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Geometrie der Angst: Joseph Loseys "The Damned"

The Damned

Der untypischste aller Hammer-Filme, wiedergesehen im Schatten der Corona-Pandemie (Teil 1)

Manche Filme sind zeitlos gut, und doch sieht man sie immer wieder neu, weil die Umstände sich verändern und mitunter Ängste hervorrufen, die man längst überwunden glaubte. The Damned, eine Hammer-Produktion über nukleare Albträume, erkältungsresistente Kinder und eine Demokratie auf der Intensivstation, ist so ein Film.

Gesundheit vor Grundrechten

Warum fällt einem zu einem Ereignis wie der Corona-Krise ein bestimmter Film ein und andere nicht, obwohl sie genauso viel dazu zu sagen hätten? Meistens weiß man es nicht genau. In diesem Fall kann ich darüber Auskunft geben. Auslöser war ein Leserbrief in einer Münchner Tageszeitung am Beginn der Pandemie. Ein Herr war mit Familie zu einer Wanderung in die Berge gefahren, unterwegs von der Polizei kontrolliert und dann, beim Picknick in freier Natur und unter Einhaltung der Abstandsregeln, in geringer Höhe von einem Polizeihubschrauber überflogen worden.

Der Hubschrauber überwachte die Einhaltung der von Landesvater Söder verfügten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Kurz zuvor hatte man von der Staatsregierung erfahren, welche modernste Technik bei solchen Kontrollflügen zum Einsatz kommen, und dass man da keine Kosten scheuen werde. Vielleicht war es so, dass die Polizeibeamten kein Vertrauen in diese Technik hatten und sich die Sache lieber aus der Nähe anschauten. Fürsorge kann man da schon mal als Machtdemonstration missverstehen. Die kleinen Kinder des Leserbriefschreibers jedenfalls hatte der Hubschrauber nachhaltig verstört.

Ein Fan des als Held der Volksgesundheit mit traumhaften Zustimmungswerten ausgestatteten Landesvaters war der Mann nicht. Ein Söder-Bild, teilte er mit, werde er nicht bei sich zuhause aufhängen. Die Resonanz war überwiegend negativ. Gesundheit vor Grundrechten, hieß es in einem Kommentar. Jemand forderte Solidarität als Wesensmerkmal der Demokratie ein; ob mit der Polizei oder mit der Staatsregierung, die nach Meinung eines Kommentators "alles, aber auch alles richtig gemacht" hatte, blieb unklar.

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Inzwischen weiß man, dass man in einer Pandemie wie dieser, ausgelöst von einem neuen und daher unerforschten Erreger, schon froh über eine Regierung sein kann, die keine schwerwiegenden Fehler macht und diese, wenn sie ihr doch unterlaufen, offen zugibt und klar benennt, statt sich in Allgemeinplätze zu flüchten ("Mein Platz ist in Bayern"-Söder bei der Pressekonferenz zum Test-Fiasko an Bayerns Autobahnen: "Nichts ist perfekt."). Dem Vater, der sich um das seelische Wohl seiner Kinder sorgte, half das damals wenig. Er wurde abgekanzelt, als habe er sich der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht. Weil der Mann einen Doktortitel hat, wurden gleich noch ein paar Vorurteile gegen Akademiker ventiliert.

Mir fiel dazu nicht Figures in a Landscape ein (oder erst etwas später), in dem Losey die Bedeutung des Hubschraubers konsequent zu Ende denkt, sondern ein spektakulärer Stunt in The Damned. Oliver Reed kämpft mit Männern in Schutzanzügen und flieht in einem Jaguar, verfolgt von einem Helikopter. Das sieht gefährlich aus. Man muss kein Kind sein, um da Angst zu kriegen. Der Jaguar fährt über eine Brücke, durchbricht das Geländer und stürzt ins Meer. Für den Stuntman, der mittlerweile am Steuer saß, hätte das böse enden können, weshalb der erschrockene Losey solche Szenen danach nicht mehr drehen wollte.

Beim genauen Hinschauen erkennt man, dass neben dem Royal Victoria Hotel Mitglieder der Filmcrew und Schaulustige stehen, die da eigentlich nicht sein sollten (die Kinder hatten schulfrei gekriegt, um das Spektakel miterleben zu können). Weiter hinten sind Autos geparkt, die dort abgestellt sind, weil die Brücke für den Stunt gesperrt wurde. Das ist wohl den Kompromissen geschuldet, die man machen muss, wenn das Budget begrenzt ist. Störend ist es nicht. Es fügt sich gut ein in einen Film, in dem die Fiktion auf die Wirklichkeit trifft und der Ausnahmezustand zur neuen Normalität geworden ist.

Helikopter-Solidarität

Wenn die Gaffer weniger eng beisammen stehen würden, könnte man die Momentaufnahme von der Brücke beim Royal Victoria Hotel nehmen, um zu illustrieren, was Angela Merkel scheinbar meinte, wenn sie in vom Fernsehen übertragenen Verlautbarungen das Wort "Solidarität" bemühte: Abstand zu Fremden halten und aus der Entfernung dabei zusehen, wie Italien beispielsweise in den Abgrund rauscht, und mit Italien die Europäische Union, für die in Merkels Reden der ersten Corona-Monate kein Platz blieb. Oliver Reed ist schließlich selber schuld, fährt er doch in einem Auto, das er nicht bezahlt hat, lebt also über seine Verhältnisse wie die Südeuropäer, die immer nur unser sauer erspartes Geld wollen.

Solidarität allerdings, habe ich in Vor-Corona-Zeiten gelernt, hat mit Zusammenhalt und aktiver Unterstützung zu tun, nicht mit passivem Weiter-Weg-Stehen, weil man da - vielleicht - nicht infiziert wird. Theoretisch sieht das die EU genauso. Paragraph 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union enthält eine Solidaritätsklausel [3], die vorsieht, dass die Mitgliedsstaaten gemeinsam handeln und sich im Katastrophenfall unterstützen. Um Verzögerungen zu vermeiden, gibt es das Internet-basierte Common Emergency Communication and Information System (CECIS). Wer die Solidaritätsklausel in Anspruch nimmt, kann da mit den anderen Staaten in Echtzeit Informationen austauschen.

Am 26. Februar bat Italiens Premierminister Giuseppe Conte um Hilfe. Im CECIS wurde hochgeladen, was sein Land dringend brauchte (Schutzausrüstung, Beatmungsgeräte), um das Sterben zu verringern. Niemand antwortete. Der für das Krisenmanagement zuständige EU-Kommissar heißt Janez Lenarčič. Der Guardian [4] zitiert ihn mit dem Satz, dass das Schweigen nicht an einem Mangel an Solidarität gelegen habe, sondern an einem Mangel an Ausrüstung. Die anderen Länder hatten selber nichts, oder viel zu wenig. Noch warte ich auf ein Interview, in dem der Bundesgesundheitsminister gefragt wird, wie sich das mit seiner Behauptung vom 27. Januar verträgt, dass Deutschland gut vorbereitet sei, oder mit der vom 12. Februar [5].

Ob Contes mit peinlichem Schweigen bedachtes Hilfeersuchen etwas damit zu tun hatte, dass in Jens Spahns Einlassungen zum Thema das "gut vorbereitet" im März durch ein "Wir haben die Situation vom ersten Tag an sehr ernst genommen" ersetzt wurde [6]? Bei einer Pandemie, sagen die Experten, kann man es nur falsch machen. Wer früh handelt wird als Alarmist, Totengräber der Wirtschaft und Spaßbremse verschrien (in Bayern wurden erst noch Starkbierfeste gefeiert, und niemand wollte den Bürgern die Faschingsferien mit Après-Ski in Tirol vermiesen, ehe die Regierung - nun ja - "alles, aber auch alles richtig" machte).

Wer dagegen abwartet muss sich später vorwerfen lassen, zu lange untätig geblieben zu sein. Nachher ist man sowieso grundsätzlich schlauer. Angesichts einer Situation, die zunächst niemand ernst nahm (mit einem "ersten Tag", der sich mit neueren Erkenntnissen immer weiter nach hinten verschob), wäre es allzu billig, einzelnen Politikern den schwarzen Peter zuzuschieben. Verklärung und Heldenverehrung müssen aber auch nicht sein. Bayern, wo der Ministerpräsident regelmäßig vor die Mikrophone tritt, um weiß-blaue Höchstleistungen im Kampf gegen das Virus zu verkünden, hat die meisten Corona-Toten pro 100.000 Einwohner und neben Nordrhein-Westfalen die meisten bestätigten Infektionen.

Daraus zu schließen, dass Söder versagt hat, wäre ungerecht, weil sich die einzelnen Bundesländer, nicht nur der Unterschiede in Fläche, geographischer Lage und Bevölkerungszahl wegen, schlecht bis gar nicht vergleichen lassen. Umgekehrt braucht man aber einiges an gutem Willen, um ihm - auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Statistiken - zu bescheinigen, dass er die Aufgabe besser erledigt hat als andere Ministerpräsidenten, wie er bei seinen öffentlichen Auftritten, medial versiert, gerne suggeriert.

Mein Land, mein Geld, meine Gesundheit

Im Artikel des Guardian ist nachzulesen, wie europäische Regierungen (die deutsche inklusive) das Virus zuerst unterschätzten und sich dann in einen unkoordinierten nationalen Protektionismus flüchteten, als hätten sie vergessen, dass es die EU gibt, und wofür. Die Kommission listet in ihrer Zeitleiste mit den EU-Maßnahmen [7] die erste Sitzung des Gesundheitssicherheitsausschusses am 17. Januar auf (zur Besprechung eines gemeinsamen Vorgehens), versäumt aber zu erwähnen, dass nur 12 von 27 Mitgliedsstaaten daran teilnahmen.

Ein Ausschuss, der Empfehlungen zum Schutz der Gesundheit geben soll, nützt nicht viel, wenn die einen nicht hingehen, sich die anderen auf nichts einigen können und nationale Scheuklappen den Blick einschränken. Belgien und die Niederlande kauften in der Folge Inhaltsstoffe für dringend benötigte Medikamente auf, die man bei den europäischen Nachbarn besser hätte produzieren können. Frankreich und Deutschland (und viele andere Länder) belegten Schutzausrüstung mit einem Exportverbot. Grenzen wurden einseitig geschlossen, statt sich vorher mit den Nachbarn zu beraten und gemeinschaftlich zu handeln.

Mein Land, mein Geld, meine Gesundheit (0 Bilder) [8]

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Maßnahmen zur Grenzsicherung bleiben in The Damned dezent im Hintergrund und sind doch gut sichtbar, wenn am Horizont Kriegsschiffe auftauchen. Losey hatte weder das Geld noch die Möglichkeiten, so etwas zu organisieren. Es war wohl so, dass die Royal Navy durch den Ärmelkanal fuhr, als er vor Ort war. Er fing mit der Kamera ein, was sich umsonst mitnehmen ließ und zu der Geschichte passte, die er erzählen wollte. In Corona-Zeiten hat das eine unheimliche Aktualisierung erfahren.

Wie Geisterschiffe liegen vor der Bucht von Weymouth, wo Losey drehte, Kreuzfahrtriesen [10] vor Anker, die ohne Virus im Mittelmeer oder in der Karibik unterwegs wären. Umweltschützer beobachten das Phänomen mit Sorge. Zur Aufrechterhaltung eines Notbetriebs sind die Tourismusmonster gezwungen, ihre Generatoren laufen zu lassen und tragen so weiter zum Ausstoß von Treibhausgasen bei. Da im Lockdown nichts verdient wird ist bereits abzusehen, dass später das Geld fehlen wird, um schwimmende Dreckschleudern so umzurüsten, dass sie umweltverträglicher werden.

