Für wen wird Bachmut das neue Stalingrad?

Deutsche Soldaten der 24. Panzerdivision im Einsatz während der Kämpfe um den Südbahnhof von Stalingrad. Bild: Cassowary Colorizations / CC BY 2.0
Der Kampf um Bachmut wird häufig mit dem Zermürbungskrieg um Stalingrad verglichen. Übersehen wird, was bei der Entscheidungsschlacht wirklich entscheidend war. Und dass die militärische Lage heute sehr anders ist.
Entwickelt sich die epische Schlacht um Bachmut zum Stalingrad des russisch-ukrainischen Krieges? Würde die Einnahme der Stadt durch die russischen Streitkräfte den Krieg entscheidend zu Putins Gunsten verändern?
Würde demgegenüber eine erfolgreiche ukrainische Verteidigung der Stadt das Sprungbrett für eine die Wende bringende Gegenoffensive sein, um Putins Invasion zurückzudrängen?
Wie Bachmut ist auch die Schlacht von Stalingrad 1942 bis 1943 ein langwieriger Zermürbungskrieg gewesen – 200 Tage Dauerbeschuss, wie die Sowjets zu sagen pflegten –, wenn auch in einem viel größeren Maßstab.
Die Zahl der Opfer ist schwer zu ermitteln, aber Wissenschaftler gehen im Allgemeinen von 850.000 toten oder verwundeten Soldaten der Achsenmächte (Deutsche und Alliierte) und über 1,1 Millionen Opfern, einschließlich Zivilisten, auf russischer Seite aus.
Keine der beiden Seiten beabsichtigte, eine so kostspielige Schlacht zu führen, aber beide waren bereit, genau das zu tun, um damit wichtige strategische Ziele zu verfolgen. Die Zermürbung war ein Mittel, um diese Ziele zu erreichen, nicht ein Selbstzweck.
Der deutsche Vorstoß nach Stalingrad war Teil von Hitlers Sommeroffensive 1942 in der Ukraine und Südrussland. Nachdem es Hitler 1941 nicht gelungen war, Stalins Russland mit einer einzigen Blitzkriegsinvasion zu besiegen, bestand sein neues Ziel darin, die sowjetische Kriegsmaschinerie durch die Übernahme der Kontrolle über den rohstoffreichen Donbass und die Ölfelder von Baku zu lähmen.
Nicht der Name der Stadt motivierte die Deutschen, Stalingrad zu erobern, sondern ihre strategische Lage an der südlichen Wolga. Wenn es den Deutschen gelänge, Stalingrad einzunehmen oder zumindest die Stadt unter Feuer zu nehmen, könnten sie die Ölzufuhr über den Fluss nach Nordrussland unterbrechen und gleichzeitig das vorgelagerte Verteidigungsgelände stärken, das ihren Vormarsch nach Baku schützt.
Die Schlacht von Stalingrad erwies sich als der große Wendepunkt des sowjetisch-deutschen Krieges. Für die Deutschen war die Niederlage in Stalingrad und das Scheitern ihres Südfeldzugs der Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gab. Nach Stalingrad hatten sie keine realistische Hoffnung mehr, den Krieg zu gewinnen, was sie jedoch nicht davon abhielt, bis zum bitteren Ende zu kämpfen.
Wie der Herzog von Wellington über Waterloo sagte, war die Schlacht von Stalingrad eine knappe Geschichte. Im Oktober 1942 hatten die Deutschen 90 Prozent der Stadt besetzt. Der vollständigen Kontrolle stand das kampfbereite 62. Heer im Wege, das sich an einem zwanzig Meilen langen Streifen entlang des Westufers der Wolga festsetzte.
Die Sowjets konnten diesen Brückenkopf halten, weil sie ständig Nachschub an Truppen und Munition von der Ostseite der Wolga erhielten. Entlang des Ostufers waren Artillerie- und Raketenbatterien aufgestellt, die die deutschen Stellungen in der Stadt unter Beschuss nahmen.
Im Luftraum über der Stadt waren die Sowjets der Luftwaffe mehr als gewachsen. Die Flanken der 62. Streitkräfte wurden von mehreren anderen sowjetischen Armeen geschützt, gegen die die Deutschen kaum oder gar nicht vorankamen.
Die Analogie zu Stalingrad favorisiert die ukrainischen Verteidiger von Bachmut im Moment nicht. Alle Nachschubwege der Ukraine in die Stadt werden belagert. Es wird ein harter und kostspieliger Kampf nötig sein, um sie wieder zu öffnen. Die russische Artilleriestärke ist der ukrainischen weit überlegen.
Nördlich von Bachmut ist die russische Luftwaffe zunehmend dominant, während die flankierenden ukrainischen Truppen von russischen Einheiten ebenso unter Druck gesetzt werden wie die ukrainischen Soldaten innerhalb der Stadt.
Weder Sieg noch Niederlage
Wie bei der Schlacht von Lyssytschansk-Sjewjerodonezk im letzten Sommer wird propagandistisch viel davon geredet, dass die Ukraine die Russen in Bachmut zermürben und dann mit einer Gegenoffensive von der Flanke her den Spieß umdrehen könnte, so wie es den Sowjets im November 1942 in Stalingrad gelang, als sie die Stadt erfolgreich einkesselten.
In Stalingrad war jedoch nicht die Zermürbung der entscheidende Faktor für den Erfolg der Sowjets, sondern die überwältigende Kraft, die sie aufbringen konnten, während sie gleichzeitig die Deutschen in der Stadt festhielten. Es wäre, gelinde gesagt, überraschend, wenn die Ukrainer die Kräfte und die Feuerkraft hätten, um beides in Bachmut zu erreichen.
