Gefangen im All

Hintergrundbild: NASA

Manche Menschen wollen zum Mond und zum Mars. Problematisch ist, in welchem Zustand sie dort ankommen würden

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Astronauten sind wie Piloten und Journalisten. Allen drei Berufen ist gemeinsam, dass sie einen Nimbus besitzen und eine Strahlkraft haben, die sich bei nüchterner Betrachtung verflüchtigen. Bei Piloten denkt man sogleich an schnieke Uniformen, hübsche Stewardessen und Hotels in Cancún, und nicht an den schichtarbeitenden Luftbusfahrer zwischen München und Berlin. Der Begriff des Journalisten evoziert eher Watergate und Pulitzerpreis als Zeilengeld und Spiegel Online, eher Hersh und Greenwald als Joffe und Reichelt. Und Astronauten?

Star Wars. Star Trek. 2001 - Odyssee im Weltraum. Lems Meisterwerke. Fremde Welten. Gewaltige Schlachten. Unendliche Räume des Möglichen. "Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. […] C-Beams […], glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor." Ungezählte Erzählungen von Erkundung und Abenteuer, von Schönheit, Wundern und Heldenmut. Wie hält sich dagegen die Realität?

Das All: kein Ort zum Spazierengehen

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich in einer Konferenz des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums (DLR), denn ein seltsames Schicksal hat mich in die Raumfahrtforschung verschlagen. Das Weltall ist die extremste aller Umwelten. Laut dem Hitchhiker's Guide vermag der Mensch darin dreißig Sekunden zu überleben (mit Luftanhalten), und das dürfte hoch gegriffen sein. Ungeschützt können wir uns im All nicht aufhalten; wir bedürfen der Hüllen und Kapseln. Selbst diese aber sind eher gekennzeichnet durch das, was ihnen fehlt, als das, was sie bieten.

Schwerkraft. Schutz vor Weltraumstrahlung. Bewegung. Tag-und-Nacht-Rhythmus. Grün. Soziale Homöostase. All das braucht der Mensch zum Wohlbefinden. Gleichsam ex negativo illustrieren Raumfahrtzeuge, wie sehr der Mensch mit all seinen Körperteilen - und besonders mit seinem Gehirn - angewiesen ist auf seine Umwelt.

Trotzdem planen alle Raumfahrtnationen sowie die Unternehmen von Elon Musk und Jeff Bezos, noch in den nächsten zwei Jahrzehnten zum Mond zurückzukehren, und noch diesem Jahrhundert Menschen auf den Mars zu bringen. Man träumt davon, auf dem Mond eine dauerhaft bewohnte Basis zu errichten, von dort aus zu unserem Nachbarplaneten vorzustoßen. Menschen würden dann längere Zeit im Weltraum verbringen als jemals zuvor, und sie würden zum ersten Mal seit dem Apollo-Programm wieder den magnetischen Schutzschild der Erde verlassen. Was bedeutet das für die zukünftigen Astronauten?

Von Ionen durchsiebt

Die Internationale Raumstation (ISS) vermittelt davon eine Idee, allerdings auch kaum mehr. Da sie sich im unteren Erdorbit befindet, genießt sie noch den Schutz des Erdmagnetfelds vor der kosmischen Strahlung, deren Wirkung auf Gewebe wir am Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung untersuchen.

Astronauten auf der ISS erhalten zwar innerhalb eines Monat die erlaubte Jahresstrahlendosis für Arbeitnehmer (20 milliSievert); das aber ist gar nichts verglichen mit dem schätzungsweise 1 Sievert, das Marsreisende einstecken müssten. Die Strahlung schießt laufend wie winzige Schrotkugeln durch den Körper und zerhaut alle großen Moleküle, auf die sie trifft - also auch und besonders die DNA. Dadurch erhöht sie nicht nur die Krebsgefahr - die für Marsfahrer fast zur Garantie würde. Sie verursacht auch zahllose kleine Entzündungen, die zur Reparatur der Strahlenschäden entstehen. Im Gehirn senken die Entzündungen die Leistungsfähigkeit der Neuronen.

