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Gabriel für Kehrtwende beim Fetisch Sparpolitik gegenüber Griechenland

Bild: Wassilis Aswestopoulos

Einsicht in die Notwendigkeit? Der Außenminister will einen Schuldenschnitt - damit beweist er einen in Berlin kaum noch zu vermutenden Realitätssinn

Vor wenigen Tagen ereignete sich anscheinend eine politische Anomalie allererster Güte. Ein Spitzenpolitiker der SPD scheint Rückgrat bewiesen zu haben - indem er sich in einer zentralen Frage gegen das schäublerische Finanzministerium (samt dem deutschen Stammtisch) stellte [1].

Außenminister Sigmar Gabriel forderte tatsächlich einen Schuldenschnitt für Griechenland, das nach rund acht Jahren voller drakonischer Kürzungs- und Sparprogramme noch immer einem sozioökonomischen Katastrophengebiet gleicht.

Hellas seien immer wieder "Schuldenerleichterungen versprochen worden, wenn die Reformen durchgeführt werden", erläuterte Gabriel, nun müsse man "zu diesem Versprechen stehen". Dies dürfe nicht "am deutschen Widerstand [2] scheitern". Die pauperisierten Hellenen hätten enorme soziale Kürzungen überstanden, gegen die seien "die Maßnahmen der Sozialreformen der Agenda 2010 in Deutschland ein laues Sommerlüftchen", erklärte Gabriel.

Europäische Krisenpolitik: deutschem Wahlkampf untergeordnet

Der Außenminister spielte mit dieser Bemerkung auf das letzte, inzwischen wohl 14. große Kürzungsprogramm [3] in Hellas an, das die ehemals linke Syriza-Regierung gegen den erbitterten Protest der Bevölkerung durchsetzte [4]. Die abermaligen Austeritätsmaßnahmen - darunter auch drakonische Rentenkürzungen - bildeten die Vorbedingung für die Auszahlung neuer Krisenkredite an Hellas.

Doch daraus wird erstmal nichts. Am Montag konnten sich die Finanzminister der Eurozone und der IWF erneut nicht auf eine gemeinsame Linie gegenüber dem geschundenen Mittelmeerland einigen [5](siehe Schäubles Farce [6]).

Obwohl die Rentenkürzungen, Steuererhöhungen und abermaligen Sparmaßnahmen in Athen zum x-ten Mal beschlossen wurden, auf die insbesondere Finanzminister Schäuble bestand, konnte die machtpolitische Blockade zwischen Berlin und IWF nicht überwunden werden. Gabriels mahnende Worte verhallten somit im deutschen Finanzministerium ungehört.

Dabei agiert in diesem Streit inzwischen Schäuble als der Hardliner, während der Währungsfonds die "gemäßigtere" Linie verfolgt. Der zentrale Streitpunkt: IWF pocht auf einen baldigen Schuldenschnitt, während Schäuble diesen bis zur Bundestagswahl verweigern will. Die europäische Krisenpolitik muss sich somit der deutschen Innenpolitik unterordnen - sie ist zu einem Faktor des Bundestagswahlkampfes verkommen.

Sozioökonomische Tragödie Griechenlands

Insofern richtet sich die Krisenpolitik gegenüber Hellas nicht nach den sozioökonomischen Notwendigkeiten aus, sondern nach dem wahltaktischen Kalkül in Berlin. Bis zu den Wahlen soll es keinen Schuldenschnitt für Athen geben, um die Siegeschancen der CDU nicht zu gefährden - auch wenn alle empirische Evidenz das katastrophale Scheitern der schäublerischen Sparmaßnahmen in Hellas eindeutig belegt.

Zuletzt hat beispielsweise die Financial Times die sozioökonomische Tragödie Griechenlands in dürren Zahlen zusammengefasst [7]. Zum einen kommt in Griechenland auch nach acht Austeritätsjahren keine nennenswerte Wachstumsdynamik auf. Die optimistischen Wachstumsprognosen von 2,5 Prozent für 2017 mussten demnach auf 1,5 Prozent revidiert werden, wobei es zu bedenken gilt, dass Griechenlands BIP im Krisenverlauf bereits um mehr als 27 Prozent schrumpfte [8].

Die Arbeitslosigkeit ist in den vergangenen Monaten sogar abermals gestiegen: von 23,2 auf 23,5 Prozent. Nur 52 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung geht einer offiziell erfassten Lohnarbeit nach, was auf einen hohen Anteil an informeller Arbeitslosigkeit und Elends- sowie Subsistenzwirtschaft hinweist. Derweil haben bereits rund 300.000 junge Griechen das Land auf Arbeitssuche verlassen. Überdies hat der starke Anstieg der Steuerbelastung zu einer abermaligen Zunahme von Kapitalabflüssen aus Hellas geführt.