Die Vorbereitungen für die sowjetische Gegenoffensive im November 1942 wurden unter strengster Geheimhaltung durchgeführt (was im Zeitalter der Satellitenüberwachung praktisch unmöglich ist). Man ließ die Deutschen in dem Glauben, dass die Aufrüstung der Roten Armee an ihren Flanken defensiven und nicht offensiven Zwecken diente.
Die Sowjets waren auch in der Lage, die Schwächen derjenigen Streitkräfte auszunutzen, die die Flanken der Deutschen verteidigen sollten, bei denen es sich hauptsächlich um Truppen der Achsen-Verbündeten Italien, Ungarn und Rumänien handelte.
Heute werden die Flanken der Wagner-Gruppe in Bachmut von regulären russischen Einheiten verteidigt, die Berichten zufolge aus einer Massenmobilisierung im letzten Herbst hervorgegangen sind.
Wichtig ist, dass es nicht das Hauptziel der Roten Armee war, die Deutschen in Stalingrad einzuschließen. Nachdem sie die Stadt umzingelt hatten, begnügten sich die Sowjets damit, die Deutschen wochenlang dort festzusetzen, während sie eine Operation vorbereiteten, um die Einkesselung zu reduzieren.
Das wichtigere Ziel der Roten Armee war die Rückeroberung von Rostow am Don und die Einschließung der im Süden kämpfenden deutschen Armeen auf dem Weg nach Baku.
Gleichzeitig bereiteten die Sowjets, denen es nicht an Ehrgeiz mangelte, ein weiteres großes Manöver vor, um die deutsche Heeresgruppe Mitte an der Front Richtung Moskau zu vernichten. Diese sowjetische Winteroffensive (Operation Mars) wurde etwa zur gleichen Zeit gestartet wie die Gegenoffensive von Stalingrad (Operation Uranus).
Die Operation Mars war genauso groß, aber weit weniger erfolgreich als die von Uranus. Erst mit der Operation Bagration im Sommer 1944 gelang es der Roten Armee, die Heeresgruppe Mitte aus Russland zu verdrängen.
Der überwältigende Erfolg der Sowjets bei der Einkreisung von Stalingrad und das anschließende Drama der deutschen Kapitulation verdeckten nicht nur das Scheitern der Roten Armee vor Moskau, sondern auch die Tatsache, dass sie nicht in der Lage war, Rostow einzunehmen, bevor die Wehrmacht ihre Truppen aus dem Süden abzog, die dann noch einen weiteren Tag kämpften, nicht zuletzt während des langen Kampfes um die Ukraine in den Jahren 1943 bis 1944.
Millionen von Ukrainern dienten während des Krieges in der Roten Armee, darunter Hunderttausende, die am Stalingrad-Feldzug teilnahmen. Das ukrainische Oberkommando, das in der sowjetischen Militärtradition verwurzelt ist, wird sich der Lehren von Stalingrad ebenso bewusst sein wie seine russischen Kollegen.
Sie wissen, dass selbst ein überwältigender Erfolg bei Bachmut – für beide Seiten – wahrscheinlich nicht zu einem schnellen Ende des Krieges führen wird. Die Rote Armee brauchte damals zwei weitere Jahre – und viele weitere Stadtschlachten –, um Berlin zu erreichen.
Im Vergleich zu Stalingrad ist die Schlacht um Bachmut unbedeutend. Die Einnahme von Bachmut oder seine erfolgreiche Verteidigung wäre ein wichtiger taktischer und psychologischer Erfolg, aber nicht von strategischer Bedeutung.
In beiden Fällen würde es weder zu einem Sieg einer Seite führen, noch eine Garantie bieten gegen eine künftige Niederlage, es sei denn, es käme zu einem unerwarteten militärischen Zusammenbruch der russischen oder ukrainischen Streitkräfte.
Ein russischer Zusammenbruch scheint angesichts der Hunderttausenden zusätzlicher Soldaten, die Moskau in den letzten Monaten mobilisiert hat, äußerst unwahrscheinlich, während andererseits Berichte über den Tod der ukrainischen Streitkräfte häufig übertrieben werden.
Bachmut ist nicht das erste Mal, dass Militärexperten während des russisch-ukrainischen Krieges zur Stalingrad-Analogie greifen. Es wird wohl auch nicht das letzte Mal sein.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft. Übersetzung: David Goeßmann.
Geoffrey Roberts ist emeritierter Professor für Geschichte am University College Cork, National University of Ireland und Mitglied der Royal Irish Academy. Derzeit ist er Senior Fellow am Polish Institute of Advanced Studies in Warschau. Er ist ein weltweit anerkannter Experte für Stalin, den Zweiten Weltkrieg und die Geschichte der sowjetischen und russischen Militär- und Außenpolitik. Roberts hat rund 30 Bücher veröffentlicht. Die Biographie von ihm, "Stalins General: The Life of Georgy Zhukov" (2012), wurde von der Society for Military History mit dem Distinguished Book Award ausgezeichnet. Sein neuestes Buch (mit Martin Folly und Oleg Rzheshevsky) ist "Churchill and Stalin: Comrades-in-Arms during the Second World War" (2019). Er ist Kolumnist beim The Irish Examiner und The Irish Times und trägt regelmäßig zu irischen, britischen und russischen Radio- und Fernsehsendungen bei. Roberts hat zahlreiche internationale Preise und Auszeichnungen erhalten.