Genossen unter Zugzwang

Die nordrhein-westfälische SPD will nun doch nicht gegen die Einführung von Studiengebühren klagen. Die umstrittene Abgabe wird in den Reihen der Sozialdemokraten offenbar immer beliebter

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Die Fronten schienen geklärt, das weitere Vorgehen war bereits abgesprochen. Nachdem die neue Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die Einführung von Studiengebühren beschlossen und im März im Parlament verabschiedet hatte, plante die rot-grüne Opposition eine gemeinsame Klage vor dem Landesverfassungsgericht in Münster.

Doch daraus wird nun nichts. Die Sozialdemokraten wollen Studiengebühren in Zukunft lieber politisch bekämpfen und von juristischen Schritten absehen. Die grüne Landtagsfraktion kann allein keine parlamentarische Verfassungsbeschwerde einreichen, da ihr die erforderliche Zahl von Abgeordneten fehlt. Folglich müssen die Studierenden von mindestens 27 der 33 staatlichen Universitäten und Fachhochschulen nun bis zu 500 Euro pro Semester zahlen. Wenn sie Studienanfänger sind, gilt die Regelung bereits zum bevorstehenden Wintersemester, alle anderen werden ab dem Sommersemester 2007 zur Kasse gebeten.

Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz

Allein die Studenten der Kunstakademie Düsseldorf brauchen sich darüber keine Gedanken zu machen. Die renommierte Hochschule hat sich als einzige Institution klar gegen die Einführung einer entsprechenden Abgabe ausgesprochen, in den fünf restlichen Bildungstempeln wird noch diskutiert. An genau dieser Stelle hätte die Verfassungsbeschwerde einhaken können, denn hier verstößt die Landesregierung nach Einschätzung verschiedener Experten gegen den Gleichheitsgrundsatz. Die grüne Landtagsfraktion stellte Anfang des Jahres ein Gutachten des Frankfurter Verfassungsrechtlers Georg Hermes vor, in dem schon der Beschluss der Landesregierung, den Hochschulen selbst die Entscheidung über die Einführung von Studiengebühren zu überlassen, als nicht verfassungsgemäß kritisiert wurde.

Zum einen widerspricht er dem Grundsatz, dass der parlamentarische Gesetzgeber in grundrechtsrelevanten Bereichen, zu denen insbesondere Fragen des Zugangs zur Hochschulausbildung zählen, die wesentlichen Fragen selbst regeln muss (Vorbehalt des Gesetzes). Zum anderen führt er zu einer Ungleichbehandlung der Studierenden/Studienbewerber. Die Entscheidung über Einführung und Höhe von Studiengebühren gehört nicht zu den eigenen Angelegenheiten der Hochschulen, über die diese autonom entscheiden können. Die Hochschulautonomie stellt deshalb keinen Rechtfertigungsgrund dar, der eine Ausnahme von dem Vorbehalt des Gesetzes und eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte.

Georg Hermes

Wenige Monate zuvor hatte Wilhelm Achelpöhler, Fachanwalt für Verwaltungsrecht aus Münster, im Auftrag des bundesweiten Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren bereits ein umfangreiches Gutachten vorgelegt, in dem vor allem der Bruch des Vertrauensschutzes für bereits immatrikulierte Studenten moniert wurde. Für verfassungsrechtlich bedenklich erklärte Achelpöhler auch die zusätzliche Belastung von BAföG-Empfängern oder die zu erwartende Benachteiligung für ausländische Studierende. Amin Benaissa, Geschäftsführer des Aktionsbündnisses, kündigte daraufhin Ende November 2005 an: „Wenn die Gesetzentwürfe nicht zurückgezogen werden, werden wir das Land mit einer Klagewelle überziehen.“

Das Hilfsangebot der SPD: Gedulden Sie sich bis zur nächsten Landtagswahl!

Benaissa und den Seinen steht der Gang zum Gericht frei, doch mit parlamentarischer Unterstützung werden sie nun nicht mehr rechnen können. Anfang der Woche gab die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Landtagsfraktion, Carina Gödecke, in Düsseldorf eine denkwürdige Erklärung ab.