ISS. Bild: NASA

Dass dies nicht nur ein theoretisches Problem ist, zeigte sich vor einigen Jahren in der sogenannten NASA-Zwillingsstudie. Sie machte es sich zunutze, dass der Astronaut Scott Kelly, der seit März 2015 für ein knappes Jahr auf der ISS verbrachte, einen eineiigen Zwillingsbruder Mark hat, der auf der Erde blieb. Die Veränderung zahlreicher biologischer Parameter vor, während und nach der Flugzeit wurde bei beiden parallel untersucht. Zu denjenigen, die bleibend verändert waren, gehören die geistige Genauigkeit und Schnelligkeit, die bei Scott erstaunlicherweise erst nach der Landung zurückgingen und für die Beobachtungsperiode von einem halben Jahr gesenkt blieben.

Nun ist, identische Gene hin oder her, eine Stichprobe von je 1 nicht sehr beweiskräftig. Aber Tierexperimente untermauern die Sorgen. Wenn Mäuse experimentell relativ hohen Strahlungsdosen ausgesetzt werden, leiden ihre Lernfähigkeit und ihr Gedächtnis, es gibt chronische Entzündungen im Gehirn, und die Form der Neuronen ändert sich. Doch die in dieser Studie verwendeten Dosen waren erheblich höher als diejenigen, mit denen ein Astronaut zu rechnen hätte.

Kürzlich erst untersuchte die in diesem Feld führende Arbeitsgruppe von Charles Limoli (University of California), was geschieht, wenn man Mäuse so behandelt wie Marsfahrer, also mit gemischter Strahlung geringer Intensität über sechs Monate hinweg. Die Befunde bestätigen die Besorgnis: Im Hippokampus werden die Nervenzellen weniger aktiv und weniger lernfähig, und das pflanzt sich bis in die Lernfähigkeit der Tiere fort. Sie haben Schwierigkeiten, sich Dinge und Orte zu merken, und meiden den Kontakt mit Artgenossen. Wenn man dies von Mäusen auf Menschen übertragen darf und auf eine zweijährige Marsmission hochrechnet, kämen die Astronauten dort als sabbernde Idioten an. Und eine Lösung für das Problem ist nicht in Sicht, denn Abschirmungen sind immer schwer.

Völlig losgelöst von der Erde . . .

Dieses Problem, wie gesagt, stellt sich auf der ISS nicht. Andere hingegen lassen sich dort beobachten, wenn auch an einer kleinen Stichprobe und nahezu ohne die Möglichkeit, Gegenmaßnahmen auszuprobieren. Etwa Schwerelosigkeit. Für viele Menschen ein Traum, wird sie auf Dauer zum Problem. Die Muskeln bauen ab, die Knochendichte verringert sich. Auch das Herz-Kreislauf-System verändert sich, denn das viele Blut, das normalerweise in der Venenreserve der Beine versackt, strömt im All frei durch den Oberkörper; zum Ausgleich verringert der Körper die Blutmenge. Das Immunsystem verändert sich, verliert an Leistung. ISS-Astronauten leiden häufig unter kleinen Infekten, Herpes bricht zuverlässig aus.

Was davon liegt an der Schwerelosigkeit, was an der Enge, was am Schlafmangel? Es ist aufschlussreich, welche Modellparadigmata Wissenschaftler benutzen, um die Ursachen und mögliche Bekämpfung dieser Auswirkungen an größeren Probandenzahlen auf der Erde zu untersuchen.

Schwerelosigkeit etwa lässt sich in Parabelflügen imitieren, wenn auch nur für rund 20 bis 30 Sekunden. In dieser kurzen Zeitspanne, so besagte ein überraschender Befund von Stefan Schneider aus Köln, verbessert sich die Denkfähigkeit ein wenig. Erklären lässt sich das möglicherweise dadurch, dass sich die Erregbarkeit der Nervenzellen geringfügig erhöht, denn beobachtet wurde auch eine geringere Amplitude im EEG.

