Ost oder West?
Die Ukraine steht an einem historischen Scheideweg, der die Erosion der nationalen Souveränität beschleunigen wird
Die ukrainische Protestindustrie läuft in diesem Winter zu ihrer Höchstform auf. Seit einem knappen Monat - seit dem Scheitern des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU - demonstrieren Oppositionsanhänger gegen Präsident Viktor Janukowitsch und für eine rasche Westintegration der Ukraine.
Tausende von Demonstranten wurden aus dem Westen des tief gespaltenen Landes in dessen Hauptstadt herangeschafft, um die Reihen der Demonstranten zu verstärken. Ähnliche Mobilisierungsanstrengungen unternehmen auch die Anhänger der Regierung aus der Ostukraine, sodass am vergangenen Wochenende zwei konkurrierende Kundgebungen in Kiew stattfanden.
Das Land scheint somit abermals entlang der altbekannten geopolitischen Frontstellung geteilt, wie sie schon während der "Orangen Revolution" 2004 sichtbar wurde: Ein ukrainischsprachiger Westen, der eine rasche EU-Integration favorisiert, sieht sich einem russischsprachigen Osten gegenüber, dessen Schwerindustrie eng mit der Russischen Föderation verwoben ist.
"Russland gegen Europa"
Zudem sind die Interventionsbemühungen sowohl der Europäischen Union wie auch Russlands in diesem ukrainischen Machtspiel evident. Beide Großmächte bemühen sich mit einer Mischung aus Drohungen und Lockangeboten darum, die Ukraine ihrer geopolitischen und wirtschaftlichen Einflusssphäre einzugliedern. Es reicht, die jeweils gegen die Gegenseite erhobenen Anschuldigungen zu lesen, um eine Ahnung von dem Druck zu bekommen, dem Kiew aus Ost wie West ausgesetzt ist. Putin habe durch "Mobbing" die Ukraine dazu gebracht, der russischen Zollunion im postsowjetischen Raum beizutreten, klagte etwa die New York Times (NYT). Im ukrainischen Machtkampf stünden sich nun Europa und Russland gegenüber, so das Ostküstenblatt. Die BBC sprach von einer Taktik aus "Zuckerbrot und Peitsche", die der Kreml gegenüber Kiew anwende. Das Hamburger Abendblatt sieht hingegen in blanker russischer "Erpressung" die Ursache für die Abkehr der ukrainischen Führung von der Europäischen Union.
Von Erpressung spricht übrigens auch der russische Präsident Putin, wenn er die knallharte Politik Brüssels gegenüber der Ukraine kritisiert. Der russische Außenminister Lawrow kritisierte die "Provokationen" der EU und die offensichtliche Einmischung http://in die inneren Angelegenheiten der Ukraine. Diese westlichen Interventionen hätten laut Lawrow vor allem ein ökonomisches Kalkül, da die "europäischen Partner" nun besorgt seien, "in Krisenzeiten eine billige, wenn nicht gar freie Profitquelle zu verlieren." Die Reaktionen des Westens auf den Ostschwenk der Kiewer Führung bezeichnete Lawrow als "hysterisch".
Die Einmischung der EU und der USA in die inneren Angelegenheiten der Ukraine ist evident. Man gibt sich inzwischen im Westen keine Mühe, diesen Umstand irgendwie zu verbergen oder zumindest zu kaschieren. Amerikanische Senatoren und europäische Parlamentarier nehmen an den Kundgebungen der Opposition offen teil, um die Demonstranten auf einen verbissenen Kampf um die Westintegration ihres Landes einzuschwören. In der US-Administration und im Europäischen Parlament sind inzwischen Stimmen nach Sanktionen gegenüber Russland und der Ukraine laut geworden.
Eine besonders exponierte Rolle spielt hierbei die deutsche Außenpolitik. Die Bundeskanzlerin hat laut NYT bereits Ende November "Berlins beachtliches politisches und wirtschaftliches Gewicht hinter die europäischen Anstrengungen gestellt, engere Partnerschaften mit sechs ehemaligen Sowjetrepubliken zu formen: Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland, Georgien, Moldawien und Ukraine". Dabei kann vor allem der "Oppositionsführer" Wladimir Klitschko guten Gewissens als ein deutscher Politexport bezeichnet werden.
