Nato-Aggression und Russlands Reaktion

Warum sich Russland betrogen und bedroht fühlt – und warum da einiges dran ist

Ob ein russischer Angriff auf die Ukraine tatsächlich vor der Tür steht, wie es uns die US-Geheimdienste und die Biden-Regierung glauben machen wollen, lässt sich nur schwer beurteilen. Was sich aber sicher sagen lässt ist, dass die Situation überaus heikel ist und dass viele der russischen Vorwürfe, die derzeit so empört als Hirngespinste zurückgewiesen werden, alles andere als aus der Luft gegriffen sind.

Man muss deshalb die militärische Drohkulisse, die Moskau an der ukrainischen Grenze und jetzt auch in Belarus errichtet hat, noch lange nicht gutheißen und kann dennoch verstehen, dass die Ursachen für die neuerliche Eskalation bei der Nato liegen.

Betrachtet man die am 17. Dezember 2021 präsentierten Vorschläge zur Entschärfung der Lage so wird deutlich, dass Russland vor allem drei Dinge umtreiben: Erstens die Sorge vor einer Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Osteuropa; zweitens die sukzessive Aufrüstung und Eingliederung weiterer osteuropäischer Staaten in die NATO, insbesondere der Ukraine; und drittens die dauerhafte Ansammlung massiver NATO-Truppenverbände an seinen Grenzen.

Betrachtet man weiter die jüngsten Entwicklungen wird ebenfalls deutlich, dass diese Sorgen nur allzu berechtigt sind und zwar in allen drei Dimensionen. Dennoch treffen die russischen Bedenken aktuell nur bei wenigen westlichen Akteuren auf offene Ohren, die überwiegende Mehrheit ist leider weiter auf Krawall gebürstet, weshalb augenscheinlich auch ernsthaft darüber diskutiert wird, die Truppenpräsenz an der Nato-Ostflanke weiter zu erhöhen und sogar erstmals SoldatInnen dauerhaft im Südosten des Bündnisgebietes zu stationieren.

Ursünde NATO-Osterweiterung

Seit Jahren ist die Nato eifrig darum bemüht, die Aussage, Russland bzw. der Sowjetunion sei Anfang der 1990er zugesagt worden, es werde zu keiner Erweiterung der westlichen Militärallianz nach Osten kommen, als Falschmeldung zu diskreditieren. Auch die Medien, angefangen von Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung bis hin zu Michael Thumann in der Zeit, wissen es ganz genau Die russische Sichtweise entbehre jeder vernünftigen Grundlage, so der Tenor.

Über diverse Winkelzüge versucht die Nato dem Problem beizukommen, dass sie mit der schlussendlich 1999 vollzogenen Osterweiterung schlicht wissentlich ihre einstigen Zusagen eklatant verletzt hat. Da wäre einmal die Behauptung, die (nicht nur) von US-Außenminister James Baker gemachte Versicherung, die Nato werde sich nicht nach Osten erweitern, habe sich lediglich auf das Gebiet der ehemaligen DDR bezogen, von anderen Ländern in Osteuropa sei nie die Rede gewesen.

Der genaue Wortlaut des Gesprächs lässt eine solche Interpretation aber nur mit viel Phantasie zu, er ließ sich schon vor über zehn Jahren zum Beispiel in der Frankfurter Rundschau nachlesen:

Als US-Außenminister James Baker bei KP-Generalsekretär Michail Gorbatschow am 8. Februar 1990 um dessen Zustimmung für den Verbleib des wiedervereinigten Deutschlands in der Nato warb, versicherte Baker, es werde "keine Ausweitung der gegenwärtigen Nato-Jurisdiktion nach Osten geben". Gorbatschow setzte nach: "Jede Erweiterung der Zone der Nato ist unakzeptabel." Bakers Antwort: "Ich stimme zu."

Frankfurter Rundschau, 11. 9. 2008

Tatsächlich war es völlig klar, dass die gegenüber der Sowjetunion gemachten Zusagen sich auf jede Form einer Nato-Osterweiterung bezogen, wie unter anderem der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse in einem Gespräch am 10. Februar 1990 klipp und klar versichert hatte. Aus der zugehörigen Aktennotiz zitierte unter anderem Spiegel Online:

"BM (Bundesminister): Uns sei bewusst, dass die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur Nato komplizierte Fragen aufwerfe. Für uns stehe aber fest: Die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen." Und da es in dem Gespräch vor allem um die DDR ging, fügte Genscher ausdrücklich hinzu: "Was im Übrigen die Nichtausdehnung der Nato anbetreffe, so gelte dieses ganz generell."

Spiegel Online

Als weiteres Argument führt die Nato ins Feld, es habe nie eine formale Zusage der Nato existiert, insofern habe man sich mit den Erweiterungsrunden auch nichts zuschulden kommen lassen. Das ist zwar keine glatte Lüge, aber dennoch keineswegs wahr.

Schließlich haben VertreterInnen nahezu aller großen Nato-Staaten Russland die besagte Garantie gegeben, wie sich in 2017 freigegebenen Dokumenten nachlesen lässt. Zu ihnen gehörten u.a. George Bush, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl, Robert Gates, Francois Mitterrand, Margaret Thatcher, John Major, Manfred Wörner und andere.