Eine mögliche Klage vor dem Landesverfassungsgericht in Münster hätte sich nicht grundsätzlich gegen Studiengebühren richten können, sondern allenfalls gegen die mangelhafte Ausgestaltung des Darlehensmodells bei der NRW-Bank. Das ist uns politisch zu wenig. Die SPD-Fraktion betätigt sich nicht als Steigbügelhalter, ein fehlerhaftes Studiengebührengesetz nachträglich vor Gericht verfassungsfest zu machen. Für uns Sozialdemokraten bleibt klar: Wir kämpfen dafür, dass die SPD wieder Regierungsverantwortung übernimmt. Das ist der einzige Weg, Studiengebühren in Nordrhein-Westfalen wieder abzuschaffen.

Carina Gödecke

Die betroffenen Studenten durften sich in den vergangenen Monaten viel Aufmunterndes über die Notwendigkeit von Studiengebühren anhören und können mit der Versicherung, dass die eingenommenen Gelder ausschließlich zur umgehenden Verbesserung von Forschung und Lehre eingesetzt werden, mittlerweile die Unterrichtsräume, Wohnheime und Mensen tapezieren. Doch der Motivationsschub, der da aus den sozialdemokratischen Reihen auf den akademischen Nachwuchs zuschwappt, ist so noch nicht da gewesen. Dabei liegt es doch nahe, die Gemeinschaft der Unzufriedenen auf die nächste Wahl zu vertrösten, zumal diese aller Voraussicht nach erst im Frühjahr 2010 stattfindet.

Bis dahin dürfte eine zahlende Studentengeneration die Hochschulen schon wieder verlassen und ihnen erkleckliche Mehreinnahmen beschert haben. Im benachbarten Niedersachsen werden die Studierenden derzeit zur Überweisung von 735,88 Euro aufgefordert – neben den Gebühren kassieren die Hochschulen eben auch noch Verwaltungskosten ab, über deren abstruse Höhe bei Gelegenheit ebenfalls diskutiert werden könnte.

Die nordrhein-westfälische Grünen-Fraktionschefin Sylvia Löhrmann hält die Entscheidung ihres potenziellen Koalitionspartners unter diesen Gesamtumständen für „fatal“. In einer ersten Stellungnahme erklärte Löhrmann die juristischen Bedenken für „nicht stichhaltig“ und „vorgeschoben“. Es sei „problemlos möglich gewesen“, eine gemeinsame Klage anzustrengen und zum Erfolg zu führen.

Von der Regierungsbank setzte es denn auch reichlich Häme für die wankelmütigen Genossen. Der hochschulpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Michael Brinkmeier, vermutete, die SPD habe wohl inzwischen eingesehen, dass ihre Kritik nicht haltbar sei, und wagte anschließend eine interessante Prognose.

Ich gehe jede Wette ein. Innerhalb der nächsten fünf Jahre werden in SPD-geführten Bundesländern Studiengebühren eingeführt. Ich bin jetzt schon auf die Erklärungsversuche der Genossen an Rhein und Ruhr gespannt.

Michael Brinkmeier

Absehbare Kehrtwende

Nach Abzug der parteipolitischen Rhetorik stellt sich in der Tat die Frage, ob die Sozialdemokraten nicht tatsächlich dazu tendieren, ihr grundsätzliches Nein zu Studiengebühren noch einmal zu überdenken. Von einer geschlossenen Haltung kann jedenfalls längst nicht mehr die Rede sein.

Bereits Anfang 2005 hatte sich in den ostdeutschen Ländern aufgrund der angespannten Kassenlage eine Trendwende abgezeichnet. Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck plädierte seinerzeit dafür, der Diskussion um eine erfolgreiche Bildungspolitik „keine Denkverbote“ aufzuerlegen, eine „einheitliche Regelung“ für ganz Deutschland zu suchen und über „Modelle einer nachgelagerten Studienfinanzierung“ nachzudenken. Platzecks Kollege und Parteifreund Klaus Wowereit war noch schneller. Vor der Hochschulrektorenkonferenz erklärte der Regierende Bürgermeister von Berlin im Mai 2004:

Aber wenn wir Spitzen-Unis wirklich wollen, dann müssen wir auch eine heilige Kuh schlachten: Ich meine den Gedanken, dass Studiengebühren sozial ungerecht sind. Dieser Irrglaube hält sich leider hartnäckig. (...) Studiengebühren sind dann nicht unsozial, wenn alle studieren können, die fähig sind. Das heißt: Es muss genug Stipendien geben.