Über die offene Unterstützung, die Klitschko seitens der CDU und der Bundesregierung zuteil wurde, berichtete auch der Spiegel Mitte Dezember. Die Konrad Adenauer Stiftung war beim Aufbau des Klitschko-Wahlvereins "Udar" (Schlag) beteiligt, während Ex-Kanzleramtschef Ronald Pofalla dem politisch unterfahrenen Boxer mit persönlichen Ratschlägen zur Seite stand. Hierbei handelt es sich um eine langfristige Strategie, da die deutsche Schützenhilfe beim Aufbau einer "proeuropäischen" Opposition in der Ukraine schon vor mehreren Jahren anlief. Während eines Besuchs der Konrad-Adenauer-Stiftung Anfang 2011 versprach Klitschko ausdrücklich, dass "Udar" im Fall der Machtübernahme das Ziel verfolge, "die Ukraine so schnell wie möglich in die EU zu integrieren". Und der Boxweltmeister bemüht sich nach Kräften, sein Wort zu halten: In der Bild-Zeitung forderte Klitschko jüngst den neuen deutschen Außenminister Frank Walter Steinmeier auf, möglichst bald nach Kiew aufzubrechen, um sich als "Vermittler" für die "Freiheit in der Ukraine" einzusetzen.
"Great Game" im postsowjetischen Raum
Diese europäischen Interventionsbemühungen in der Ukraine finden im Rahmen einer europäischen Expansionsstrategie statt, die unter dem Titel "Östliche Partnerschaft" im Dezember 2008 vom Europäischen Rat beschlossen wurde. Hierbei sollen die genannten postsowjetischen Staaten aus dem russischen Machtbereich herausgelöst und sukzessive in die Einflusssphäre der Europäischen Union herangeführt werden.
Dieses geopolitisch-wirtschaftliche Ziel soll in bewährter Tradition vermittels bilateraler Assoziierungsabkommen realisiert werden, mit denen vor allem die wirtschaftliche Kooperation - etwa durch den Abbau von Zöllen und sonstigen Handelsbeschränkungen – gestärkt würde. Die Ukraine spielt aufgrund ihres wirtschaftlichen und strategischen Gewichts bei diesem geopolitischen Machtspiel der EU natürlich die zentrale Rolle. Die Weigerung Kiews, das Assoziierungsabkommen zu unterschreiben, käme einer Niederlage der gesamten geopolitischen Strategie der "Östlichen Partnerschaft" gleich.
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Berlin und Brüssel die "Östliche Partnerschaft" aus der Taufe hoben, forcierte der Kreml seine Bemühungen um die Formung einer eurasischen Zoll- und Handelsunion, die einen umfassenden wirtschaftlichen Integrationsprozess im postsowjetischen Raum initiieren soll. Bis 2015 möchte der Kreml hieraus eine "Eurasische Union" formen, die ähnlich der Europäischen Union strukturiert sein soll. Unter anderem ist der Aufbau einer "Eurasischen Kommission" (nach dem Modell der Europäischen Kommission) als einem zentralen Exekutivorgan geplant.
Bislang sind der russischen Zoll- und Handelsunion nur Kasachstan und Belarus beigetreten, während Armenien, Kirgisien und Tadschikistan einen Kandidatenstatus innehaben. Erst die Einbindung der Ukraine mit ihren 46 Millionen Einwohnern würde diesem russischen Projekt die notwendige kritische Masse verleihen, um diese "östliche EU" auch zu einer realen geopolitischen Alternative in der Region zu formen. Für beide Seiten - für die EU wie für Russland - stellt die Einbindung der Ukraine ein grundlegendes und unverzichtbares Element ihrer Expansionsstrategien dar. Deswegen wird der Kampf um Kiew mit solcher Verbissenheit geführt.
Russland hat dabei nach anfänglichen Lockangeboten - in Form günstiger Kredite und verbilligter Erdgaslieferungen - vor allem auf knallharten ökonomischen Druck gesetzt, um die Führung in Kiew an die engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen beiden Ländern zu erinnern Die ukrainischen Exporte nach Russland wurden plötzlich durch pedantische russische Grenzkontrollen behindert, während die Verhandlungen um russische Erdgaslieferungen für die Ukraine aufgrund einer harten Haltung des russischen Staatsmonopolisten Gazprom kaum zum Abschluss kommen konnten. Der Kreml machte der ukrainischen Führung somit die hohen Kosten einer Westintegration deutlich.
Die ukrainische Führung um Präsident Janukowitsch - die ihre Machtbasis innerhalb der ostukrainischen Oligarchie hat – kann aber nicht einfach als eine prorussische Marionette Moskaus bezeichnet werden. Janukowitsch bemüht sich verzweifelt, angesichts zunehmender Krisentendenzen die Unabhängigkeit der Ukraine möglichst lange aufrechtzuerhalten. Eine Einbindung der Ukraine in die EU oder eine "Eurasische Union" würde langfristig die Machtbasis der ostukrainischen Oligarchie gefährden, die die Schwerindustrie der Ukraine kontrolliert. Hierbei betreibt Janukowitsch einen Balanceakt, bei dem er Brüssel gegen Moskau auszuspielen versucht, um so von beiden Seiten möglichst vorteilhafte Konditionen im Austausch für möglichst unverbindliche Integrationsversprechen zu erhalten.
