Nato-Aggression und Russlands Reaktion

Seite 2: Aufrüstung der Ukraine – Heranführung an die Nato

Die geopolitische Bedeutung der Ukraine als einer der Schlüsselstaaten in der Region steht außer Frage – und ebenso die Reichweite einer Entscheidung, ob sich das Land dem westlichen Block oder Russland zuwendet oder ob es einen neutralen Status bewahrt (siehe Ost oder West?).

Genau diese Frage war Auslöser der Eskalation im Jahr 2014, die ihren Anfang darin nahm, dass der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch sich entschied, die Unterzeichnung eines Assoziationsabkommens mit der EU auf Eis zu legen, mit dem sein Land nahezu irreversibel in den westlichen Block integriert worden wäre.

Die unmittelbar darauf mit massiver westlicher Unterstützung (und unter Ignorierung der regen Beteiligung faschistischer Kräfte) einsetzenden Maidan-Proteste führten dann zur unter Gewaltandrohung erfolgten Flucht des gewählten Präsidenten Janukowitsch. Russland reagierte hierauf mit der Aufnahme der Krim und der Unterstützung separatistischer Kräfte in der Ostukraine, was zu einem Bürgerkrieg führte, der mit dem Minsker Waffenstillstandsabkommen vom 12. Februar 2015 endete, das von der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland unterzeichnet wurde und den Status quo erst einmal einfror.

Bis heute liefert das Minsker Abkommen die Grundlage für den extrem brüchigen Waffenstillstand. In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass zwar ausführlich über den erstmals im April 2021 begonnenen russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze berichtet wurde, in den Medien aber kaum davon zu lesen war, dass dem ein folgenschweres Dekret vorangegangen war.

Einzig der Berliner Zeitung war etwas über den Vorgang zu entnehmen, der vom früheren Handelsblatt-Journalisten Eric Bonse folgendermaßen zusammengefasst wurde:

Seit Mitte Februar gibt es wieder verstärkt Kämpfe zwischen pro-russischen Einheiten und der Regierungsarmee in der Ostukraine. Für besondere Aufmerksamkeit sorgt das Dekret Nr. 117 vom 24. März 2021, mit dem [der ukrainische Präsident] Selenskyj die Entscheidung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März 2021 ("Zur Strategie der Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol") umsetzen will. In dem Dekret wird die Vorbereitung von Maßnahmen angekündigt, um "die vorübergehende Besetzung" der Krim und des Donbass zu beenden. Laut der staatlichen ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform erhielt die Regierung den Auftrag, einen entsprechenden "Aktionsplan" zu entwickeln.

Eric Bonse

Ohne es mit letzter Sicherheit wissen zu können macht es vor diesem Hintergrund einigen Sinn, den russischen Truppenaufmarsch als eine klare Drohung in Richtung der ukrainischen Regierung zu interpretieren, dass ein versuchter Angriff auf die von separatistischen Kräften gehaltenen Gebiete (oder gar die Krim) von Russland mit aller Härte beantwortet werden würde.

Auch das muss man nicht schön finden, es ist aber etwas gänzlich anderes als die derzeit omnipräsente Behauptung, Russland plane einfach so in die Ukraine einzumarschieren. Ganz ähnlich sah dies wohl auch Marineinspekteur Kay-Achim Schönbach, der mit von tagesschau.de zitierten Äußerungen für Furore sorgte, für die er am Samstag seinen Hut nehmenmusste - Was der Rauswurf von Vizeadmiral Schönbach bedeutet.

Deshalb forderte Samuel Charap von der dem US-Militär nahestehenden Rand-Corporation bereits im November 2021 eine Kursänderung in der Ukrainepolitik:

Verschiedene US-Regierungen haben erpresserische Instrumente ausprobiert […]. Gleichzeitig hat Washington Kiew wirtschaftlich, politisch und militärisch unterstützt […]. Die Gefahr eines großen Krieges scheint groß genug, um eine neue US-Herangehensweise zu rechtfertigen. […] Wo die USA einen entscheidenden Einfluss haben, ist auf die Ukraine – und dieser Einfluss wird im Großen und Ganzen nicht genutzt. Anstatt sich ausschließlich auf die Erpressung Russlands zu fokussieren, sollte die Biden-Regierung auch Kiew drängen Schritte in Richtung einer Implementierung des Minsker-Abkommens zu unternehmen, wozu die Ukraine bislang wenig Bereitschaft an den Tag gelegt hat.

Samuel Charap, Rand-Corporation

Aktuell handelt es sich bei derlei Stimmen aber noch um einsame Rufer und auch hier ist es verständlich, dass die weitere Aufrüstung der ukrainischen Armee in Russland nicht gerade Begeisterungsstürme auslöst. Bereits ein kurzer Überblick bei German-Foreign-Policy.com zeigt, wieviel in dieser Hinsicht bereits unternommen wurde:

So haben die USA inzwischen Militärhilfe im Wert von mehr als 2,5 Milliarden US-Dollar geleistet, darunter die Lieferung Hunderter Panzerabwehrraketen des Typs Javelin. Polen und Tschechien haben Dutzende gebrauchte Schützenpanzer beschafft; die Türkei liefert Kiew ihre berüchtigten Drohnen des Typs Bayraktar TB2. Großbritannien wiederum hat begonnen, die Aufrüstung der ukrainischen Seestreitkräfte zu unterstützen; unter anderem will es die Ukraine beim Erwerb neuer Kriegsschiffe und beim Bau einer neuen Marinebasis unterstützen.