So erinnern einen die Geisterschiffe von Weymouth auch daran, dass Experten seit Jahren vor einer Pandemie warnen, ausgelöst durch den Raubbau an der Natur und die Zerstörung der Lebensräume von Wildtieren, die deshalb näher an den Menschen heranrücken, was das Überspringen eines Virus zunehmend wahrscheinlich macht. Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Mit Blick auf die Zukunft scheint es daher angebracht, die handelnden Politiker nicht nur danach zu beurteilen, wie erfolgreich sie mit Ad-hoc-Maßnahmen an Symptomen herumdoktern, sondern wie entschlossen sie die Ursachen der aktuellen Krise bekämpfen.

Als Klimakanzlerin und Retterin der Eisbären ist Angela Merkel gescheitert. Wir wollen hoffen, dass sie bei der Rettung der EU eine bessere Figur macht, nachdem sie und andere Regierungschefs erkannt haben, dass das Überleben des (für die deutsche Wirtschaft unverzichtbaren) Binnenmarktes auf dem Spiel steht. Merkel und Finanzminister Scholz haben die schwäbische Hausfrau in den Ruhestand verabschiedet, und wir haben den rekordverdächtigen "Mein Land, mein Geld"-Gipfel hinter uns, auf dem länger und um mehr Milliarden gefeilscht wurde als je zuvor.

Als Sieger gerierten sich danach zwei Gruppen, die in einem Leitartikel der Süddeutschen Zeitung (21.7.) als "die Rechtsstaatsignoranten" und "die national-populistischen Erziehungsbeauftragten" charakterisiert wurden. Die Autokraten um Victor Orbán werden, so steht zu befürchten, weiter finanziell unterstützt, während sie die Demokratie aushöhlen. Die Pädagogen um Kurz und Rutte behandeln die Südstaaten mit belehrender Herablassung und wissen, was richtig ist. Andere wissen es nicht und müssen darum gemaßregelt werden.

Losey ist auch da nichts weniger als visionär. Mit dem von Alexander Knox gespielten Bernard bietet er eine Figur auf, die den Rechtsstaatsignoranten und den Pädagogen in einer Person vereint. Wissenschaftler ist Bernard obendrein, mit der Expertise für das Überleben der Menschheit, oder wenigstens eines kleinen Teils davon. Knox wie Losey waren in England, weil sie in den USA keine Arbeit mehr fanden. Als Opfer des McCarthyismus hatten sie ein feines Gespür dafür, wie es ist, wenn unter Berufung auf die Sicherheit Grundrechte ausgehebelt werden. In The Damned ist es - vordergründig - die Gesundheit, die bedroht ist.

Oliver Reed rast übrigens durch die Straßen der Hafenstadt, über die, zeitgenössischen Quellen zufolge, im Sommer 1348 die Pest mit einem Schiff nach England kam, nachdem es zuvor Gerüchte über eine mysteriöse, irgendwo im Osten ausgebrochene Krankheit gegeben hatte. In The Damned ist der "Schwarze Tod" wieder da. Dieses Mal sitzt er allerdings im Hubschrauber, trägt einen Schutzanzug und sieht Menschen aus sicherer Distanz beim Sterben zu, weil sich einiges umgedreht hat in diesem Film und die Demokratie von einem tödlichen Virus befallen wurde.

Kunst und Kur im Badeort

Mit einem eindrucksvollen Kameraschwenk fängt es an. In einer Kreisbewegung sehen wir das Meer, karg und abweisend wirkende Kalksteinklippen und, nach einem vertikalen Schwenk nach unten, verkohlte Körperteile, die man, wenn überhaupt, erst als Kunstwerke erkennt, wenn ein Pferdekopf und die Gestalt eines gefallenen Mannes im Bild erscheinen, auf Gerüsten zur Bearbeitung. Die Skulpturen, informiert ein Vorspanntitel, sind von "Frink". Anstelle der Namen Christopher Lee (Dracula) oder Peter Cushing (Frankenstein) der Schriftzug einer von Auguste Rodin, Alberto Giacometti und Germaine Richier beeinflussten Avantgarde-Künstlerin.

Die Firma Hammer Film Production hatte in den vergangenen Jahren mit Invasionen aus dem Weltall, sehr rotem Leinwandblut, brave Hausfrauen zu sexuellem Leben erweckenden Vampiren und aus Leichenteilen gebastelten Monstern Furore gemacht. Man muss nicht dabei gewesen sein, um sich ausmalen zu können, wie James Carreras, dem mehr an knalligen Plakaten, reißerischen Titeln, großbusigen Heldinnen und anderen Verkaufsargumenten dieser Art als an Kunst und Inhalten interessierten Seniorchef des Unternehmens, die Galle hochkam, als ihm dieser Filmanfang vorgeführt wurde.

Kunst und Kur im Badeort (0 Bilder) [11]

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Unter Hammer-Historikern gilt The Damned (US-Titel: These Are The Damned) als ein großes Missverständnis, entstanden aus der Begegnung eines Regisseurs und eines Studios, die nicht zueinander passten. Dabei herausgekommen ist ein grandioser, auf intelligente Weise subversiver Film, angesiedelt zwischen Genre- und Arthouse-Kino und in kein Schema einzuordnen. Wenn so etwas das Resultat eines Missverständnisses ist: Bitte mehr davon!

James Bernard, Hauskomponist der Firma Hammer, hat zum einleitenden Kameraschwenk eine minimalistische Eröffnungsmusik geschrieben, die mit hohen Flötentönen beginnt, um sich dann, die Geräusche der Seevögel und der anbrandenden Wellen aufnehmend und unter Einsatz von Posaunenklängen (bei Bernard immer ein Zeichen von Gefahr), zu etwas auszuweiten, das eine Stimmung voller Ungewissheit und vager Bedrohung erzeugt. Vor allem evoziert diese Musik ein Gefühl der Einsamkeit.

Der erste Schwenk ist programmatisch. Wir befinden uns vor dem Atelier einer Bildhauerin, die so heißt wie die nordische Göttin der Liebe und der Fruchtbarkeit: Freya. Von Anfang an teilt Loseys Kamera die Perspektive einer mit dubiosen Machenschaften der Behörden konfrontierten, mehr durch die Umstände als aus Absicht politisch werdenden Kunst. Im Felsen unter dem Atelier, wie wir bald erfahren werden, ist ein Labor versteckt, in dem die Regierung einen geheimen Plan verfolgt, mit in Zwangsquarantäne gesteckten Menschen. Die Einsamkeit ist eines der Themen dieses Films.

Von der ersten Einstellung an sucht Losey den dramatischen Kontrast. Darum schneidet er von den Klippen der Isle of Portland, einem hinaus in den Ärmelkanal ragenden Kalksteinfelsen, auf die in einer gut geschützten Bucht liegenden Esplanaden von Weymouth, vom Meer aus gesehen. Weymouth in der Grafschaft Dorset, über eine Landbrücke namens Chesil Bank mit der Halbinsel Portland verbunden, ist einer der ältesten englischen Urlaubsorte. Der Duke of Gloucester ließ sich hier, des milden Klimas wegen, eine Residenz erbauen.

Gloucesters Bruder, König George III., war kein stabiles Genie wie Donald Trump, sondern zeigte im November 1788 erste Anzeichen einer geistigen Instabilität, möglicherweise als Folge einer Stoffwechselerkrankung. Die Vorbereitungen, den Thronfolger als Regenten einzusetzen, waren weit gediehen, als es dem König wieder besser ging. Wirklich gesund war er nicht. Dr. Crane, Verfasser des Werkes Cursory Observations on Sea-Bathing, hatte die Seeluft, das Baden im Meer und das Trinken von Salzwasser (nicht von Desinfektionsmitteln, Donald!) als Heilmittel für Krankheiten aller Art ausgemacht.

Der Doktor empfahl einen Kuraufenthalt in Weymouth, seiner Meinung nach dem besten Seebad im Vereinigten Königreich; zufälligerweise war Weymouth auch die Heimatstadt von Dr. Crane. Der Duke of Gloucester stellte dem Bruder sein Haus zur Verfügung. Im Juni 1789 kam der König mit Königin, vier Prinzessinen und seinem Hofstaat angereist, der sich auf die umliegenden Gebäude verteilte. In Weymouth war die Begeisterung groß. Man hängte Spruchbänder mit "God Save the King" auf, trug Kappen oder - als Bademeister - Taillengurte mit dieser Aufschrift.

George III. fühlte sich in Weymouth so wohl, dass er im Sommer 1791 wiederkam und danach (mit zwei Ausnahmen) jedes Jahr bis 1805. Die Anwesenheit des Königs lockte Touristen an, die etwas vom royalen Glanz abbekommen wollten. Reiche Kaufleute ließen sich in seiner Nachbarschaft eigene Häuser errichten. Die aus Terrassen im georgischen Stil bestehenden, zwischen Ende des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts erbauten Esplanaden gegenüber der Seepromenade, sind eines der Wahrzeichen der Stadt.

Am Abgrund

Ein touristischer Anziehungspunkt ist die Jubilee Clock, die man 1887 auf die Promenade stellte, um des 50. Jahrestages der Thronbesteigung von Königin Victoria zu gedenken. Losey nimmt sich Zeit, das Monument von oben bis unten abzuschwenken und bleibt dabei seinem Prinzip der Kontrastierung treu. Man sieht das Porträt der Königin und hört dazu den Rocksong, den James Bernard für die Biker-Gang von Weymouth komponiert hat. Diese Komposition ist von jeder Form von Authentizität befreit, mehr Zitat als originäre Rockmusik, und doch seltsam wirkungsvoll.

Wenn die Kamera beim Sockel ankommt, erscheint ein amerikanischer Tourist im Bild. Hinter dem Uhrturm taucht eine junge Frau auf. Zwischen den beiden stehen vier alte Damen, ohne Abstand, weil sie von Risikopatienten und vulnerablen Teilen der Bevölkerung noch nichts wissen. Eine der Damen schaut in einem Reiseführer nach, was das für ein Ding ist, das sich da vor ihr in die Höhe reckt. Auch als Nicht-Nostalgiker können einen wehmütige Gefühle beschleichen, wenn man das vor dem Hintergrund der Ausgangsbeschränkungen und Grenzschließungen sieht, mit denen Länder versuchen, sich vor dem Corona-Virus zu schützen.

Am Abgrund (11 Bilder) [13]

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The Damned

Springen wir 25 Leinwandminuten nach vorne. Alexander Knox, der in Sleeping Tiger, Loseys erstem englischen Film, als Psychiater den Versuch unternahm, den kriminellen Jugendlichen Dirk Bogarde zu reformieren, wird von seinem Chauffeur beim Edgecliff Establishment vorgefahren, einer mit Stacheldraht umzäunten und von Wachmännern kontrollierten Anlage. Für Unberechtigte ist der Zutritt streng verboten. Knox alias Bernard war kürzlich in London, um mit "dem Minister" zu konferieren. Wie man sich das vorzustellen hat weiß man, wenn man Modesty Blaise (1965) gesehen hat.