Ein Paradebeispiel für diesen geopolitischen Spagat Kiews stellt das "unmoralische Angebot" dar, dass der ukrainische Ministerpräsident Mykola Asarow der EU unterbreitete: Für die Kleinigkeit von 20 Milliarden Euro wäre Kiew demnach bereit, seine Haltung bezüglich des europäischen Assoziierungsabkommens zu überdenken und dieses doch noch zu unterschreiben. Dabei kann Kiew letztendlich diesen Balanceakt nicht ad infinitum fortführen, ohne tatsächlich substanzielle Finanzhilfen auch zu erhalten, da die Ukraine am Rande des wirtschaftlichen Abgrunds steht: Das Land ist hoch verschuldet, die Währung befindet sich in einem Abwärtsstrudel, die marode Industrie versinkt in Stagnation. Ohne Finanzspritzen von der einen oder anderen Seite werde die ukrainische Führung "nicht in der Lage sein, die wirtschaftliche Stabilität aufrechtzuerhalten", zitierte die NYT einen Wirtschaftsberater Putins.
Die krisenbedingte Erosion nationaler Souveränität
Die ukrainische Führung ist somit im Endeffekt nur darum bestrebt, den Preis für ihre Integration in eines der konkurrierenden supranationalen Bündnis- und Wirtschaftssysteme in die Höhe zu treiben. Denn letztendlich hat sich die Ukraine, wie die meisten postsowjetischen oder postsozialistischen Staaten ohne große Rohstoffvorkommen, als ökonomisch nicht überlebensfähig erwiesen. Das industrielle Zentrum im Osten des Landes ist von einer kaum konkurrenzfähigen, maroden und veralteten Schwerindustrie geprägt, die bei einer Öffnung der Märkte gegenüber der EU sehr schnell zerschlagen und aufgekauft würde. Der Westen des Landes bildet hingegen eine ökonomische Zusammenbruchsregion, in der ohnehin kaum noch Industrie zu finden ist.
Ein ähnliches Schicksal wie die Ukraine hat im Übrigen vor wenigen Jahren das autoritär regierte Belarus erfahren, das aufgrund eskalierender wirtschaftlicher Krisentendenzen sich auf eine stärkere Integration mit Russland einlassen musste. Für die postsowjetischen Staaten endet somit aufgrund ihrer kaum vorhandenen ökonomischen Basis die kurze Ära der vollen nationalen Souveränität, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einsetzte. Der unabhängige Nationalstaat wird somit – und dies ist ja keine genuin osteuropäische Tendenz – zu einem historischen Auslaufmodell, das in regionalen Wirtschaftsbündnissen aufgeht. Einzig postsowjetische Länder mit großen Rohstoffvorkommen, wie etwa Turkmenistan, können sich ihre nationale Souveränität mittels massiver Rohstoffexporte noch erkaufen.
Es ist somit gerade die strukturell bedingte ökonomische Schwäche – und die damit einhergehende politische Instabilität – der Ukraine, die das Land zu einem "Übernahmekandidaten" für Brüssel wie Moskau macht. Deshalb kreisten etwa die jüngsten Gespräche zwischen Janukowitsch und Putin am vergangenen Dienstag vor allem um die russischen Hilfskredite in Höhe von 15 Milliarden US-Dollar und um Preisnachlässe für russisches Erdgas, die im Gegenzug für eine Ostintegration der Ukraine in Aussicht gestellt wurden. Die Anlehnung Kiews an Moskau dürfte letztendlich auch von der deutschen Krisenpolitik in der Eurozone befördert worden sein. Nachdem die ukrainische Führung sehen konnte, welche wirtschaftlich desaströse Sonderbehandlung Berlin den europäischen Krisenstaaten angedeihen lässt, dürfte eine etwaige europäische Integration für das krisengeschüttelte Land weniger attraktiv erscheinen.
Doch was treibt sowohl die EU wie auch Russland dazu, die Konkurrenz um Einfluss im postsowjetischen Raum derart zu intensivieren? Beide Expansionsstrategien – die russische Zollunion wie die europäische Östliche Partnerschaft – wurden im Gefolge der 2008 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise forciert. Sie bilden einen gefährlichen und nur zu üblichen Reflex, mit dem kapitalistische Staaten auf eine tiefe Krise der kapitalistischen Produktionsweise reagieren: Es ist der Versuch, vermittels der Expansion, der wilden "Flucht nach vorn", die Krise zu überwinden.
Die Zunahme nationaler Spannungen - von der Eurokrise, über das hier geschilderte Great Game im postsowjetischen Raum bis zu den Auseinandersetzungen zwischen China und Japan im chinesischen Meer – werden gerade durch diese krisenbedingt zunehmenden Expansionsbestrebungen getragen, die im beginnenden 21. Jahrhundert nur noch durch Großmächte oder Bündnissysteme von kontinentalen Dimensionen realisiert werden können. Dies ist aber auch der einzige gewichte Unterschied zu der Zunahme nationaler Spannungen, die im Gefolge der letzten schweren Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte.
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