Insofern war es zwar eine geopolitische Dummheit allersten Ranges, sich diese Zusagen nicht in rechtlich bindender Form geben zu lassen, dass sie aber gemacht wurden und hätten eingehalten werden müssen, entspricht ebenso den Tatsachen. Augenscheinlich ging auch der sowjetische Generalsekretär Michael Gorbatschow von der Gültigkeit der westlichen Garantien aus:

Die Entscheidung der USA und ihrer Verbündeten, die Nato nach Osten auszudehnen, wurde 1993 letztlich gefällt. Ich habe das damals von Anfang an als großen Fehler bezeichnet. Es war definitiv eine Verletzung des Geistes der Statements und Versicherungen, die uns gegenüber 1990 gemacht wurden.

Michael Gorbatschow

Als letzter Pfeil im Nato-Köcher fungiert dann noch die Behauptung, die turbulente Zeit im Februar 1990 sei von vielen Missverständnissen geprägt gewesen, etwaige damals getätigte Aussagen ließen sich heute nicht mehr auf die Goldwaage legen. Allerdings zeigen 2018 freigegebene und beim "National Security Archive" veröffentlichte Dokumente, dass auch mit Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin in Sachen Nato-Osterweiterung ein falsches Spiel getrieben wurde. Der Journalist Andreas Zumach schreibt dazu:

Aus den Dokumenten wird deutlich, wie Jelzin und seine Regierung von den damaligen US-Administrationen von George Bush und Bill Clinton im Unklaren gelassen oder gar vorsätzlich in die Irre geführt wurde über die damaligen Absichten mit Blick auf eine Erweiterung der Nato.

Andreas Zumach

Es ist also völlig nachvollziehbar, dass sich Russland hier betrogen fühlt, was sicherlich weit weniger problematisch wäre, würde es die Nato-Politik insbesondere in der letzten Zeit nicht als überaus bedrohlich empfinden.

Raketenstationierungen: Neue (Nach)rüstung

Wir erinnern uns: 2019 stiegen die USA mit lautem Getöse aus dem INF-Vertrag aus, der eine Stationierung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 km und 5.500 km bis zu diesem Zeitpunkt verbot.

Als Begründung wurde angegeben, Russland habe den Vertrag bereits verletzt. Moskau bestritt die Vorwürfe und gab an, die infrage stehenden Marschflugkörper 9M729 (Nato-Codename SSC-8) hätten eine Reichweite unter 500 km. Gleichzeitig bot es Vor-Ort-Inspektionen an, mit denen diese Frage hätte geklärt werden können.

Stattdessen beharrten die USA und ihre Verbündeten aber auf ihren Anschuldigungen, kündigten den Vertrag auf und schlugen auch ein – bis heute - immer wieder von Russland angebotenes Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen barsch aus (siehe Das Ende des INF-Vertrags und das neue Wettrüsten).

Schon 2019 wurden Forderungen nach einer erneuten Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa laut und aktuell sieht alles danach aus, als würden die USA dies auch bald umsetzen – es liegt deshalb nahe, die Aufkündigung des INF-Vertrages als Resultat dieser Ambitionen und nicht als Ergebnis bis heute nicht sattelfest bewiesener russischer Vertragsverletzungen zu begreifen.

Ein deutliches Zeichen für diese Bestrebungen war die am 8. November 2021 erfolgte Re-Aktivierung des 56. Artilleriekommandos mit Sitz im Wiesbadener Stadtteil Mainz-Kastel. Der Schritt hat einigen Symbolwert, schließlich war das Kommando bis zu seiner vorläufigen Auflösung 1993 für die Pershing-Raketen zuständig, die im Zuge der "Nachrüstung" (oder treffender: "Aufrüstung") in den 1980er Jahren stationiert wurden.

Die heutige Aufgabe des Kommandos besteht darin, im Kriegsfall Raketeneinsätze der US-Streitkräfte und ihrer Nato-Verbündeten zu koordinieren. Das legt natürlich nahe, dass die US-Armee auch über die entsprechenden Waffen verfügen will, weshalb der Schritt nur in Verbindung mit der nahezu gleichzeitigen Aktivierung der ebenfalls in Wiesbaden ansässigen "Multi-Domain Task Force" (MDTF) Sinn macht. Denn geplant ist es diesen Einheiten, die explizit mit dem Anspruch konzipiert wurden, in Großmachtkonflikten mit Russland oder China die Oberhand erlangen zu können, drei Kurz- und Mittelstreckensysteme, die aktuell noch in der Entwicklung befinden, zuzuordnen.

Nachdem die US-Armee mehrfach versichert hat, es sei keine Stationierung konventioneller (aber atomar bestückbarer) Raketen in Deutschland geplant, ist die Annahme völlig plausibel, dass eine Dislozierung weiter im Osten möglichst nahe an den russischen Grenzen ins Auge gefasst wird.

Es ist deshalb nachvollziehbar, wenn Russland über diese Entwicklung beunruhigt ist, zumal es sich bei einem der in Entwicklung befindlichen US-System ("Dark Eagle") um eine Hyperschallrakete handelt, die in extrem kurzer Zeit und damit fast ohne die Möglichkeit von Abwehrmaßnahmen Ziele in Russland treffen könnte. Aus diesem Grund kritisierte der russische stellvertretende Außenminister Sergei Ryabkow am 13. Dezember 2021, er sehe in der Re-Aktivierung des 56. Artillerieregimentes ein "indirektes Zeichen" dafür, dass die Nato plane, neue Mittelstreckenraketen zu stationieren, was er als eine ernste Bedrohung wertete.