Dabei ist das Elend in Hellas gerade der Umsetzung der Sparprogramme Schäubles zu verdanken: Noch Ende April hatte der deutsche Finanzminister die Reformbereitschaft der griechischen Regierung gelobt, die jeden ernsthaften Widerstand gegen die extremen Austeritätsmaßnahmen aus dem Berliner Finanzministerium längst aufgegeben hat [9]. Nur zwei Wochen später musste Eurostat, das Europäische Statistische Amt, eine erneute Hiobsbotschaft aus Griechenland melden [10], das zu Beginn dieses Jahres erneut in einer Rezession versunken ist.

Zuflucht in Subsistenzwirtschaft

Inzwischen nötigt das blanke Elend in Hellas immer größere Teile der Bevölkerung dazu, in archaisch anmutenden Formen der Subsistenzwirtschaft Zuflucht zu suchen [11]. Nach acht Jahren "Sparpolitik" à la Schäuble versuchen gerade viele junge Griechen, kleinbäuerliche Betriebe zu gründen, um so über die Runden zu kommen.

Doch selbst diese verzweifelten Versuche, kleinbäuerliche Wirtschaftsbetriebe auf einem von mächtigen Agrarkonzernen geprägten EU-Markt aufzubauen, werden durch die Folgen der Austeritätspolitik konterkariert: Die Einkommenssteuer für Landwirtschaftsbetriebe in Hellas musste auf Weisung aus Berlin von 13 Prozent auf 22 Prozent und sogar bis 45 Prozent (ab einem Einkommen von 40.000 Euro) erhöht werden.

Es ist somit offensichtlich und eigentlich bar jeden Zweifels, dass Schäubles Sparpolitik grandios gescheitert ist. Hellas wird somit früher oder später einen Schuldenschnitt bekommen: Entweder im Rahmen einer europäischen Verhandlungslösung oder auf die harte Tour im Verlauf einer Staatspleite. Und dennoch soll bis zu der Bundestagswahl an der Fiktion festgehalten werden, wonach Griechenland seine Schulden auf Heller und Pfennig zurückzahlen werde.

Starkes Strafbedürfnis gegenüber den "faulen Griechen"

Doch selbst dieses anscheinend rationale Machtkalkül Berlins, bei dem die Krisenpolitik dem Wahlkampf untergeordnet wird, ruht eigentlich auf einem irrationalen Fundament. In der deutschen Öffentlichkeit herrscht immer noch ein starkes Strafbedürfnis gegenüber den "faulen Griechen".

Die Hellenen sollen jetzt für ihre "Sünden" büßen - für die Faulheit und Korruption, die dem Land im deutschen Krisendiskurs unterstellt werden. Mit dieser Propaganda, wonach die Griechen ihre Lage selber verschuldet hätten, wurden ja die drakonischen Austeritätsmaßnahmen legitimiert, die Berlin dem Land verordnete.

Das Strafbedürfnis gegenüber Hellas ist in der Bundesrepublik auch deswegen so groß, weil hierzulande die Entbehrungen der Agenda 2010 erduldet wurden. Durch die Hinnahme dieser neoliberalen "Reformen" in Deutschland glaubt man sich im Recht, auch anderen Ähnliches aufnötigen zu können. Fazit: Deutschlands Politkaste ist Opfer seiner eigenen Ideologie geworden.

Kurz vor den Wahlen ist es offensichtlich, dass die Politik der harten Hand in Hellas grandios gescheitert ist, doch zugleich ist eine Wende kaum möglich, da der entsprechende Diskurs von den "faulen Griechen" sich längst verselbstständigt hat. Die Mehrheit des Wahlvolks glaubt an den Unsinn von der "schwäbischen Hausfrau", mit dem sie jahrelang gefüttert wurde.

Sparauflagen als fetischistischer Selbstzweck

Berlins Spardiktat gegenüber Athen verfolgte anfänglich noch ein machtpolitisches Kalkül, solange die Syriza-Regierung zu Beginn ihrer Amtszeit die deutsche Krisenpolitik in der Eurozone offen herausforderte. Doch dies ist längst Geschichte, nachdem Schäuble Syriza im Sommer 2015 das Genick brach. Die knallharte Austeritätspolitik Berlins, mit der die deutsche Dominanz in der Eurozone gefestigt wurde, wird somit langsam dysfunktional.

Die immer neuen Sparauflagen wandeln sich zu einem fetischistischen Selbstzweck, der letztendlich irrational-sadistisch motiviert ist. Mehr noch: der wirtschaftliche Fallout des deutschen Sparregimes in der EU bedroht deren Zusammenhalt immer stärker.

Dass eine Kehrtwende in der Krisenpolitik gegenüber Griechenland längst überfällig ist, haben all jene Teile der deutschen Funktionseliten längst erkannt, die nicht um ihre Wiederwahl bangen müssen. Im Sommer 2015, als Syriza noch die neoliberale Politik Berlins herausforderte, plädierte [12] etwa der Arbeitgebervertreter und BDI-Präsident Ulrich Grillo dafür, Griechenland aus dem Euro zu werfen.