Orientierungslos durchs All

Langfristig jedoch könnte es anders aussehen. Von Astronauten und also aus echter Schwerelosigkeit gibt es bislang wenige Daten. Während ältere Untersuchungen sich vor allem auf das Bewegungs- und Gleichgewichtssystem konzentrierten, gibt es bislang eine jüngere Studie an zehn Kosmonauten, die vor, gleich nach durchschnittlich einem halben Jahr ISS-Aufenthalt, und mehrere Monate danach in den Magnetresonanztomographen geschoben worden waren. Da zeigte sich, dass der lange Aufenthalt in der fliegenden Aluminiumbüchse nicht nur die Motorik beeinträchtigt: In weiten Hirnbereichen, insbesondere solchen, die mit räumlicher Orientierung (Hippokampus, Schläfenlappen) haben, und erstaunlicherweise auch in allen Hauptknotenpunkten des Ruhezustandsnetzwerkes (beschäftigt mit dem Selbstbild), verringerte sich die Dicke der Hirnrinde, und erholte sich im Schläfenlappen auch nicht innerhalb der Beobachtungsperiode.

Da echte Raumfahrer rar sind, begnügt man sich in der Forschung mit allerhand Ersatzpersonal. Beliebt sind beim DLR zum Beispiel die Überwinterer auf den Antarktisstationen. Sie erfahren zwar die Schwerkraft, darüber hinaus aber wenig mehr als die ISS-Crew: Eingesperrtsein, Enge, fehlender Tag-Nacht-Rhythmus, sozialer Stress sind ihr Alltag. Die Folge auch hier: Die graue Substanz im Hippokampus wird dünner.

Ein anderes Modell sind Probanden, die einwilligen, Wochen und teils Monate in "head down bed rest" zu verbringen: Im Bett liegend, das Kopfende dabei um 6° bis 12° nach unten geneigt, um nachzuahmen, wie unter Schwerelosigkeit das Blut in den Kopf steigt. Auch sie unterliegen zwar der Schwerkraft, bewegen sich aber nie dagegen an. Es verwundert nicht, dass auch bei ihnen mit der körperlichen die geistige Fitness schwindet, was man auch im Gehirn erkennen kann, und sie mit der Zeit in verschiedenen Denktests nachlassen.

Die meisten Beeinträchtigungen verschwinden nach einiger Zeit wieder, wenn das Experiment beendet wird. Sie sind einfach Anpassungen, Zeugen der großen Plastizität des Gehirns: Es passt seine Fähigkeiten der Umwelt an, in der es sich gerade befindet. Im Bett, auf der ISS oder in einer Antarktisstation (dort sogar wörtlich) ist diese Umwelt das, was in der Forschung mit dem schicken Akronym ICE benannt wird: isolated confined extreme. Ohne die soziale und kognitive Anregung, die weiträumige Bewegung, die natürlichen Reize, derer das Gehirn zu seiner vollen Funktionsfähigkeit bedarf, baut es ab wie ein eingegipster Muskel.

Dann lieber bei Nacht in Stammheim

Die Wissenschaftler, welche die Bedingungen eines Raumflugs erforschen, geben sich folglich darüber keinen Illusionen hin: Das Innere eines Raumschiffs ist kein Erster-Klasse-Flug, es ist nicht einmal Economy. Irdische Raumfahrtanaloga sind demnach so unerfreuliche Situationen wie wochenlanges Stillliegen, wie eine Überwinterung in der Antarktis.

Im Gespräch schlug ich ein weiteres Modell vor, über das erstaunlich wenig geforscht wird: Gefängnisinsassen. Mangelnde Bewegung, beengter, reizarmer Raum, soziale Isolation, und - Stichwort bed rest - die Neigung von Gefangenen, durchschnittlich sechs Stunden während der Wachzeit (!) im Bett zu liegen. Die Zustände in Gefängnissen ähneln denen auf der ISS, und tatsächlich zeigt die anscheinend einzige Langzeitstudie an Häftlingen, dass die Kognition nachlässt. Hätte man hier nicht ein buchstäblich naheliegendes, dabei günstiges Modell der Raumfahrt, mit zahllosen Probanden?

Aber mein Gesprächspartner widersprach: Sein Vater arbeitet in der JVA Stammheim (ja, ausgerechnet). Mein Gegenüber schwärmte mir regelrecht vor von Ausbildungsprogrammen, Freigang, Zeiten mit offenen Zellentüren für gegenseitige Besuche, Resozialisierungsmaßnahmen. Zumindest in deutschen Gefängnissen, da waren wir uns schließlich einig, geht es den Häftlingen erheblich besser als Astronauten im All.

Aber der Nimbus bleibt.