In Loseys Antwort auf Antonioni und James Bond spielt Knox den "Minister" mit demselben schottisch angehauchten Akzent, den er sich vier Jahre davor als Bernard zugelegt hatte, und wir lernen den Zynismus einer herrschenden Klasse kennen, für die Menschenleben jederzeit verzichtbar sind, wenn es den wirtschaftlichen Interessen und der Regierungspolitik dient. In The Damned ist Alexander Knox der Chef des Edgecliff Establishment. Er scheint die Regierung weniger zu beraten als vielmehr deren Politik zu bestimmen, obwohl er kein gewählter Volksvertreter ist.

Modesty Blaise

Was genau Bernards Fachgebiet ist, erfährt man nicht. Er selbst bezeichnet sich als Staatsdiener. Heutzutage könnte er ein Virologe oder ein Epidemiologe sein. In The Damned hat es mehr mit Radioaktivität und Kindererziehung zu tun, aber auch mit Quarantänemaßnahmen, Schutzkleidung und Social Distancing. Irgendwie muss es sehr dringlich sein, für mühsame demokratische Prozesse fehlt die Zeit. Das Edgecliff Establishment steht buchstäblich am Rande der Klippe, und es ist fünf vor zwölf, wenn Bernard im Inneren des Komplexes ankommt.

Während Bernard hineingeht, schwenkt die Kamera noch einmal die Klippen ab. Wir sehen die Freshwater Bay, die so heißt, weil in der Bucht eine Süßwasserquelle entsprang. Auf den Klippen steht ein einsames, wenig einladend wirkendes Haus, das an der dem Meer zugewandten Seite keine Fenster hat. Als Losey dort drehte [15] erzählten sich die Einheimischen, dass das früher der Unterschlupf von Schmugglern gewesen sei, die von draußen nicht beobachtet werden wollten. Tatsächlich war Cheyne House die Dienstwohnung des Aufsehers, der für die unterhalb davon gelegene Pumpstation zuständig war.

Losey drehte nicht an Originalschauplätzen, weil er pittoreske Hintergründe wollte. Er machte Gebrauch von dem, was zur Verfügung stand und baute es in den Film ein wie beim Anfertigen eines Mosaiks. Bei ihm wohnt Bernard im Haus mit der blinden Seeseite, der Mann, der so auf seine Aufgabe fixiert ist, dass er die Scheuklappen nicht bemerkt, die er aufhat. Die alte Pumpstation ist das Atelier der Bildhauerin. Zum Atelier gehört ein Steinbruch, und später wird Sid, einer von den Rockern, Freya vor den Militärs warnen, die sich dort herumtreiben. Das passt gut zur Geschichte [16] dieses Ortes.

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in Portland ein Nothafen für in Seenot geratene Schiffe angelegt. Zum Schutz des Hafens baute man Wellenbrecher und militärische Befestigungen. Das Baumaterial bezog man aus vom Marineamt betriebenen Steinbrüchen. Die vom Militär bewachten Steineklopfer kamen aus einem Gefängnis für zu Zwangsarbeit verurteilte Strafgefangene, das man zu diesem Zweck errichtet hatte. Um den stark gestiegenen Trinkwasserbedarf decken zu können wurde das Pumpwerk gebaut, nachdem man am Fuß der Klippen die Quelle entdeckt hatte.

Nach einem Schnitt scheint sich die Leinwand zu verengen, weg vom "Hammerscope", in dem der Film gedreht wurde und hin zum 4:3-Format. Es stellt sich heraus, dass das ein Blick durchs Fenster auf die Küste ist, mit Kamerafahrt nach hinten, in den Raum hinein. Was man für eine überflüssige Trickserei halten könnte, ist Loseys Kommentar. Im von Bernard geleiteten Edgecliff Establishment, in dem wir uns befinden, regiert der verengte Blickwinkel. Auf dem Fensterbrett steht eine weitere von den Skulpturen, mit denen der Film begonnen hat. Der Vogelmann ist die Erinnerung daran, dass es noch (mindestens) eine andere Perspektive gibt, die der Kunst.

Baedeker Blitz

Die Kunstwerke im Film sind keine Reproduktionen, sondern Originale, angeliefert von der Schöpferin höchstpersönlich. Losey hatte Elisabeth Frink kurz vorher kennengelernt, und ursprünglich hatte sie zugesagt, in einem Cameo-Auftritt als Bildhauerin mitzuwirken. Dann wurde die Rolle größer als zunächst gedacht und von der Schwedin Viveca Lindfors übernommen, deren Talent hier nicht vergeudet wird wie in den meisten Filmen, die Hollywood ihr anzubieten hatte. Ihre Szenen mit Alexander Knox zeichnet eine besondere Spannung aus.

Das hat auch mit unterschiedlichen Schauspielstilen zu tun, die Losey das Drehen schwierig machten, von ihm aber zum Vorteil des Films genutzt wurden. Lindfors war eine Absolventin des Actors’ Studio in New York und improvisierte gern. Der Kanadier Knox war als junger Mann nach England gegangen und hatte sein Handwerk auf Theaterbühnen gelernt, wo Textsicherheit gefragt war und man nicht von den eingeübten Dialogen abwich. Von Lindfors fühlte er sich in der Gestaltung seiner Rolle behindert, weil sie den Text änderte, während er auf sein Stichwort wartete. Die unterschwellige Aggression in ihren gemeinsamen Szenen charakterisiert das Verhältnis von Freya und Bernard, früher ein Liebespaar.

Baedeker Blitz (12 Bilder) [17]

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The Damned

Lindfors war damals mit George Tabori verheiratet, der in einem Brief an Losey schrieb, dass man "ihre enorme Kraft und Phantasie bändigen" müsse, um die beste Leistung aus ihr herauszuholen. Vermutlich war das nicht ganz so einfach, weil sie am Set viel mit Elisabeth Frink konferierte. Frink begleitete die Dreharbeiten in Dorset, fungierte als künstlerische Beraterin und unterwies Lindfors in den Techniken, mit denen sie ihre Skulpturen schuf. Lindfors’ Phantasie dürfte das eher beflügelt als gebändigt haben.

Elisabeth Frink, geboren 1930, war die Tochter eines Kavallerieoffiziers. Weil die Orte, an denen ihr Vater stationiert war, häufig wechselten, wuchsen sie und ihr Bruder bei den Großeltern in Little Thurlow auf, einem Dorf in Suffolk, einer spärlich besiedelten Grafschaft an Englands Ostküste. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden in der ländlichen Abgeschiedenheit von Suffolk Militärflugplätze angelegt, einer davon in unmittelbarer Nähe von Little Thurlow. Elisabeth war dadurch mitten drin im Kriegsgeschehen, sah von ihrem Dorf aus Luftkämpfe, vom Himmel stürzende Flugzeuge und solche, die brennend von Kampfeinsätzen zurückkehrten.

Um die Kinder in Sicherheit zu bringen, fuhr ihre Mutter mit den beiden zu Bekannten nach Exmouth in Devon, im Südwesten zwischen Dorset und Cornwall gelegen. Damit kamen sie vom Regen in die Traufe. Exmouth ist nur 15 Kilometer von Exeter entfernt, dem ersten Angriffsziel der deutschen Luftwaffe in den "Baedeker Raids" [19]. Nachdem die Royal Air Force im März 1940 die historische Altstadt von Lübeck und danach Rostock bombardiert hatte, befahl Hitler Vergeltungsangriffe. Getroffen werden sollten historisch und kulturell bedeutsame Städte im Vereinigten Königreich.

Einem Herrn namens Gustaf Braun von Stumm sicherte der Führerbefehl seinen unrühmlichen Platz in der Geschichte. In seiner Eigenschaft als Numismatiker wäre er vermutlich weniger in Erinnerung geblieben. Auf der Webseite der "Saarland Biografien" [20] ist nachzulesen, wie man die NS-Vergangenheit großer Saarländer nicht verschweigt, biographische Daten aber so anordnet, dass sie trotzdem nicht mehr vorkommt. Der in einem Schloss bei Saarbrücken aufgewachsene Braun von Stumm trat 1933 in die NSDAP ein, arbeitete als Diplomat und wurde nach der Stationierung in verschiedenen europäischen Hauptstädten Leiter der Pressekonferenz des Auswärtigen Amtes.

Am Tag nach dem ersten Angriff auf die Kathedralenstadt Exeter (ein zweiter war noch verheerender [21]) sagte Braun von Stumm vor Pressevertretern, dass die Luftwaffe jedes Gebäude in Großbritannien bombardieren werde, das im Baedeker drei Sterne habe. Der Diplomat und Münzsammler war kulturell interessiert, hatte aber offenbar seit längerem keines der roten Reisehandbücher mehr aufgeschlagen. Drei-Sterne-Bewertungen gab es im Baedeker nicht. In England bürgerte sich trotzdem der Begriff "Baedeker Raids" (oder "Baedeker Blitz") für die Angriffe ein.

Neben Exeter standen Bath, Norwich, York und Canterbury auf der Zerstörungsliste der Nazis, Städte mit einer bedeutenden historischen Bausubstanz. Die beste, ebenso kulturelle wie spirituelle Antwort haben Michael Powell und Emeric Pressburger mit A Canterbury Tale gegeben, dem wunderbarsten Propagandafilm, der je gedreht wurde. Die Royal Air Force setzte mehr darauf, die deutsche Rüstungsindustrie zu vernichten und die Moral der Zivilbevölkerung zu untergraben.

Zusammengetragen wurde eine detaillierte Zielliste für Bombenangriffe, die - als Reaktion auf den Ausspruch Braun von Stumms - unter dem Titel "The Bomber’s Baedeker" [22] firmierte. Niemand in diesem Krieg hatte ein Exklusivrecht auf Zynismus. Bei den Briten ist der Luftkrieg bis heute das emotionale Reservoir, in dem sie sich bedienen, wenn historische Vorbilder und Vergleiche bemüht werden. Beim Brexit war es so, in der Coronakrise ist es nicht anders.

Aus den Heldinnen und Helden an der Heimatfront sind die Frontkämpfer im Gesundheitswesen geworden, die man schützen muss wie einst Wohnhäuser und Spitäler durch Flakfeuer und Verdunkelung. Kommentatoren, die mit Boris Johnson und seinem mit Brexitgläubigen gebildeten Kabinett hart ins Gericht gehen, weisen vermehrt darauf hin, dass durch Covid-19 mehr Briten gestorben sind als durch den "Blitz", seit das die Zahlen hergeben. Nur der rote Reiseführer hat ausgedient. Obwohl: Wie wäre es mit einem Hotspot-Baedeker für gezielte Virenbekämpfung, nachdem in der ersten Phase flächendeckend mit dem Vorschlaghammer gearbeitet wurde?

Cinema of Angst

Für Elisabeth Frink war der Zweite Weltkrieg eine prägende Erfahrung. Anfangs romantisierte sie ihn, mit ihrem meist abwesenden Vater als idealisierter Heldengestalt. Nachdem sie Photos und Filmaufnahmen aus dem von den Briten befreiten Bergen-Belsen gesehen hatte, von zerstörten deutschen Städten und von Hiroshima, gelang ihr das nicht mehr. Sie war keine von denen, die versuchen, die deutsche Schuld zu relativieren, indem sie mit dem Finger auf andere zeigen. Aber die simple Einteilung in Gut und Böse, Helden und Schurken hatte sich erledigt, nachdem sie gesehen hatte, was Menschen anderen Menschen antun können.

