Game Over
Die USA sind nicht mehr die Weltmacht. Das hat viel mit den doppelten Maßstäben des Westens zu tun. Und mit einer russischen Innovation (Teil 1)
In den westlichen Medien hört man ein Crescendo von Warnungen: Russlands Einmarsch in die Ukraine stehe bevor, der Ton wird täglich schärfer: "Putin werde einen Preis dafür bezahlen", dass er "unserer Werte zerstört" usw. Zu rationalen Einschätzungen gelangt man aber nur, wenn man auf der anderen Seite zuhört, etwa der populären russischen Sendung Vetcher (Abend).
Tatsächlich kündigen die derzeitigen Ereignisse eine weltpolitische Zäsur an. Russland sitzt militärisch am längeren Hebel, wenn auch in ganz anderer Weise, als dies dargestellt wird. Es geht in erster Linie nicht um die Ukraine.
Eine Analyse dieser Situation gelingt am besten, wenn man sich ein paar geopolitische Fakten der jüngeren Geschichte vor Augen hält. Die USA haben 2003, unter einem Vorwand, den Irak überfallen und dabei hunderttausende getötet, zwanzig Jahre lang einen sinnlosen Krieg in Afghanistan geführt, völkerrechtswidrig Libyen zerstört, in Syrien mit Hilfe des IS einen regime change versucht, schließlich den Putsch in der Ukraine orchestriert.
Die Liste ist bei Weitem nicht vollständig, schon allein wegen der zahlreichen Drohnenmorde, aber das Muster immer das gleiche: Chaos erzeugen, notfalls auch mit Terroristen, Waffen verkaufen, Einfluss sichern. Teile und herrsche.
Seit über zwanzig Jahren geschieht dies in einer überparteilichen Kontinuität eines permanent state in den USA. Einzelne Präsidenten setzen nur Nuancen in der großen Linie des militärisch-industriellen Komplexes, der ein Imperium mit weltweit 800 Militärbasen, Stationierung von US-Truppen und Söldnern in 170 Ländern mit einem Budget von zuletzt 800 Milliarden US-Dollar errichtet hat, die Nato-Staaten noch nicht mitgerechnet. Doch die Zeit dieser Hasardeure endet.
Der Bär blieb lange ruhig
Russland hat den fünf Wellen der Nato-Osterweiterung und anderen Aggressionen an seinen Grenzen wie in Georgien 2008 lange geduldig zugesehen, wahrscheinlich mit zusammengebissenen Zähnen, aber doch mit einer langfristigen Strategie. Denn die Abermilliarden, die die USA für, wie man in Russland spottet, "Klopapier seiner Besatzungstruppen" ausgibt, hinderten Russlands Ingenieure nicht daran, mit einem Bruchteil des Aufwands Hyperschallraketen zu entwickeln, die aufgrund ihrer Schnelligkeit jedem Abwehrsystem zuvorkommen können.
Mit Schiffen und U-Booten als Trägersystemen hat Russland damit die Möglichkeit, Ziele in den USA an deren Ostküste innerhalb von Minuten zu zerstören oder, nur beispielsweise, mit den langreichweitigen Systemen Kinshal und Zircon ihre elf Flugzeugträger ausknipsen.
Die USA verfügen immer noch über einen großen Raumvorteil auf dem geopolitischen Schachbrett, aber noch nicht gemerkt, dass sie im kommenden Endspiel einen Turm weniger haben.
Russland weiß um seine Stärke
In Russland ist man über diese neuen Technologien informiert und bewertet die weltpolitische Lage entsprechend selbstbewusst. Der Zeitpunkt zum Handeln sei jetzt. Tatsächlich lautet die Frage: Soll man warten, bis die USA möglicherweise in der Hyperschalltechnologie nachziehen und diese Raketen dann in der Ukraine aufstellen, noch näher als die bereits platzierten Systeme in Polen und Rumänien?
Die fast einhellige Antwort lautet: Nein, dies würde die ohnehin kurzen Vorwarnzeiten nochmals verringern und Russland einen strategischen Nachteil verschaffen. Entgegen der westlichen Propaganda interessiert zwar die Russen ein Einmarsch in der Ukraine nicht, aber eine Zerstörung von aus dem Ausland dorthin gelieferter militärischer Infrastruktur wird offen diskutiert.
Bevor es eine Bedrohung für Russland darstelle, sei ein vorbeugender Präzisionsschlag vorzuziehen; ein Diskussionsteilnehmer nannte dies nicht ganz unzutreffend als "die amerikanische Art". Ja, gegen das Völkerrecht wäre es wahrscheinlich schon. Aber es würde in Russland wahrscheinlich einen landesweiten Lachkrampf auslösen, sollte ausgerechnet der Westen sich auf dieses berufen.
Dass die USA seit Jahrzehnten internationale Normen mit Füßen treten und das Recht des Stärkeren praktizieren, könnte sich nun als Bumerang erweisen.
Die politische Klasse nimmt es als völlig normal hin, dass die USA eine Terror-Supermacht sein soll, immun gegen Gesetz und zivilisierte Normen.
Noam Chomsky
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