Damit befanden sich Deutschlands Arbeitgeberverbände voll auf der kompromisslosen Linie von Finanzminister Schäuble, der im Sommer 2015 zu einem der beliebtesten Politiker Deutschlands aufstieg [13]. Gerade wegen seines knallharten Umgangs mit Griechenland.

Der Wind dreht sich

Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Nun fordert BDI-Präsident Grillo, Hellas im Euro zu halten, indem man dem geschundenen Land im gewissen Rahmen entgegenkommt [14]. Angesichts des drohenden Brexit und der zunehmenden Zerfallstendenzen in der EU scheinen sich zumindest in den Reihen der Unternehmensverbände die ungeheuren Vorteile herumgesprochen zu haben, die Deutschland aus der Eurozone zieht.

Ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro könnte einen weiteren Zerfall des europäischen Währungsraums mit sich bringen, der die massiven Exportvorteile zunichtemachen würde, die derzeit Deutschlands Wirtschaft aufgrund der Unterbewertung des Euro besitzt. Gerade wenn schwache Länder wie Hellas im Euro gehalten werden, wird dessen Unterbewertung in Relation zu der deutschen Wirtschaftsstärke aufrecht gehalten.

Letztendlich scheint man beim BDI einfach die Kosten des Euro mit dessen Vorteilen verrechnet zu haben. Dazu ist der in Ressentiments und sadistischem Strafbedürfniss verfangene deutsche Stammtisch naturgemäß kaum in der Lage - der insbesondere in Wahlkampfzeiten zu einem wichtigen Faktor der Politik avanciert. Der machtpolitisch dysfunktionale deutsche Sparwahn bedroht inzwischen die Grundlage des exportfixierten deutschen Wirtschaftsmodells - den Euro.

Irgendwer müsste dies nur dem dumpfen deutschen Stammtisch verklickern, der sich immer noch in sadistischen Phantasien gegenüber den "faulen Griechen" suhlt. Und letztendlich wird es der Politik überlassen bleiben, diese Kehrtwende - spätestens nach der Bundestagswahl - einzuleiten, falls es bis dahin nicht zu spät sein wird.

Der "Mut" der SPD

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen erscheint der anfangs erwähnte "mutige" Vorstoß von Außenminister Gabriel in einem anderen Licht. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Kehrtwende gegenüber Hellas ist in den Reihen der deutschen Wirtschaft längst herangereift, wobei Schäuble und die reaktionärsten Teile der CDU aus ideologischen und/oder wahltaktischen Motiven heraus sich dem noch widersetzen.

Hier signalisiert Gabriel im Namen der SPD hingegen die Bereitschaft, sozioökonomische Notwendigkeiten dem bloßen wahltaktischen Kalkül voranzustellen. Dieses Signal richtet sich in erster Linie nicht an das gemeine Wahlvolk, sondern an die Chefetagen der Industrie. Mit einem Satz: Der SPD-Politiker ist nur deswegen so "mutig", Schäuble herauszufordern, weil dessen sadistisches Sparregime seinen machtpolitischen Zweck in der Eurozone längst erfüllt hat - und inzwischen dem langfristigen strategischen Interessen der deutschen Wirtschaft zuwiderläuft, die zuallererst den Euro halten will.

Schäuble scheint somit ein im Sparwahn verfangenes Auslaufmodell zu sein, das nach der Wahl - unabhängig von deren Ausgang - entsorgt werden dürfte. Gabriel demonstriert wiederum die Bereitschaft der SPD, auch eingefahrene ideologische Argumentationsmuster schnell aufzugeben, sobald diese ihren Machtpolitischen Zweck erfüllt haben. Ganz ohne Rücksichtnahme auf die üblichen Stammtischparolen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3722851

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-05/sigmar-gabriel-griechenland-schuldenerleichterung
[2] https://www.heise.de/tp/features/Griechenland-Das-erneute-Scheitern-der-Verhandlungen-droht-3704141.html
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Greek_government-debt_crisis_countermeasures
[4] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/griechenland-rentner-und-arbeitnehmer-verzweifeln-am-neuen-sparpaket-a-1148304.html
[5] http://www.irishtimes.com/business/economy/greek-debt-relief-talks-break-down-without-agreement-1.3092562
[6] https://www.heise.de/tp/features/Schaeubles-Farce-3721763.html
[7] https://www.ft.com/content/12cea50a-19db-11e7-bcac-6d03d067f81f
[8] https://www.querschuesse.de/griechenland-bip-q1-2017/
[9] https://www.theguardian.com/world/2017/apr/30/wolfgang-schauble-german-finance-minister-greek-economic-reforms-bailout-funds
[10] http://www.bbc.com/news/business-39933638
[11] http://www.aljazeera.com/indepth/features/2017/04/young-greeks-turning-farming-170417123546814.html
[12] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/gastbeitrag-griechenland-nicht-um-jeden-preis-halten-13644421.html
[13] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/deutschlandtrend-wolfgang-schaeuble-beliebt-wie-nie-a-1041853.html
[14] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/bdi-praesident-grillo-fordert-unterstuetzung-fuer-griechenland-a-1126148.html