Frink litt ein Leben lang unter Schlaflosigkeit und Albträumen, oft mit brennenden, vom Himmel fallenden Männern. Das Kindheitstrauma verarbeitete sie in ihrer Kunst. Ihre fallenden oder gefallenen Männer und ihre Mensch-Vogel-Hybriden sind Gestalten in einem Schwellenzustand. Bei Frink ist nichts eindeutig. Ihre Skulpturen haben etwas Soldatisch-Aggressives und zugleich etwas Nervöses, wirken wie Kriegsversehrte oder Opfer eines Atomkriegs, ihre laufenden Männer könnten Fliehende oder Angreifer sein.

"Was immer Elisabeth Frinks Absichten gewesen sein mochten, als sie diese Skulpturen schuf", sagt Losey im Gespräch mit Michel Ciment (Conversations With Losey) über ihre Hybriden, "es waren Vögel ohne Flügel. Sie waren immer so etwas wie Science-Fiction-Krieger mit Scheuklappen, mit Masken als Gesichtern und winzigen Flügeln. Man hat bei diesen Vögeln nie das Gefühl, als ob sie losfliegen könnten." Vögel, die nicht fliegen und Menschen, die Vögel sind: um Frinks Kunst der Paradoxa herum gestaltete Losey The Damned, einen Film der Paradoxa.

1952, bei der Biennale in Venedig, wurden im britischen Pavillon Werke von acht jungen avantgardistischen Bildhauern ausgestellt (und davor eines des älteren Henry Moore), von denen einige im Krieg Piloten gewesen waren. Die Kunstszene jubelte über ein britisches "Skulptur-Wunder". In einem begleitenden Essay beschrieb der Kunsthistoriker Herbert Read die Exponate als "Ikonographie der Verzweiflung oder der Auflehnung". Er sah in den Skulpturen die Erinnerung an den Holocaust und Hiroshima genauso widergespiegelt wie die Angst vor der nuklearen Zerstörung der Welt.

In seinem Essay wählte Read den Begriff "Geometrie der Angst", um das verbindende Element der Exponate zu beschreiben. Als Oberbegriff für eine Kunstrichtung, zu der auch - als einzige Frau - Elisabeth Frink gezählt wird (ihr Lehrer, Bernard Meadows, war einer der in Venedig ausgestellten Künstler), blieb das haften. Als The Damned mit zweijähriger Verspätung doch noch in einigen Londoner Vorstadtkinos anlief schrieb Philip French die erste in einer überregionalen Zeitung erscheinende Kritik (Observer, 19. Mai 1963). Darin griff er die von Read geprägte Bezeichnung auf.

The Servant

French pries The Damned als "einen der bedeutsamsten britischen Filme der letzten Jahre", als "hoch komplex" und als "ein verstörendes Werk von echter Wichtigkeit", das Großbritannien in Cannes zur Ehre gereicht hätte, wenn der Film denn dort gezeigt worden wäre. "The Damned", so French, "gehört zu Franjus La tête contre les murs und Rivettes Paris nous appartient, zum Kino der Angst [cinema of Angst]: er fängt die Beklemmung einer Welt ein, die versucht, mit der Bedrohung durch den nuklearen Holocaust zu leben."

Georges Franju, Jacques Rivette und Joseph Losey - das wäre eine schöne Idee für ein Triple Feature. Zur Ergänzung könnte man Dr Strangelove und A Clockwork Orange mit dazunehmen, zwei Filme von Stanley Kubrick, die beide von The Damned beeinflusst sind. Hitchcocks The Birds natürlich. La jetée von Chris Marker … In Loseys nächstem Film, The Servant, steht einer von Frinks Soldatenköpfen im Wohnzimmer von Tony, als Irritation und am prominentesten in einer Szene mit Loseys Version des Klassenkriegs: Tonys Verlobte versucht, mit Hilfe von Sofakissen die Wohnung in Besitz zu nehmen und die Oberhand über den Diener zu gewinnen.

Fernunterricht anno 1961

Die Skulptur auf dem Fensterbrett gehört zu einem Zyklus, den Elisabeth Frink "Bird Men" nannte, oder auch "Sentinel". Wir sind in einem Lehrerzimmer gelandet. An der Wand hängen abstrakte Bilder. Der Hausherr, Bernard, ist ein Kunstliebhaber. Der Uniformierte, der nach dem Vogelmann greift wie nach einem unnützen Staubfänger, ist keiner. "Ein Vogel in einem goldenen Käfig, was, Dingle?", sagt er. "Ihr Sicherheitstypen habt die Phantasie von Gefängniswärtern", antwortet Dingle und nimmt dem Offizier die Skulptur weg. Dingle, der gleich in einem Buch über Rembrandt blättern wird, muss der Kunstlehrer sein. Aber was haben Soldaten in Uniform im Lehrerzimmer verloren? Hier stimmt etwas nicht.

Bernard trifft ein und bittet Dingle, die Vorhänge zuzuziehen wie bei einer Filmvorführung. Anstelle von Leinwand und Projektor ist das Lehrerzimmer mit einem sperrigen Monitor und einer darauf befestigten Kamera ausgestattet. Inzwischen hätte man stattdessen Laptops mit integrierter Kamera und Zoom oder Skype. Wir werden Zeugen eines Fernunterrichts (anno '61), den jetzt - in Deutschland wenigstens - dieselben Politiker anpreisen, die vorher die Digitalisierung verschlafen haben.

Fernunterricht anno 1961 (16 Bilder) [23]

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The Damned

Dafür haben wir eine Kultusministerkonferenz, die sich seit Jahren trifft, Absichtserklärungen verfasst und dann durch Bürokratie und Kleinstaaterei dafür sorgt, dass rasche Verbesserungen weiter auf sich warten lassen. Es ist nicht immer ganz leicht, sich keinen starken Mann zu wünschen, der durchgreift und den Fortschritt auf den Weg bringt, ohne lange debattieren und politische Grabenkämpfe ausfechten zu müssen. The Damned tritt den Beweis dafür an, dass der starke Mann, der sagt, wo’s lang geht, trotzdem nicht die Lösung ist.

Bernard nimmt unter Scheinwerfern auf einem bequemen Sessel Platz, um mit der Übertragung zu beginnen. Am anderen Ende der Leitung wird sein Bild auf einen in die Schultafel eingelassenen Flachbildschirm übertragen. Bernard hat sich für den guten alten Frontalunterricht entschieden. Vor dem Bildschirm sitzen neun Kinder, alle 11 Jahre alt, an ihren Pulten. Sie leben, abgeschottet von der Außenwelt, in Bunkern und Kavernen in den Klippen von Portland. Bernard muss die Kinder bitten, sich aufzurichten. Die Disziplin lässt doch arg nach, wenn der Lehrer nicht physisch mit im Klassenzimmer ist.

Die Schülerinnen und Schüler verfügen über ein erstaunliches Wissen. Eingeschränkt ist es aber auch. Bernard ist ein Bruder im Geiste von Ex-Innenminister de Maizière, der nach der Absage eines Fußballspiels Antworten zum Hintergrund der Gefährdungslage verweigerte und bei einer Pressekonferenz [25] eine denkwürdige Begründung dafür lieferte: "Warum? Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern." Eben. Weil die Bevölkerung nicht reif genug für die Wahrheit ist, muss es verantwortungsvolle Männer geben, die entscheiden, was sie erfahren darf und was nicht. Es ist nur konsequent, wenn Bernard mit Kindern spricht. Sind wir das nicht alle?

Bernard, sagt die Schülerin Victoria, rede im Unterricht viel über Pflicht und Verantwortung, stets verbunden mit einem "Wenn die Zeit gekommen ist". Victoria und die anderen Kinder möchten nun gern wissen, wann die Zeit gekommen ist? Bernard muss sie auch da auf später vertrösten. "Es gibt viele Dinge, die ihr erst verstehen werdet, wenn ihr älter seid", antwortet er. "Ihr werdet alles erfahren, wenn es Zeit dafür ist. Jede neue Sache, sobald ihr sie verstehen könnt, und nicht früher." Losey hat diese Sätze frontal aufgenommen. Bernard blickt direkt in die Kamera (und damit uns an, das Publikum), wie bei einer dieser Fernsehansprachen von Politikern, die um unser Vertrauen bitten und uns dafür Plattitüden liefern.

Losey hat kein Verständnis für eine Strategie der Nicht-Information, unabhängig davon, ob die Antwort offen verweigert und auf ein nebulöses Danach verschoben wird oder sich die Nicht-Antwortenden in Allgemeinplätzen ergehen, bis die Sendezeit vorbei ist. In The Damned ist das der Einstieg in den autoritären Staat. Loseys Kommentar zu Bernards Informationsverweigerung ist im Gegenschnitt zu finden. Wenn Bernard die Kinder bittet, ihm zu vertrauen und ihn beurteilen zu lassen, was sie wissen dürfen und was nicht, sehen wir die Schülerinnen und Schüler auf seinem Monitor. Rechts und links vom Monitor stehen die Offiziere, die durchsetzen, was er beschlossen hat, der Sicherheit des Staates wegen.

"Wir verstehen mehr als Sie denken", sagt eines der Kinder. Das Verweigern von Antworten sei undemokratisch, sekundiert die kleine Elizabeth. Ende der Fragestunde, sagt Bernard. Zeit zum Mittagessen. Alles in The Damned ist mehrdeutig und der Interpretation anheim gegeben, mit einer Ausnahme: Demokratie und Bürgerrechte sind für Losey alternativlos. Dazu gehören Transparenz und eine offene Diskussion, die nie zu früh sein kann, weil Verantwortliche, die ihre Entscheidungen nicht begründen müssen, Gefahr laufen, Ad-hoc-Maßnahmen mit einer nachvollziehbaren Kriterien folgenden Strategie zu verwechseln und wie Bernard in einem geschlossenen Denksystem des Entweder-Oder zu landen.

Katakombenstil

Loseys Entschiedenheit hat mit seiner Biographie zu tun. In den USA hatte er miterlebt, wie schnell Grundrechte und demokratische Freiheiten zur Disposition gestellt werden können, um einer als existenzbedrohend wahrgenommenen Bedrohung zu begegnen. Im Amerika des Kalten Krieges waren es die Angst vor kommunistischer Unterwanderung und einem atomaren Armageddon, die von der Verfassung garantierte Rechte verzichtbar erscheinen ließen, als der Zweck die Mittel heiligte - darunter das Streikrecht, die Versammlungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Als sozialkritischer Filmemacher (The Boy with Green Hair, The Prowler) geriet Losey selbst ins Visier der Kommunistenjäger. J. Edgar Hoover, der Chef des FBI, verdächtigte ihn, ein von Moskau bezahlter Subversiver zu sein und ließ ihn mit Billigung des Justizministeriums drei Jahre lang überwachen. Ergebnis: Losey war ein kritischer Geist, kein Agent von Josef Stalin. Das bewahrte ihn nicht vor der schwarzen Liste Hollywoods, die es offiziell nie gab, inoffiziell aber sehr wohl, nachdem die Studiobosse im November 1947 bei einem Treffen im Waldorf-Astoria Hotel in New York vor dem Kongressausschuss für unamerikanische Aktivitäten zu Kreuze gekrochen waren.

Katakombenstil (17 Bilder) [26]

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The Criminal

Die nicht ganz einfach zu beantwortende Frage, ob und wenn ja wie lange Losey Mitglied der Kommunistischen Partei war, braucht uns hier nicht zu beschäftigen, weil er damit, falls ja, seine Rechte als Bürger eines freien Landes wahrnahm und nichts Verbotenes tat. 1951 entging er einer Vorladung durch den Kongressausschuss, weil sich das FBI bei einem Zustellversuch in der Adresse irrte. In der dadurch gewonnen Zeit setzte er sich nach Europa ab, bevor man ihm als "unfreundlichem", mit dem Ausschuss nicht kooperierendem Zeugen den Reisepass wegnehmen konnte.

