Frischer Wind bei den Netzarchitekten

Interview mit dem neuen Icann-Direktor Andy Müller-Maguhn

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Nach zwei Monaten Wahlkampf endete vergangene Woche das von zahlreichen Pannen überschattete Experiment der ersten globalen Internet-Wahlen für den Aufsichtsrat der bisher nicht gerade für ihre Transparenz bekannt gewordenen Netzverwaltung Icann.

Wie erwartet, machte der durch seine Pressearbeit für den Chaos Computer Club zum Netzpromi aufgestiegene Hacker Andy Müller-Maguhn das Rennen. Nun heißt es für den Datenreisenden, sich an die Umsetzung seiner "Wahlversprechen" zu machen und für ein Internet zu kämpfen, dass allen Nutzern offensteht.

Es war eine lange Nacht, die sich Andy Müller-Maguhn Mitte vergangener Woche um die Ohren schlug: Am Mittwoch früh um 2 Uhr sollte die Wahl von fünf Direktoren aus aller Welt zur obersten Netzbehörde, der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (Icann), beendet sein. Doch kurz vor 1 Uhr morgens stiegen in dem Hacker mal wieder Zweifel auf, ob bei der ersten globalen Internetwahl alles mit rechten Dingen zuging. "Server nicht erreichbar", hieß es zu diesem Zeitpunkt wie schon am Beginn der zehntägigen Abstimmungsperiode auf der Site, wo die europäischen Icann-Mitglieder eigentlich ihre Favoriten unter den sieben Kandidaten bestimmen können sollten. Ein kleiner Schock für den 29-jährigen Hacker aus Berlin, da er selbst sein Votum noch nicht abgegeben hatte.

"Das ist, als ob sich 80 Millionen Wähler um zwei Urnen drängeln", ärgerte sich Müller-Maguhn über den Server von Election.com, einer New Yorker Firma, die Icann mit der technischen Durchführung der Online-Abstimmung beauftragt hatte. Doch in Zukunft wird der Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC), der nach einer Verlängerung der offiziellen Wahlperiode um eine halbe Stunde dann doch noch zum Zuge kam, bei der Planung und Durchführung weiterer Icann-Wahlen selbst ein Wörtchen mitreden dürfen. Denn als wenige Stunden später die Ergebnisse vorlagen, führte der Hacker mit 5948 von insgesamt 11309 abgegebenen Stimmen (Link auf Artikel dazu). Den zweiten Platz belegte Jeanette Hofmann vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin, die 2295 Surfer gerne als ihre Vertreterin bei der in Kalifornien angesiedelten Wächterin über die Netzadressen und Domain-Namen gesehen hätten.

Stefan Krempl sprach mit dem frisch gekürten Icann-Vorstand über die Prioritäten seiner Arbeit im Rahmen des obersten Netzgremiums, über die nötigen Schritte zum Aufbau einer festen Nutzerbasis und Mitgliederorganisation sowie über seine Chancen, bei Icann mehr als nur eine Feigenblattfunktion zu erfüllen.

Die Flut der Glückwunsch-Emails flaut langsam ab. Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, was als Icann-Direktor alles auf Sie zukommt außer langen Flugreisen rund um die Welt?

Andy Müller-Maguhn: Die anstehende Arbeit war auch ohne Direktoriumsposten bereits absehbar. Es muss in einer ersten Stufe jetzt darum gehen, die regionalen wie auch globalen Probleme und Anliegen der europäischen Nutzer im Bezug auf die Icann-Themen zu sammeln und dabei zumindest eine informelle Vernetzung der europäischen Nutzerorganisationen zu schaffen. Diese Arbeit beginnt sozusagen jetzt im Hinblick auf die relativ kurze Zeit, die zur Verfügung steht, um die Punkte dann auf dem anstehenden Treff in Kalifornien auch zu adressieren.

Wann beginnt Ihr offizieller Einstieg in das "Icann-Jet-Set"? Haben Sie schon eine Einladung zum nächsten Meeting in Kalifornien im November erhalten?