Klaus Wowereit

Wowereits Finanzsenator Thilo Sarrazin, ebenfalls SPD, verweist bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf den Zugzwang, unter den die Länder geraten, die noch keine allgemeinen Studiengebühren eingeführt haben, und befürchtet, dass Berlin von einem Studentenansturm „überschwemmt“ wird. Wenn es nach ihm ginge, könnte ein Teil des eingenommenen Geldes sogar zur Finanzierung des maroden Berliner Haushalts zweckentfremdet werden.

In Schleswig-Holstein beschloss die große Koalition derweil unter persönlicher Mithilfe der dortigen Sozialdemokraten, das ausdrückliche Verbot von Studiengebühren aus dem neuen Hochschulgesetz zu streichen (Viele Manager, keine politischen Studenten und nachgelagerte Studiengebühren).

Auch in Bremen und Rheinland-Pfalz üben sich die Genossen im Aufspüren von Hintertüren. Beide Regierungen wollten 500 Euro von den Studierenden erheben, die ihren ersten Wohnsitz nicht innerhalb der Landesgrenzen haben. Dem ambitionierten Noch-Ministerpräsidenten Kurt Beck, der seiner Partei bei der nächsten Bundestagswahl „35 plus ein dickes X“ bescheren möchte, passt die „Landeskinderregelung“ zweifellos gut ins Bild des jovialen Herbergsvaters, doch weiter nördlich hat das Bremer Verwaltungsgericht die Initiative der Bürgerschaft als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz gewertet und damit möglicherweise einen Präzedenzfall geschaffen.

Anstrengende Alternativen und einfache Lösungen

Das streckenweise Einlenken der Sozialdemokraten, das bald zum Kurswechsel ausarten könnte, hat naheliegende Gründe. Die in SPD-geführten Ländern eingerichteten Studienkonten, die bei Überziehung zur Erhebung von Langzeitstudiengebühren führen, sind offenbar nicht geeignet, die riesigen Finanzlöcher der Hochschulen zu füllen beziehungsweise die Kosten für eine ebenso grundlegende wie effiziente Reform des gesamten Bildungswesens zu decken.

Um diese erfolgversprechend umzusetzen, gäbe es durchaus Alternativen zu den viel diskutierten Beiträgen. Neben einer – allerdings nicht weniger umstrittenen - Steuerfinanzierung oder der verstärkten Einwerbung privatwirtschaftlicher Zuschüsse wären hier kostenneutrale Modelle einer modernen Fakultätsentwicklung zu nennen, deren mögliche Zielrichtungen bereits im Frühjahr 2003 im Wissenschaftszentrum Bonn erörtert wurden.

Die Studentenstiftung Dresden unternehmen selbst!beteiligen geht das Problem als erste ihrer Art von einer ganz anderen Seite an. Hier wird mit viel Eigeninitiative sowie privaten Geldern von Studenten, Absolventen, hilfsbereiten Bürgern und Unternehmen versucht, einige drängende Probleme direkt zu lösen. Bis dato hat die Initiative ein Forum „Studium mit Kind“ ins Leben gerufen, die Durchführung zusätzlicher Tutorien für Maschinenbaustudenten erwirkt und dafür gesorgt, dass die Dresdner Unibibliothek seit 2003 einmal im Monat auch am Sonntag öffnet. Allein für dieses Projekt müssen pro Sonntag 720 Euro aufgebracht werden, um das Bibliothekspersonal und die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zu finanzieren.

Diese Bemühungen sind nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, aber sie zeigen immerhin, dass der gemeinsame Wille zu konstruktiven Veränderungen einiges bewegen und es in vielen Fällen lohnen kann, nicht immer die vermeintlich einfachste Lösung zu wählen.

Den Studierenden wäre deshalb am ehesten damit gedient, wenn die Parteien gerade den Prozess der Entscheidungsfindung nutzen würden, um gelegentlich auch alternative Lösungsansätze in ihre Überlegungen einzubeziehen. Das aktuelle Beispiel der nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten scheint allerdings wieder einmal darauf hinzudeuten, dass es längst nicht mehr um die Sache, sondern nur noch darum geht, den eigenen Imageschaden so gering wie möglich zu halten. Wenn demnächst die gesamte SPD für Studiengebühren eintritt, ist eben der „Zugzwang“ schuld.