Nach Zwischenstopps in Italien und Frankreich ließ Losey sich im Januar 1953 in London nieder. Er arbeitete wieder als Regisseur, musste aber Decknamen verwenden ("Andrea Forzano" bei Stranger on the Prowl, "Victor Hanbury" bei The Sleeping Tiger), weil der Arm der Hexenjäger bis nach Europa reichte. In England war er von Anfang an bemüht, sich ein Höchstmaß an künstlerischer Freiheit zu sichern, auch wenn er zunächst Kolportagegeschichten verfilmte und zu Kompromissen gezwungen war.

Eine wichtige Rolle kam dabei dem Maler und Kunstlehrer Richard Macdonald zu. Loseys Kooperation mit Macdonald war für englische Verhältnisse revolutionär. Indem sie jede Einstellung vorab skizzierten und Spezialisten wie den Ausstatter oder die Kostümbildnerin erst zuzogen, wenn das künstlerische Gesamtkonzept feststand, unterliefen die beiden die traditionelle Arbeitsteilung bei einer Filmproduktion und behielten die Kontrolle über den visuellen Stil. Von Macdonald sind die von viktorianischen Photographien inspirierten Innenräume des Gefängnisses in The Criminal. Bei Time Without Pity, einem Film gegen die Todesstrafe, orientierte er sich - stets in enger Absprache mit Losey - an Goya-Gemälden.

Die Kinder in The Damned werden in Räumlichkeiten unterrichtet, deren Ausstattung man als futuristischen Katakombenstil bezeichnen könnte (Stanley Kubrick und Ken Adam waren davon beeindruckt, wie man an Dr Strangelove sieht). Wer sich für Nachkriegsdesign interessiert kann da Möbelstücke von Eero Saarinnen, Finn Juhl sowie Charles und Ray Eames entdecken, die heute in renommierten Museen stehen. Macdonald wird sie wohl bei einem der auf modernes Design spezialisierten Möbelhäuser in London gekauft oder geliehen und nach Bray gebracht haben.

Auch die Katakomben entwarf Macdonald und nicht, wie bei einer Hammer-Produktion üblich, Bernard Robinson, der in Bray, dem firmeneigenen, in ein Studio transformierten Landhaus an der Themse, die zur Verfügung stehenden Räume von Film zu Film umbaute, damit man sie stets aufs Neue als Kulisse verwenden konnte. Im Vorspann und in den Stablisten sucht man Macdonalds Namen vergeblich, weil er kein Gewerkschaftsmitglied war und darum nicht offiziell als Filmarchitekt arbeiten durfte.

Bei The Damned (und anderen Losey-Filmen) hatte das zur Folge, dass in den Anfangstiteln kein Produktionsdesigner genannt wurde. Die Autoren einschlägiger Hammer-Bücher setzen gern Bernard Robinson als Verantwortlichen ein, weil das normalerweise so war. Es war aber Macdonald. The Damned ist keine normale Hammer-Produktion. Losey brachte auch seinen eigenen Cutter (Reginald Mills) und Sound Editor (Malcolm Cooke) mit nach Bray, und mit Pamela Davies für die Continuity eine langjährige Weggefährtin, die ihm treu ergeben war. So behielt er möglichst viel Kontrolle über die Postproduktion.

Nach seinen Erfahrungen in den paranoiden USA war Losey gegen staatlich verordnetes Ausspionieren und andere Eingriffe in die Privatsphäre besonders allergisch. In den Katakomben sind Überwachungskameras Teil der Einrichtung. "Wir mögen es nicht, so gesehen zu werden", sagt Victoria. "Wir würden Sie gern so sehen, wie wir uns untereinander sehen." "Anders geht es nicht", sagt Bernard. Wegen der Sicherheit. Auf ihn selbst ist nur eine Kamera gerichtet, und nur, wenn er es will. Er bestimmt, wann sie eingeschaltet ist. Das soll alles anders werden, wenn die Zeit dafür gekommen ist und die Schüler alt genug sind für Demokratie und Transparenz. Jetzt sind sie es noch nicht.

"Wenn wir erwachsen sind", möchte eines von den Mädchen wissen, "sehen wir dann aus wie [die Lehrerin] Miss Lamont?" Diese Frage wird sofort beantwortet, weil die Antwort eine Mitteilung Loseys an uns, das Publikum, enthält. "Ihr werdet aussehen wie jetzt", sagt Bernard. "Natürlich werdet ihr dann größer sein." Aus kleinen Kindern, heißt das, werden große Kinder, wenn sie älter sind. Wird man sie dann wie Erwachsene behandeln? Besser, man stellt die unangenehmen Fragen gleich, statt sich auf später vertrösten zu lassen. Ein Später könnte es nie geben.

Losey und die Patrioten

Loseys erste Regiearbeit für die Hammer, A Man on the Beach (1955), ist ein 29-minütiger Thriller ohne Thrills und mit schrecklichen Dialogen, für den Jimmy Sangster, später Autor von Dracula und The Curse of Frankenstein, sein erstes Drehbuch schrieb. Man muss ihn nicht gesehen haben. Damals war das Unternehmen dabei, mit der Leinwandversion von Nigel Kneales TV-Serie The Quatermass Experiment das lukrative Feld der Science Fiction und des Horrors für sich zu entdecken.

Der Film, in dem Brian Donlevy als Professor Quatermass die Invasion einer außerirdischen Lebensform abwehren muss, war so erfolgreich, dass die Hammer sofort das nächste Science-Fiction-Drama folgen lassen wollte. Also trafen sich Tony Hinds und Michael Carreras, die Söhne der Firmen-Patriarchen Will Hinds (Bühnenname: Will Hammer) und James Carreras, mit dem als Aufnahmeleiter angestellten Sangster zum gemeinsamen Brainstorming. Nachdem das Monster in Quatermass aus dem Weltraum gekommen war, schlug Sangster vor, dass es jetzt aus dem Inneren der Erde kommen könnte.

Da Jimmy noch einige weitere Ideen beisteuerte waren Michael und Tony der Meinung, dass er auch gleich das Drehbuch verfassen sollte. In X the Unknown kämpft Dr. Adam Royston gegen radioaktiven Schleim, der aus einer Erdspalte in Schottland dringt (Royston heißt nicht Quatermass, weil Kneale sich geweigert hatte, den Namen seines Raketenforschers zur Verfügung zu stellen). Dean Jagger wurde als Hauptdarsteller gewonnen, Losey als Regisseur angeheuert. Anfang Januar 1956 war Losey auf der Suche nach Drehorten, als er an einer mysteriösen Lungenentzündung erkrankte.

Wahrscheinlich war die Erkrankung taktischer Natur. Jagger, ein amerikanischer Superpatriot, hatte entdeckt, wer sich hinter Loseys Pseudonym "Joseph Walton" (seine beiden Vornamen) verbarg. Sangster zufolge weigerte er sich, einen Kommunisten und Vaterlandsverräter wie ihn als Regisseur zu akzeptieren. Für eine Firma wie die Hammer, die mit einem Auge auf den US-Markt schielte, war es mutig, jemanden wie Losey zu beschäftigen. Der Mut hatte allerdings Grenzen, und Jagger wollte man ungern verlieren, weil er das Prestige eines Oscar-Gewinns mitbrachte (bester Nebendarsteller, im Kriegsfilm Twelve O’Clock High). Losey wurde ausgebootet.

Michael Carreras wollte es dabei nicht bewenden lassen. Er war bemüht, die Produktpalette zu erweitern und talentierte Leute an das Unternehmen zu binden. Michael war mit dem von ihm produzierten und von Val Guest inszenierten Polizeifilm Hell Is a City mehr als nur ein Achtungserfolg gelungen (Stanley Baker als hartgesottener Polizist macht Jagd auf einen Schwerverbrecher). Daran wollte er anknüpfen und zugleich die Perspektive wechseln. Er schickte Losey, mit dem ihn die Liebe zum Jazz verband, ein Drehbuch seines Freundes Jimmy für einen Gangsterfilm.

Losey fand Sangsters - aus amerikanischen Gefängnisfilmen zusammengeklautes - Skript fürchterlich. Aus der Grundidee aber ließ sich etwas machen, weil man am Beispiel des Strafsystems gesellschaftliche Institutionen kritisch hinterfragen konnte. The Criminal, schließlich von einem anderen Studio und mit einem anderen Drehbuch produziert (mit Stanley Baker als Berufsverbrecher), wird heute als Klassiker gewürdigt. Schon damals von französischen Kritikern als Meisterwerk gefeiert, missfiel der Film den Geldgebern; er wurde schlecht verliehen und hatte es schwer, ein Publikum zu finden. Dann holte Losey wieder einmal die Vergangenheit ein.

Blind Date, vor The Criminal entstanden, hatte mit Ben Barzman und Millard Lampell zwei auf der schwarzen Liste stehende Drehbuchautoren. In den USA, wo die Kommunisten doch keinen Staatsstreich angezettelt hatten, galt das inzwischen als relativ unproblematisch, solange es nicht thematisiert wurde und die Namen nicht allzu prominent waren - bis Otto Preminger sich entschloss, dem Spuk ein Ende zu machen und mit der für ihn typischen Angriffslust kundzutun, dass Dalton Trumbo, der bekannteste Autor auf der Liste, das Drehbuch für Exodus geschrieben hatte. Das animierte die American Legion zu verschärfter Wachsamkeit.

Blind Date

Die Rechtsaußen-Organisation drohte mit einem Boykott, als sie erfuhr, dass die Paramount Blind Date in amerikanische Kinos bringen wollte. Die Paramount ruderte eilig zurück, sagte eine Werbetour mit dem Hauptdarsteller Hardy Krüger ab und einigte sich mit der Legion darauf, den Film kurz in New York zu zeigen, ohne ihn danach weiter auszuwerten. Für Losey, der eine Gewinnbeteiligung ausgehandelt hatte, war das doppelt bitter. Seit einiger Zeit liefen Verhandlungen darüber, was er tun musste, um seine Karriere in Hollywood fortsetzen zu können.

Bei seinem Weggang hatte man von ihm verlangt, Kollegen zu denunzieren, um sich selbst reinzuwaschen. Ende der 1950er sah es so aus, als würde ein informeller Brief genügen, in dem er versicherte, kein Kommunist zu sein. Diese Chance war jetzt dahin. "Mutmaßliche ROTE, in Partnerschaft mit Ex-NAZI, verkaufen BLIND DATE an die Paramount", titelte willfährig das Branchenblatt Variety. Der "Ex-Nazi" war Hardy Krüger, der als Kind im NS-Propagandafilm Junge Adler mitgespielt hatte. Losey stand mit am Pranger. In dieser Situation war er offen für das Angebot von Michael Carreras, Children of Light zu verfilmen, einen Roman von H. L. Lawrence. Andere Angebote gab es nicht.

Verdammte ohne Aliens

Der Held des Romans, Simon Largwell, wird von seiner Frau betrogen und ertappt sie in flagranti. Die untreue Gattin will ihn erstechen; bei einem Handgemenge wird sie selbst tödlich verletzt. Largwell verliert die Nerven und flieht, von der Polizei als Mörder gesucht, von London über Brighton nach Southampton. Er gerät in die Gewalt einer Jugendgang und kann mit Hilfe von Joan, der Halbschwester des Bandenbosses, seine Flucht fortsetzen. Zwischen Southampton und Bristol dringen sie, von der Polizei gejagt, in militärisches Sperrgebiet ein. Ein Mr. Bernard leitet ein streng geheimes Forschungsprojekt mit kleinen Kindern, die dort festgehalten werden.