Andy Müller-Maguhn: Offiziell habe ich bisher nur eine Glückwunsch-Mail mit der Benennung von Ansprechpartnern und der Mitteilung bekommen, dass man sich freuen würde, mich im November in Kalifornien zu sehen. Offizieller Einstieg ist dann wohl im Laufe des Meetings in Los Angeles.

"Es wird Krach geben" bei Icann, zitiert Sie der "Spiegel". Haben Sie konkrete Aktionen geplant?

Andy Müller-Maguhn: Dass es Krach geben wird, ergibt sich schlicht aus der Situation, dass die bisherigen Entscheidungen von Icann auf eine Menge Kritik stoßen, nicht nur bei mir. Allerdings war es bisher so, dass der Icann-Vorstand öffentlich die Beschlüsse verkündet hat, ohne dabei etwaige Hintergrund- bzw. Vorabdiskussionen öffentlich zu führen. Die Kritiker hatten sozusagen eine Außenposition. Da mir nicht daran gelegen ist, diese Kultur weiterhin zu tragen, und mit Karl Auerbach ebenfalls ein prominenter Kritiker in den Vorstand gerutscht ist, wird es sicherlich zu dem einen oder anderen Disput im Aufsichtsrat - auch in den öffentlichen Sitzungen - kommen.

Haben Sie bereits direkte Kontakte zu Auerbach, dem US-amerikanischen At-large-Direktor, aufgenommen? Wie weit stimmen Ihre Zielen mit seinen Positionen tatsächlich überein?

Andy Müller-Maguhn: Erste Kontakte entstehen derzeit per Email, und viele der von ihm vertretenen Kritikpunkte werden ja nicht nur von mir, sondern von einer ganzen Reihe von Experten vertreten. Vor allem die von ihm skizzierte Dezentralisierung des Namenssystems entspricht vollständig meinem Konzept, auch weil sie Ausflüchte von Icann, eine Dezentralisierung sei technisch nicht machbar, entkräftet.

Ich habe den Eindruck, dass unsere Stoßrichtung sehr ähnlich ist, auch wenn ich noch eine ganze Reihe spezifisch europäischer Nutzerinteressen in Form einer Anerkennung des öffentlichen Raumes in den Icann-Policies zu vertreten habe. So ist es offenbar in mehreren europäischen Ländern wie zum Beispiel Frankreich den Bürgern derzeit nicht einmal möglich, eine Domain in ihrem eigenen Land bzw. in ihrer eigenen ccTLD zu bekommen.

Sie hatten selbst die gesamte Wahl immer wieder als "Legitimations-Simulationsversuch" kritisiert - bleibt da ein fahler Nachgeschmack als europäischer Sieger?

Andy Müller-Maguhn: Sicherlich, die teils völlig absurde Prozedur wird ja im Nachhinein nicht besser, bloß weil ich es geschafft habe. Einer der nächsten Schritte ist sicherlich, die (Nach)Wahl der noch ausstehenden vier Direktoriumsposten bei ICANN nach einem klaren Wahlverfahren zu erwirken. An und für sich sollen ja neun der 18 + 1 Direktoren - also die Hälfte - dort Nutzerinteressen vertreten.

Was ist die Top-Priorität Ihrer inhaltlichen Arbeit bei Icann?

Andy Müller-Maguhn: Die Stärkung des Internets als öffentlicher und globaler Kulturraum, die Dezentralisierung der Administration, die Förderung der Transparenz der Prozeduren und die Erwirkung von Mitwirkungsmöglichkeiten für die Nutzer.

Welche realen Chancen rechnen Sie sich aus, bei Icann angesichts der Übermacht der Industrielobby im Aufsichtsrat Strukturen zu verändern?

Andy Müller-Maguhn: Da ich mir in der Tat als einer von 19 Direktoren jetzt nicht gleich einbilden kann, hier etwas an den Mehrheitsverhältnissen auf die Schnelle zu verändern, sind die eben geschilderten inhaltlichen Prioritäten natürlich auch solche, die ich außerhalb von ICANN vertreten werde. Sowohl eine stärkere Vernetzung europäischer Nutzerinteressen, als auch die Adressierung dieser Interessen an die Öffentlichkeit sowie lokale, regionale und globale Politik sind natürlich auch ohne eine Mehrheit bei ICANN zu realisieren.