German Foreign Policy

Die neuerliche Eskalation diente der ukrainischen Regierung dazu, ihre Forderungen nach noch mehr Waffenlieferungen noch einmal deutlich lauter als bislang zu artikulieren. Großbritannien hat bereits mit der Lieferung von Panzerabwehrwaffen begonnen und am 20. Januar 2022 gab Washington den baltischen Ländern die Zustimmung, US-Waffen an die Ukraine weitergeben zu können.

Direkt wird auch Deutschland zu Waffenlieferungen aufgefordert, lehnt diese bislang aber noch ab. So betonte Kanzler Olaf Scholz: "Die deutsche Bundesregierung verfolgt seit vielen Jahren eine gleichgerichtete Strategie in dieser Frage. Und dazu gehört auch, dass wir keine letalen Waffen exportieren."

Dennoch beharrt die Ukraine auf dieser Forderung und präzisierte laut Tagesspiegel auch, was es denn genau an "defensiven" Waffen von Deutschland hätte:

"Es geht in erster Linie um deutsche Kriegsschiffe, die zu den besten der Welt gehören, die wir für die robuste Verteidigung der langen Küste im Schwarzen und Asowschen Meer dringend brauchen", sagte Botschafter Andrij Melnyk der Deutschen Presse-Agentur.

Tagesspiegel

Doch nicht nur was Kriegsschiffe anbelangt ist klar, dass es so etwas wie defensive Waffen eigentlich überhaupt nicht gibt. Bereits letztes Jahr hatte Grünen-Chef Robert Habeck die Lieferung von "defensiven" Waffen in die Ukraine gefordert. Im Zuge der damaligen Debatte stellte zum Beispiel Carlo Masala, Professor an der Bundeswehr-Universität in München, klar:

Die Unterscheidung zwischen Defensiv- und Offensivwaffen stammt aus früheren Jahrhunderten, wo sie noch Sinn ergeben hat. Mittlerweile lässt sich nahezu jede Waffe defensiv oder offensiv nutzen, das hängt immer von der Art und Weise der Operationsführung ab. […] Die Gefahr ist eben, dass diese Waffen doch für offensive Operationen eingesetzt werden […], was dann sicherlich eine massivere russische Antwort bedeuten würde […] Der Krieg in der Ostukraine würde also nochmals eskalieren. Diese Gefahr ist durchaus existent.

Carlo Masala

Auch in der aktuellen Debatte äußerte sich Masala ähnlich:

Es sind Waffen. Diese Defensiv/Offensiv Debatte dient nur der Beruhigung der deutschen pazifistischen Gemüter. Es sei denn wir reden über Helme und Nachtsichtgeräte. Die machen aber wenig Unterschied.

Carlo Masala

Gerade vor dem Hintergrund der Kiewer Ambitionen für eine Rückeroberung der abtrünnigen Gebiete sind Waffenlieferungen in jedweder Form demzufolge mehr als problematisch – dennoch wird nun auch im EU-Rahmen geliefert, wozu auch Deutschland die Zustimmung gegeben hat. So informierte der Rat der EU am 2. Dezember 2021 in einer Pressemitteilung über die Genehmigung nicht-letaler "Unterstützungsmaßnahmen" für die Ukraine aus Mitteln der Europäischen Friedensfazilität:

Insbesondere werden militärmedizinische Einheiten, einschließlich Feldlazarette, sowie Einheiten in den Bereichen Technik, Mobilität und Logistik finanziert und es wird Unterstützung in Cyberfragen geleistet. Die Maßnahme beläuft sich auf 31 Millionen € über einen Zeitraum von 36 Monaten.

Europäischer Rat

Deutlich problematischer noch ist, dass sich außerdem seit Juni 2021 eine EU-Mission zur Ausbildung ukrainischen Militärs in der Anbahnung (EU Military Advisory and Training Mission, EUTM Ukraine) befindet, die laut dem EU-Außenbeauftragen Josep Borell bald gestartet werden soll.

"Ein solcher Einsatz würde ein Ausdruck der Solidarität mit der Ukraine sein angesichts der fortlaufenden militärischen Aktivitäten der Russischen Föderation an den Grenzen zur Ukraine und in der illegal annektierten Krim", heißt es zu dem geplanten Einsatz in einem Arbeitspapier des Europäischen Auswärtigen Dienstes.

Augenscheinlich soll dieser Einsatz die Heranführung der ukrainischen Armee an die Nato-Standards vorantreiben, woran der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks kürzlich keine Zweifel aufkommen ließ:

Wir wollen eine moderne Armee schaffen. In der Praxis würde dies bedeuten, Teams von Militärexperten zu entsenden, um die ukrainischen Streitkräfte und die Kommandostruktur auszubilden. Wir können allgemeine Beziehungen in der Armee trainieren, Taktik (strategisch, Manöver...), alles, was wir lehren können... Vor etwa 30 Jahren, bevor wir der Nato beitraten, hatten wir in Lettland Nato-Standards übernommen. Die Ukraine muss bereit sein. […] Die Ukraine ist grundsätzlich ein verbündetes Land, und die Europäische Union muss ihr beim Aufbau einer modernen Armee nach Nato-Standards helfen. Das ist also tatsächlich das Ziel: der Nato-Standard. Weil es alle Arten von Wertesystemen, Zusammenarbeit und in politischer Hinsicht beinhaltet, erlaubt es uns auch, uns als Einfluss im Land zu positionieren.

Artis Pabriks, lettischer Verteidigungsminister