Losey selbst hätte den Filmtitel "The Brink" gewählt, weil das Wort den Abgrund an der Klippe bezeichnet und die Schwelle zum Ende der Welt. Die Hammer und die Columbia entschieden sich für The Damned (in den USA: These Are The Damned). Dahinter steckte die Hoffnung, am Erfolg von Wolf Rillas Village of The Damned partizipieren zu können, der Adaption von John Wyndhams Roman The Midwich Cuckoos (1957). Ganz kann man das den Werbestrategen nicht verdenken. Lawrence hat bei Wyndham abgekupfert und dessen Ausgangsidee für seine Zwecke modifiziert.

Verdammte ohne Aliens (6 Bilder) [28]

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The Damned

Bei Wyndham werden die Frauen eines Dorfes während eines Blackouts von Aliens geschwängert, deren Kinder sie danach gebären. Bei Lawrence sind die Frauen - auf normalem Weg - schon schwanger und liegen in der Gebärstation, als es in einem nahe gelegenen Atomkraftwerk einen Unfall gibt. Die Mütter werden verstrahlt, können aber ihre Kinder noch zur Welt bringen, bevor sie sterben. Die Säuglinge scheinen völlig gesund zu sein. Dann fangen die Betreuer der Neugeborenen an zu sterben. Es stellt sich heraus, dass die Kinder radioaktiv sind und die Berührung mit ihnen tödlich ist.

Die Kinder werden offiziell für tot erklärt und auf ein verlassenes Militärgelände gebracht, wo sie unter Mr. Bernards Aufsicht heranwachsen. Bedingt durch atomaren Fallout, ist die Menschheit dabei, unfruchtbar zu werden. Die Kinder sind immun und sollen sich eines Tages untereinander fortpflanzen und eine neue menschliche Rasse begründen. Mr. Bernard ist jedes Mittel recht, um das Projekt geheim zu halten und den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Wer ihm in die Quere kommt, wird vom Secret Service beseitigt. Außerirdische Väter gibt es nicht. Die Enttäuschung des Publikums, das sich von The Damned eine Fortsetzung von Village of The Damned versprach, war vorprogrammiert.

Village of The Damned

Vielleicht war das Ganze tatsächlich ein großes Missverständnis. Ihm sei klar gewesen, sagt Losey zu Tom Milne (Losey on Losey), dass er einen Film für eine Firma drehte, die sich dadurch auszeichnete, "ziemlich schreckliche Horrorfilme" herzustellen und die primär an den "Science-Fiction-Aspekten" der Geschichte interessiert war. Ihm hingegen sei die Science Fiction herzlich egal gewesen. Den Roman hielt er für konfus. Trotzdem habe er das Angebot der Hammer akzeptiert, weil ihn angesprochen habe, mit welcher Leidenschaft das Buch "vom verantwortungslosen Umgang mit der neuen atomaren Macht" erzählte, "die der menschlichen Rasse in die Hand gegeben war".

Zur menschlichen Rasse gehört auch das Militär. Bernards Ankunft im Lehrerzimmer beendet einen Disput zwischen Offizieren und Pädagogen. Major Holland wirft Dingle darin vor, dass er ein Problem mit Autorität habe und dass aus den Kindern Beatnicks würden, wenn es nach ihm ginge. Der Major (Bond-Fans kennen Walter Gotell als KGB-Chef Gogol) sieht dabei aus, als würde er am liebsten mit seinem Exerzierstock zuschlagen. Captain Gregory hat mehr Klasse, bekennt sich aber dazu, kein großer Denker zu sein. Leute wie er, meint einer von den Lehrern, hätten das Empire aufgebaut. "Wie habt ihr das gemacht, ohne Denken?", will Dingle wissen.

Captain Gregory muss nicht denken, weil er Sätze parat hat, wie man sie aus britischen Militärfilmen kennt, in denen man erfährt, warum der Kolonialismus eine gute Sache war: "Jeder brutale Kerl kann Gehorsam erzwingen. Nur ein Gentleman kann über Loyalität gebieten." Aus der Geschichte weiß man, dass am Schluss doch die brutalen Kerle mit ihren Stöcken kamen, wenn die Untertanen nicht loyal (gehorsam) genug waren. Kehren wir also zurück zum Anfang und zu Queen Victoria, in deren Regierungszeit Britanniens Glorie am größten war. Vorher allerdings muss noch geklärt werden, warum der Film in Weymouth mit seiner Jubilee Clock gedreht wurde, obwohl das die Kosten in die Höhe trieb.

Wunder der Welt und schäbige Victoriana

Nichts in Lawrences 1960 erschienenen Roman weist darauf hin, dass er nicht in der Gegenwart spielt, bis plötzlich die Information eingestreut wird, dass vor Generationen die erste Atombombe abgeworfen wurde. Das wirkt, als sei dieses Detail nachträglich eingefügt worden, um das Buch besser als Science Fiction verkaufen zu können oder vielleicht auch, um das skrupellose Vorgehen staatlicher Stellen durch die Verlegung der Handlung in eine nicht genau definierte Zukunft ein wenig abzumildern. James Carreras, der die Rechte an dem Roman erwarb, dürfte das Fehlen aller irgendwie futuristischen Elemente sehr erfreut haben. "Zukunft" bedeutete Mehrkosten für Bauten und Ausstattung und war unerwünscht.

Der Roman ist in seiner Anlage sprunghaft und nicht immer gut durchdacht, gehört jedoch dessen ungeachtet zur Wyndham-Variante der Science Fiction, in der ein oder zwei Elemente verändert werden, die Welt ansonsten aber bleibt, wie sie ist. Losey kam das mindestens so entgegen wie dem Hammer-Boss, weil er sich nicht den Kopf darüber zerbrechen musste, wie sich das England einer fernen Zukunft darstellen könnte (was ihn nicht wirklich interessierte). Außerdem half es ihm dabei, das Publikum zu Aufmerksamkeit und Mitdenken zu animieren. Einen Film, in dem sich Neues im scheinbar Alltäglichen verbirgt, sieht man anders als einen, in dem Raumschiffe durch das Weltall fliegen.

1956 war mit Quatermass 2 doch noch eine Fortsetzung mit Nigel Kneales Raketenforscher entstanden. Daran wollte die Hammer anknüpfen, nur eben ohne Rakete und ohne Außerirdische. Tony Hinds schrieb einen Drehbuchentwurf, der nicht erhalten zu sein scheint. Man darf annehmen, dass der kostenbewusste Tony die Handlung so anlegte, dass sich der Film in Bray und der unmittelbaren Umgebung realisieren ließ. Mit Losey war das so nicht zu machen.

Losey wollte die Geschichte aus Originalschauplätzen heraus entwickeln, die er erst noch finden musste. Die Unterstützung von Michael Carreras war ihm sicher. Der reisefreudige Michael war stets dafür, fernab von Bray zu drehen, wenn sich eine Gelegenheit dazu ergab. Das brachte Abwechslung und einen Sicherheitsabstand zu seinem dominanten Vater, mit dem er häufig über Kreuz war. Social Distancing schützt nicht nur vor Infektionen. Zu Loseys Gunsten wirkte sich auch aus, dass der semidokumentarische Hell Is a City sehr davon profitiert hatte, dass Val Guest und sein Kameramann Arthur Grant an Originalschauplätzen in Manchester drehen konnten.

Grant war nun wieder mit von der Partie, wieder sollte es ein Schwarzweißfilm werden, und zu dem Zeitpunkt war "Children of Light" (Arbeitstitel) auch noch zur Hälfte eine Kriminalgeschichte. Produzenten mögen es, wenn sich Elemente wiederholen, die vorher schon erfolgreich waren. Es sprach also einiges dafür, Losey ein paar Sonderwünsche zu gewähren. Ben Barzman verfasste ein neues Skript (es wäre sein fünftes für Losey geworden), während der Regisseur und sein inoffizieller Mitarbeiter Richard Macdonald nach geeigneten Drehorten suchten.

Bei Largwells Fluchtroute im Roman ist bei den genannten Orten nur wichtig, dass sie an der Küste liegen, weil der Gejagte mit einem Boot ins Ausland entkommen will. Losey und Macdonald war das zu wenig. Es ist nicht überraschend, dass sie beim Drehort-Scouting schließlich in Weymouth und Portland fündig wurden. Dieser Teil von Dorset ist das Land von Thomas Hardy (The Return of the Native) und von William Cowper Powys (Weymouth Sands), deren begeisterte Leser Losey und Macdonald waren. Ich würde nicht ausschließen, dass sich die beiden bei ihrer Erkundungsreise auch von The Small Back Room leiten ließen, einem Film von Powell und Pressburger über einen Wissenschaftler im Zweiten Weltkrieg.

Als Schauplatz für den dramatischen Höhepunkt wählte Powell einen Ort, den er sehr liebte. "Kennen Sie Chesil Bank?", schreibt er in seinen Memoiren. "Es ist eines der Wunder der Welt. Es liegt an der Küste von Dorset. Es ist ein gigantischer Kiesstrand, geschaffen durch die die Granitwand von Portland Bill bearbeitenden Gezeiten. […] Stellen Sie sich einen toten Meeresvogel vor, einen Kormoran oder einen Tölpel, drei oder vier Meilen lang, der dahingestreckt auf der Oberfläche des Meeres liegt, der lange Schnabel Richtung Frankreich zeigend. Das ist Portland Bill." Bill, das zur Erläuterung, ist ein Synonym für beak (Schnabel).

Wunder der Welt und schäbige Victoriana (16 Bilder) [30]

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The Small Back Room

Auf den Kieseln von Chesil Beach muss der Wissenschaftler in The Small Back Room einen besonders heimtückischen, vor allem Kinder tötenden Sprengsatz der Deutschen entschärfen. Das hilft ihm dabei, eine existenzielle Krise zu überwinden. Danach nimmt er das Angebot von Colonel Holland an, eine neu eingerichtete Forschungseinheit der Armee zu leiten. Könnte es sein, dass der Colonel ein Verwandter von Loseys Major Holland ist? Mit Anspielungen auf andere Filme ist bei ihm immer zu rechnen. Er war der Regisseur, der sich traute, ein - keineswegs schlechtes - Remake von Fritz Langs M zu drehen.

"Ich war fasziniert von Weymouth", sagte Losey später, "das ein Teil von England war, den ich nicht wirklich kannte: der alte viktorianische Uhrturm, der gerade dabei war, auseinanderzufallen, die Überreste von recht schönen Häusern, die Schäbigkeit, das total Schreckliche des Strandes und der Schießbuden, dann plötzlich, mitten auf der Promenade aufgestellt, diese Figur von George IV., kürzlich neu angemalt." Den "schäbigen Victoriana" wollte er etwas gegenüberstellen, das "absolut wild und rau und uralt" war. Die Wildheit fand er auf der Isle of Portland. Damit drehte er um Powells Chesil Bank herum, dem Verbindungsstück zwischen Portland und Weymouth.