Welche Lehren haben Sie aus der ersten Icann-Wahl gezogen? Was muss bei der geplanten zweiten Runde anders werden?

Andy Müller-Maguhn: Die erste Frage ist schwierig zu beantworten. Vielleicht lautet die Antwort: Bloß weil eine Wahl schlecht angekündigt wird, das Wahlverfahren teilweise nicht transparent ist und der Wahlserver zudem dauernd abstürzt, heißt das nicht, dass man die Wahl nicht gewinnen kann.

Die zweite Runde muss nun konkret in Angriff genommen werden. Das ist sicherlich ein wichtiger Punkt für die Sitzung im November. Es müssen ja noch vier Direktoren frei gewählt werden - nach derzeitiger Sicht wohl global. Die Wahl muss rechtzeitig und klar angekündigt werden und vor allem nach einem einfachen und verständlichen Wahlverfahren durchgeführt werden. Es kann nicht sein, dass Leute aufgrund technischer Probleme von der Wahl ausgeschlossen werden.

Sie waren auch als CCC-Sprecher schon ein viel beschäftigter Datenreisender. Können Sie die Clubarbeit noch nebenbei machen oder haben Sie schon einen Nachfolger bestellt?

Andy Müller-Maguhn: Die Icann-Arbeit betrifft ja größtenteils dasselbe Themengebiet und insofern verstehe ich mich auch weiterhin als CCC'ler und bin im Netzwerk des Clubs aktiv. Mit der Mehrbelastung durch die eher europäische bzw. globale Icann-Thematik muss ich natürlich auch erst mal umgehen. Im Bezug auf die Pressearbeit des CCC wird sicherlich bis Ende des Jahres das ein oder andere Gesicht neu hinzukommen.

Icann muss so bekannt werden wie der ADAC, meint Ihre ehemalige Mitbewerberin für den Icann-Posten, Jeanettte Hofmann. Den CCC haben Sie ja mit ins öffentliche Gespräch gebracht - wird Ihnen das bei Icann auch gelingen?

Andy Müller-Maguhn: Ich finde den Vergleich zwar bescheuert, aber sicherlich haben die teilweise völlig frei von Nutzerinteressen gefällten Icann-Entscheidungen der Vergangenheit auch damit zu tun, dass vielen Netznutzern die Bedeutung von Icann gar nicht bekannt war.

Ich habe schon den Eindruck, dass die Icann-Wahl eine gute Gelegenheit ist, auf der einen Seite die überfällige Diskussion über die Auswirkungen der Architektur des Netzes für die gesellschaftliche Entwicklung auch in die Medien zu bringen und auf der anderen Seite dabei die Bedeutung von Icann für diese Entwicklung aufzuzeigen.

Mittelfristig wird die europäische Icann-Mitgliederschaft auch über neue (Funding)Strukturen nachdenken müssen. Gibt es da schon Pläne?

Andy Müller-Maguhn: Hier gibt es unterschiedliche Ansätze und die Diskussion ist noch in einem relativ frühen Stadium. Auch wenn mir die informelle Vernetzung der europäischen Nutzergruppen erst einmal wichtiger ist als die Schaffung irgendwelcher juristischen Konstruktionen, so ist auf der anderen Seite auch die Schaffung einer Organisationsstruktur wichtig, um die Vernetzung der europäischen Nutzergruppen voranzutreiben. Es steht natürlich an, eine kleine Konferenz mit Vertretern von europäischen User-Gruppen zu organisieren. Dazu wird man ein Budget für Reisekosten, Hotels etc. auftreiben müssen. Da eine Anlehnung an Partei-, Wirtschafts- oder Regierungsinstitutionen kaum in Frage kommt, wird es wohl zunächst eine kurzfristige Lösung geben.

Es würde mir jedenfalls etwas absurd vorkommen, vor einer entsprechenden informellen Vernetzung von Nutzerorganisationen jetzt gleich eine zentralistische Institution zu gründen. Das wäre ja in etwa das, was wir Icann vorwerfen.