der Welt". Bild: Mehr Demokratie, CC BY-SA 2.0

160 Mitglieder eines Bürgerrats zu "Deutschlands Rolle in der Welt" haben progressivere Konzepte als Berufspolitiker entwickelt. Doch was macht das Parlament aus den Empfehlungen?

Auf Vorschlag des Ältestenrates des Deutschen Bundestags haben rund 160 per Losverfahren [1] ausgewählte Mitglieder eines sogenannten Bürgerrats [2] über das recht allgemeine Thema "Deutschlands Rolle in der Welt" beraten. Organisiert vom Verein Mehr Demokratie [3] unter Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU) debattierten die Ratsmitglieder über Themen deutscher Außenpolitik. Also auch über die Probleme, die die Bevölkerung des Nordens den Menschen im Globalen Süden bereitet; über Krieg und Frieden und wie man mit China umgehen sollte.

Bei der Aussprache wurden den Bürgerratsmitgliedern Fachleute zur Seite gestellt, die von drei im Dunstkreis der Bundes- und Landespolitik tätigen Instituten zu Rate gezogen werden. Diese Rolle kam dem in Berlin ansässigen Nexus-Institut [4] für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung, dem Institut für Partizipatives Gestalten [5] (IPG), einer GmbH aus Oldenburg, und dem Bensheimer Ifok-Institut [6] zu. Diese drei Organisationen suchten die Experten aus [7].

Bürgerräte gegen Krieg

Die Ergebnisse sind dennoch erstaunlich. Zum Beispiel im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, in dem die Anzahl der Nato-Freunde unter den zu Rate gezogenen Wissenschaftlern und anderen Experten deutlich die Anzahl jener der Friedensbewegung zugeneigten überstieg.

Die Notwendigkeit einer Armee, also der Bundeswehr, wurde nicht in Zweifel gezogen. Auch das Zwei-Prozent-Ziel der Nato wurde akzeptiert. Doch sollen dabei feste Quoten für humanitäre Hilfsmaßnahmen (auch von zivilgesellschaftlichen Organisationen) "sowie akute zivile Maßnahmen im Rahmen von Nato-Einsätzen eingerechnet werden", heißt es in den Empfehlungen [8].

Als Voraussetzung für ein militärisches Engagement außerhalb Deutschlands solle ein gültiges Mandat eines internationalen Bündnisses, dem Deutschland angehört, notwendig sein, also etwa der UN, Nato oder EU.

Dabei müssen nach Ansicht der Bürgerräte "diplomatische Mittel vor einem militärischen Einsatz ausgeschöpft werden". Wirtschaftliches Eigeninteresse dürfe nicht der Grund für ein militärisches Engagement sein. Die Bundeswehr solle sich in Einsatzgebieten nach Möglichkeit in nicht-kämpfenden Bereichen wie Gesundheit, Schutz ziviler Einsatzkräfte, Technik, Versorgung, Cybersicherheit, der Vermittlung zwischen Konfliktparteien oder Diplomatie engagieren "und so die Erwartungen der Bündnispartner an Deutschland auf andere Weise erfüllen".

Ziel des Engagements soll nach Ansicht der Bürgerräte der Aufbau von Demokratie und notwendigen Infrastrukturen ebenso sein wie die Sicherung ziviler Dienste, die Verbesserung der humanitären Situation oder auch der Katastrophenschutz. "Präventive Maßnahmen sollten immer den Vorrang haben", so die Arbeitsgruppe "Frieden und Sicherheit".

Damit sind die 160 per Losverfahren ausgesuchten Bürger ungleich friedlicher als die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten.

Bürgerrat für ein strenges Lieferkettengesetz

Die Bürger des Alternativparlaments befürworten auch ein strenges Lieferkettengesetz [9], das möglichst viele Unternehmen einbeziehen soll. "Unternehmen, die gegen das Gesetz verstoßen, sollen sanktioniert und von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden, im Gegenzug sollen deutsche Unternehmen im In- und Ausland durch staatliche Förderungen bei der Einhaltung der Standards unterstützt werden. Die Herkunft der Produkte und Dienstleistungen soll für Verbraucher*innen transparent sein.

"Gefordert wird ferner eine abgestimmte Migrationspolitik innerhalb der Europäischen Union [10]. Deutschland solle sich dafür einsetzen, "dass die EU Anstrengungen unternimmt, die Zahl der Flüchtenden zu verringern, indem Fluchtursachen analysiert und bekämpft werden. Auch der Klimawandel kann Lebensgrundlagen bedrohen, daher muss die EU ihn ggf. als Fluchtursache anerkennen".

Ralf Becker, Sprecher der überwiegend von kirchlichen Organisationen getragenen Initiative "Sicherheit neu denken" [11], die für die Abschaffung der Bundeswehr eintritt, zeigte sich beeindruckt von der Diskussion im Bürgerrat – sowohl was die Diskussionskultur betrifft, als auch die Inhalte.

In seiner Bewertung der Initiative heißt es: "Der Bürgerrat hat dem seit langem aufgebauten und seit Wochen und Monaten sehr starken politischen und medialen Druck Richtung Kampfeinsatz-Beteiligung der Bundeswehr widerstanden. Er plädiert quasi für zivile Auslandseinsätze der Bundeswehr. Dass diese effektiver mit zivilen Instrumenten geleistet werden könnten, wird – unserer Einschätzung nach mangels Bekanntheit der zivilen Alternativen – nicht empfohlen."

Das sehr allgemeine Thema "Deutschlands Rolle in der Welt" war eine Empfehlung des Ältestenrats des Bundestages. Vertreter aller Bundestagsfraktionen haben versprochen, die Ergebnisse des Bürgerrats in ihre Beratungen einzubeziehen.

Man darf gespannt sein, ob und wie diese Zusage eingehalten wird. Weitere Bürgerräte sind geplant und sollen sich mit der notwendigen Reform des Bundestagswahlrecht sowie mit Energiefragen befassen.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://deutschlands-rolle.buergerrat.de/losverfahren/so-funktionierte-das-losverfahren/
[2] https://www.heise.de/tp/features/Sind-Buergerraete-mehr-als-ein-demokratischer-Sandkasten-5042721.html?seite=all
[3] https://www.mehr-demokratie.de/themen/buergerraete/
[4] https://www.nexusinstitut.de/ueber-uns/
[5] https://www.partizipativ-gestalten.de/referenzen-2
[6] https://www.ifok.de/
[7] https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/expert_innen.pdf
[8] https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/empfehlungen-deutschlands-rolle.pdf
[9] https://www.heise.de/tp/features/Lieferkettengesetz-soll-ab-2023-gelten-aber-nur-fuer-wenige-Firmen-5053830.html
[10] https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/praesentation-deutschlands-rolle.pdf
[11] https://www.youtube.com/watch?v=vHDAbXsgKFI&t=215s