King George und der Hamilton-Moment

Man kann sagen, dass Losey The Small Back Room vom Zweiten Weltkrieg in den Kalten Krieg fortschrieb. Am Ende von Back Room akzeptiert der durch eine Fußprothese gehandicapte Wissenschaftler ein Offizierspatent, um Waffen für den Krieg gegen Nazideutschland zu entwickeln. Der (am Stock gehende) Wissenschaftler in The Damned hat die Uniform wieder ausgezogen. Bernards Projekt ist nicht mehr der Kampf gegen den Faschismus, sondern das Überleben der Menschheit. Die Demokratie bleibt auf der Strecke. Explizit gesagt wird einem das nicht. Man muss mitdenken, um es zu bemerken. So ist das bei schleichenden Entwicklungen, wenn der Ausnahmezustand zur neuen Normalität wird.

Aus dem Londoner Simon Largwell im Roman wurde im Film der Amerikaner Simon Wells, weil die Partner von der Columbia, wie häufig bei solchen Kooperationen, einen (bezahlbaren) US-Star verlangten. Macdonald Carey spielte Hauptrollen in B-Filmen und Nebenrollen in A-Filmen (etwa als Polizist in Hitchcocks Shadow of a Doubt). Das hatte er mit Ronald Reagan gemeinsam, mit dem ihn politisch eher wenig verband. Careys Name tauchte in den Verdachtslisten der Kommunistenjäger auf. Nach dem erneuten Aufflackern des McCarthyismus hielt er es für eine gute Idee, einige Zeit in Europa zu verbringen.

King George und der Hamilton-Moment (12 Bilder) [32]

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The Damned

Losey hatte bereits bei The Lawless (1949) mit Carey zusammengearbeitet, seinem zweiten amerikanischen Film, und mochte ihn. Der Erinnerung des Drehbuchautors Evan Jones nach soll er Wells 20 Jahre älter gemacht haben, damit Carey, damals 48, in Europa ein Engagement erhalten konnte, während die amerikanischen Patrioten vergessen würden, was für ein gefährlicher Staatsfeind er war. Zurück in den USA, nahm Carey 1965 in Ermangelung besserer Angebote die Rolle des Familienpatriarchen Dr. Tom Horton in der Daily Soap Days of Our Lives an. Er blieb Dr. Horton, bis er 1994 an Lungenkrebs starb.

Aufgezwungen wurde Losey Shirley Anne Field als Joan. Für die Hammer war diese Besetzung ein Coup. Nach Rollen an der Seite von Albert Finney (Saturday Night and Sunday Morning) und Lawrence Olivier (The Entertainer) wurde Field als neuer Stern am Leinwandhimmel gehandelt. Sie strahlte mehr Erotik aus, als man es vom britischen Kino gewöhnt war, doch ihre schauspielerischen Fähigkeiten waren begrenzt. In The Damned zieht sie sich recht achtbar aus der Affäre, weil es zu Joan gut passt, wenn Shirley hin und wieder überfordert wirkt. Auch als der sexuelle Lockvogel, den sie unter den Augen von Königin Victoria zu spielen hat, ist sie nicht schlecht.

"Noch nie einen Uhrturm gesehen?", fragt Joan Simon und geht davon. Simon versteht das als Aufforderung und steigt ihr nach. Vielleicht hätte er besser auf das Klappmesser in ihrem Hosenbund achten sollen. Die junge Lady ist gefährlich. Losey stattet seine Figuren gern mit Gegenständen aus, um sie zu charakterisieren. Bei Major Holland ist es der Exerzier- und Disziplinierstock, bei Bernard der Gehstock, und Simon hält einen Reiseführer in der Hand, weil er nach Orientierung sucht. Schnitt auf ein Einhorn. Am Horn des Fabelwesens hängt ein Regenschirm.

Das Einhorn ist eines der beiden Wappentiere (auf der anderen Seite ruht ein Löwe), die den monumentalen Sockel bewachen, auf dem König George III. steht, nicht George IV. wie in Loseys Erinnerung. Über den künstlerischen Wert der King’s Statue, von den dankbaren Bürgern der Stadt Weymouth anlässlich des 50. Jahrestages der Thronbesteigung des Königs errichtet, kann man streiten. Die von Joans Bruder angeführte Bande jedenfalls, im Film als "Teddy Boys" identifiziert, lässt jeglichen Respekt vermissen. Die jungen Leute lümmeln sich beim Einhorn herum, der Bandenchef hat sich den Spitznamen "King" zugelegt, als wäre er hier der Regent, ihm gehört der Regenschirm.

Wer sich jetzt fragt, ob man die Statue ins Meer werfen sollte wie die des Sklavenhändlers Edward Colston [34] in Bristol: Unter George III. jagten die Briten den Franzosen deren Gebiete in Kanada und Indien ab. Wer ihn stürzen will kann gleich noch Victorias Uhrturm umwerfen. Beide standen an der Spitze eines Landes, das durch die Ausbeutung von Kolonien seinen Reichtum mehrte. Den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, obwohl für die Briten nicht mehr zu gewinnen, führte George III. immer weiter fort. Die Rebellen sollten wenigstens arm sein, wenn er sie schon nicht als Untertanen behalten konnte. Sein Kalkül war offenbar, die Aufmüpfigen durch wirtschaftliche und seelische Zerrüttung doch noch kleinzukriegen.

Damals schlug die Stunde von Alexander Hamilton, dem ersten amerikanischen Finanzminister. Hamilton setzte durch, dass die Kriegsschulden der 13 nun ehemaligen Kolonien von der Zentralregierung übernommen wurden. Durch diesen gelebten Akt der Solidarität wuchs das Zusammengehörigkeitsgefühl, wurde aus einer Ansammlung von sehr unterschiedlichen Republiken ein gefestigter Staatenbund. Amerikaner mit historischem Bewusstsein denken schon seit einem halben Jahr darüber nach, ob aus der Covid-19-Krise ein "Hamiltonian Moment" für die EU entstehen könnte.

Aus 27 Nationalstaaten, so die Überlegung, könnte durch die Bereitschaft, füreinander einzustehen, auch finanziell, eine Union werden, die diesen Namen tatsächlich verdient. Auch Olaf Scholz liest amerikanische Publizistik. Seit er die schwarze Null in eine Bazooka verwandelt hat, spricht er ebenfalls vom "Hamilton-Moment". Es gibt Schulden, angesichts derer Staaten ihr gemeinsames Schicksal erkennen und sich zusammenraufen, statt sich über Verschwendung, Haushaltsdisziplin und Spardiktate zu streiten. Bei den Amerikanern waren es die Schulden aus dem Krieg gegen das Mutterland. Vielleicht sind die Schulden aus der Corona-Pandemie dabei, etwas Vergleichbares für die Europäer zu werden.

Falls es gelingt, die Verträge gegen den Widerstand von Nationalisten und Europaskeptikern so zu ändern, dass die EU eigene Schulden aufnehmen und eigene Einnahmen generieren kann, wäre das ein großer Schritt in Richtung Vereinigte Staaten von Europa. Sollte es also dereinst Anlass dazu geben, die europäische Geschichte um ein neues Kapitel zu ergänzen, eines über das Zusammenwachsen statt über den Zerfall, könnte es mit der Starrköpfigkeit eines britischen Monarchen beginnen, der heute in Weymouth auf einem Sockel steht und als Regent darauf setzte, Zwietracht und Unzufriedenheit zu säen, womit er sich gründlich verkalkulierte.

Black Leather Rock

Wenn das königliche Monument ins Bild kommt hören wir zum ersten Mal den Text, den Evan Jones für Bernards "Rocksong" geschrieben hat: "Black leather, black leather, smash, smash, smash / Black leather, black leather, crash, crash, crash / Black leather, black leather, kill, kill, kill / I got that feeling, black leather rock." Der Text hat etwas von den Sprechblasen im Comic. Joan nimmt Blickkontakt zu ihrem Bruder auf, der ihr bejahend zunickt. Simon wird von Glück reden können, wenn es bei smash und crash bleibt, ohne kill. Weymouth, der heruntergekommene Badeort, faszinierte Losey auch deshalb, weil er, des Kontrasts wegen, der ideale Schauplatz für die Rebellion der Teddy Boys war.

Die Teds, so Losey, "kamen aus der Armut und der Arbeitslosigkeit, die weit verbreitet war, und dem gegenüber standen diese alten Strandhotels, in denen niemand mehr abstieg mit Ausnahme von sterbenden Rentnern. Die Vergangenheit war vorbei, aber es war auch ganz schön degeneriert. Und die Teddy Boys waren ein Resultat dieser Degeneriertheit, nicht hinsichtlich der Klasse, weil sie schon immer zu einer anderen Klasse gehört hatten, aber sie waren die Söhne der Diener und der Handwerker und Arbeiter, die diese Badeorte für die Reichen instand hielten, solange sie noch da waren."

Black Leather Rock (15 Bilder) [35]

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The Damned

Die eng mit amerikanischer Rockmusik assoziierten Teddy Boys, ein britisches Subkultur-Phänomen der 1950er, kleideten sich wie Dandys des Edwardianischen Zeitalters, mit Anleihen bei der Cowboymode und den Zoot Suits von Cab Calloway. Der von Oliver Reed gespielte Anführer der Teds sieht eher wie ein Mod aus, der Rest der Gruppe trägt das Leder-Outfit der Rocker. Man könnte nun denken, dass Losey, ein Amerikaner mittleren Alters, keine Ahnung hatte, was ein Teddy Boy war. Dafür recherchierte er im Vorfeld eines Films zu genau.

Statt um Realismus ging es ihm um eine gewisse Form der Abstraktion, indem er drei Ausprägungen der Jugendrevolte der späten 1950er und der frühen 1960er kombinierte, statt sich auf eine davon festzulegen. Die von ihm diagnostizierte Schrecklichkeit des Strandes wird durch eine Imbissbude repräsentiert, in der man Eiswaffeln und Fish and Chips kaufen kann. Joan macht Simon dort schöne Augen. Der Amerikaner beißt prompt an. Während die beiden gemeinsam einen Zebrastreifen überqueren, fordert King die Bande auf, in die Schlacht zu ziehen und Marschformation einzunehmen. Der Regenschirm dient ihm als Exerzierstock.

The Damned ist ein Film der Gegensätze und der Gemeinsamkeiten. Mit "Links rechts, links rechts …" wie beim Militär setzen sich die Teddy Boys in Bewegung. Er sei an ganz unterschiedlichen und doch parallelen Gesellschaftsschichten interessiert gewesen, sagte Losey in den 1970ern im Gespräch mit Michel Ciment, sowie an "parallelen Ebenen der Gewalt": "der Gewalt, die ich bei den jungen Leuten sah, der Gewalt des Rock and Roll und der Lederjungs auf Motorrädern; und der Gewalt der Welt, in der wir alle leben, der Welt der Wissenschaftler, der Regierungen, der Nationen, des Establishments."

Überfall mit Regenschirm

Wir bleiben königlich. Noch vor Joan und Simon, beim Hotel Electra, überqueren King und seine Gefolgschaft die Straße bei den Esplanaden (Elektra war die Tochter des Königs von Mykene). Autos hupen. Ein Bobby fordert die Teds auf, wie wir sie weiter nennen wollen, den Verkehr nicht zu behindern. Das Besondere dieses Moments wird einem erst bewusst, wenn man den ganzen Film kennt. Beim zweiten Sehen wirkt die Szene gruselig, weil man inzwischen weiß, dass das Regeln des Verkehrs die einzige Funktion ist, die der Polizei geblieben ist. Den Rest erledigen andere. Polizisten wird man danach nicht mehr begegnen.

Dem eingangs erwähnten Leserbriefschreiber sei zum Trost für die erlittene Unbill gesagt, dass es Schlimmeres gibt, als vom Innenminister losgeschickte Polizeihubschrauber in Bayerns Bergen. In The Damned haben sich die Sicherheitsorgane verselbständigt und militarisiert, eine Gewaltenteilung ist nicht erkennbar. Für die nächste Szene hat Losey den Drehort gewechselt. Die Albert Terrace, wo die Teds ihrem Opfer auflauern, findet man nicht in Weymouth, sondern in Fortuneswell [37], einem Ort auf der Isle of Portland. Albert war der Gatte von Queen Victoria. Die königliche Verbindung war Losey wichtig.

Überfall mit Regenschirm (13 Bilder) [38]

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The Damned

Bei der Albert Terrace singt Joan "Black leather, smash, smash, smash …", King pfeift die Melodie dazu, die Bande schlägt Simon Wells zusammen und raubt ihn aus. Einer von den Leather Boys verwendet den Regenschirm wie ein Lasso, indem er Simon den Griff um den Hals legt und gibt den Schirm an King weiter, der ihn als Stichwaffe benutzt wie ein Ritter sein Schwert. Dann marschieren die Schläger in Zweierreihen ab und pfeifen Bernards vielseitig verwendbaren Rocksong wie in einer Parodie auf Die Brücke am Kwai. Der Schirm in Kings Hand wird wieder zum Exerzierstock.

Dieser Film mit seinen "parallelen Ebenen der Gewalt" - jener der Teds und jener von Bernard und seinen Soldaten - musste auf den Widerstand des British Board of Film Censorship stoßen (seit 1985 steht das große C in BBFC für "Classification", weil sich Zensur in einer Demokratie nicht schickt). Beim BBFC war es Tradition, aus dem aktiven Dienst ausgeschiedene Offiziere anzuheuern, für die nach einer neuen Verwendung gesucht wurde. Beim fehlenden Respekt für das Militär hörte der Spaß auf. Es half auch nicht, dass man versuchte, mit der Zeit zu gehen und Frauen nicht nur als Schreibkräfte zu beschäftigen, sondern mindestens eine von ihnen in eine gehobene Position zu hieven.

Mit The Quatermass Xperiment hatte sich die Hammer den Ruf erworben, "horrific pictures" zu drehen, also solche, bei denen mit größeren Eingriffen der Zensur zu rechnen war. Die Firma hatte sich seither angewöhnt, dem BBFC neue Projekte vorab, im Drehbuchstadium, zur Begutachtung vorzulegen. Das war freiwillig und wirtschaftlich sinnvoll, weil es billiger war, Szenen gar nicht erst zu drehen, als sie hinterher entfernen zu müssen. 1961 war die Alibi-Frau des BBFC Audrey Field. Auf ihrem Schreibtisch landete Ben Barzmans Skript zu The Damned, das Tony Hinds am 21. April, knapp drei Wochen vor Drehbeginn am 8. Mai, zur Begutachtung einreichte.

Ein Film für Volltrottel

Der Zeitpunkt hätte ungünstiger kaum sein können. Die Hammer hatte soeben ihre bis dahin härteste Auseinandersetzung mit dem BBFC hinter sich und The Curse of the Werewolf verstümmeln müssen (mit Oliver Reed als Wolfsmensch), um überhaupt eine Freigabe unter dem 1951 eingeführten X-Zertifikat (ab 16 Jahren) zu erhalten. 16 war damals die oberste Altersgrenze. In der Praxis bedeutete das nicht, dass 16-Jährige sehen durften, was nach Einschätzung des BBFC nur für Ältere geeignet war. Vielmehr wurden zahlreiche Filme gekürzt, um überhaupt in regulären britischen Kinos laufen zu können.

John Trevelyan, Chef des BBFC von 1958 bis 1971, versicherte immer, dass man fast alle beanstandeten Filme ab 18 und ohne Schnitte freigegeben hätte, wenn das möglich gewesen wäre. Als 1970 die oberste Altersgrenze auf 18 angehoben wurde, änderte sich nicht viel. Die neue Regelung wurde durch einen Trend zu expliziteren Sex- und Gewaltdarstellungen konterkariert. Das BBFC ging nun vermehrt gegen Filme vor, die nach Meinung der Gutachter auch für Erwachsene ungeeignet waren, forderte wie gehabt Kürzungen oder verweigerte die Aufführungsgenehmigung.

The Curse of the Werewolf

Hinds hatte sich bei The Damned entschlossen, die Flucht nach vorn anzutreten und das Drehbuch mit der Bemerkung versehen, dass der Film, der "erwachsenen Thematik" wegen, zweifellos ein Kandidat für das X-Zertifikat sei. Audrey Field stimmte insofern zu, als ihrer Ansicht nach im für die Hammer günstigsten Fall ein X in Frage kam, konnte anstelle einer "erwachsenen Thematik" aber nur ein "symbolisches Gewäsch" entdecken. Ihr Gutachten ist von einer bemerkenswerten Borniertheit. "Es scheint", schrieb sie am 24. April, "dass die Leute hinter diesem Projekt gegen Teddy Boys sind, gegen 'das Establishment' und gegen die nukleare Abschreckung."

"Wofür sie sind", so Field weiter, "ist schwerer zu erraten, obwohl es wahrscheinlich ist, dass sie leidenschaftliche Mitläufer oder zählende Mitglieder der Kommunistischen Partei sind." Die Dame hatte wohl mitgekriegt, dass Losey und Barzman wegen der schwarzen Liste die USA verlassen hatten und zog daraus die irrige Schlussfolgerung, dass sie einen kommunistischen Propagandafilm im Sinn hatten. "Unterdrückung und Reglementierung von links", so Frau Field, würden "diese Leute" in einem viel milderen Licht sehen. Woher sie das wusste, blieb ihr Geheimnis.

Losey drehte The Damned im Mai und Juni 1961. In britische Kinos kam der Film aber erst im Mai 1963. In den USA verzögerte sich der Kinostart sogar bis Juli 1965. Das hat zu allerlei Mutmaßungen über mögliche politische Hintergründe geführt. Wahrscheinlich war es banaler. In den Akten des BBFC stößt man auf mitunter atemberaubende Vorurteile, aber diese Vorurteile waren zugleich ein gewisser Schutz für die Filmemacher. Frau Field formuliert es in ihrer (nicht für die Öffentlichkeit bestimmten) Stellungnahme ganz direkt. Sie lässt sich so zusammenfassen:

The Damned ist ein Kandidat für das X-Zertifikat. Das Publikum von X-Filmen ist zu blöd, um "Ideen" (die von Field unterstellte kommunistische Propaganda) zu verstehen. Also muss die Zensur keine Energien darauf verschwenden, diese Ideen zu eliminieren. "Wie dem auch sei", schreibt Field, "wir können uns nicht mit den Ideen beschäftigen, die der Art von ‚X’-Film-Kundschaft, die wir schützen wollen, ohnehin entgehen dürften!" Die vom BBFC zu schützende Kundschaft besteht, ihr zufolge, aus (erwachsenen) "Volltrotteln mit gewalttätigen Neigungen", wobei es noch viel weniger wünschenswert sei, dass Kinder so etwas sehen dürfen.

In solchen Akten findet man das oft: Kinder und Erwachsene, die Volltrottel sind, wenn sie von den Zensoren abgelehnte Filme mögen (vorzugsweise Horror und Science Fiction), werden als zu schützende Gruppen in einen Topf geworfen; in den ersten Jahrzehnten der Kinogeschichte waren noch die (ohnehin geistig minderbemittelten) Frauen mit dabei. Die "Ideen" durften also bleiben. "Die Sorge hier", schrieb Field, "gilt dem unglücklichen Mr. King und seinen Freunden mit den Fahrradketten (und ein oder zwei anderen Stücken widerlicher Gewalt)."

Frank Crofts, früher in der indischen Kolonialverwaltung tätig und Nachfolger von Lt.-Col. Fleetwood-Wilson als Chef-Zensor, sekundierte ihr noch am selben Tag: "Für mich sieht es so aus, als ob das ursprünglich das Werk irgendeines Verbietet-die-Bombe-Fanatikers wäre, und als ob die Hammer dem auf der einen Seite King, seine Bande und seine Waffen und auf der anderen Seite Nacktheit aufgepropft hätte. Vielleicht können wir gegen die Propaganda nicht viel machen, aber wir sollten ganz bestimmt klarstellen, dass die Nacktheit, die Hakenkette und die generelle Bestialität der Bande verschwinden müssen."

Beat Girl zwischen Bikern und SS

Jugendliche Straftäter im Film waren für das BBFC ein rotes Tuch. 1953 wurde László Benedeks The Wild One (mit Marlon Brando als Chef der Motorradgang Black Rebels) die Freigabe kategorisch verweigert. 1955 gestanden die Prüfer Nicholas Rays Rebel Without a Cause und Richard Brooks’ The Blackboard Jungle erst nach umfangreichen Kürzungen das X-Zertifikat zu. 1956 wurde Brooks’ mit Bill Haleys "Rock Around The Clock" beginnender und endender Film in einem Kino in Elephant and Castle gezeigt, einem ziemlich rauen Stadtteil in South London.

Die Teddy Boys im Publikum gerieten außer Rand und Band und demolierten den Vorführsaal. Danach kam es auch in anderen britischen Kinos, in denen der Film lief, zu Ausschreitungen. Eher brav sind die aufbegehrenden (und nun britischen) Leinwand-Teenager in Edmond T. Grévilles Beat Girl (1960), aber das BBFC machte das X auch da von substantiellen Schnitten abhängig, weil im Dialog die Prostitution erwähnt wurde, der inzwischen als Dracula in Frauenhälse beißende Christopher Lee den lüsternen Besitzer eines Striptease-Schuppens spielte und sich die Jugend, als Mutprobe, vor einem heranfahrenden Zug auf die Schienen legte.

Beat Girl zwischen Bikern und SS (1) (22 Bilder) [40]

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Beat Girl

Die Gutachter des BBFC waren entsprechend alarmiert, als sie in Barzmans Skript von King und seiner Bande lasen. Ihr Hauptaugenmerk galt daher den Teds. Es dürfte sie auch nicht beruhigt haben, als sie erfuhren, dass Oliver Reed und Shirley Anne Field die Geschwister spielen würden. Reed demonstriert in Beat Girl, wie man als Nebendarsteller im karierten Hemd die Leinwand dominiert, und Field singt das freche, weil sehr suggestive Lied "It’s Legal" [42]. Kurz vor Schluss tauchen drei Teddy Boys auf, demolieren das Auto von Teenie-Idol Adam Faith und machen seine Gitarre kaputt.

Hier ein Vorschlag für ein Triple Feature: The Small Back Room, Beat Girl, The Damned. David Farrar, in Back Room der zu tief ins Glas schauende Wissenschaftler, ist in Beat Girl der Vater der schmollenden Jennifer (Gillian Hills). Das Alkoholproblem hat jetzt Tony, einer von Jennifers Freunden. Tony ist der Sohn eines Generals, seine Mutter wurde im Blitzkrieg getötet. Christopher Lee als Kenny King könnte der böse Onkel von King und Joan in The Damned sein, wo der Blitz stets präsent ist, in Form der Skulpturen von Elisabeth Frink.

Alle jungen Leute in The Damned sind seltsam elternlos, ganz so, als seien sie Kriegswaisen, die der Staat sich selbst überlassen hat. Das steht im Gegensatz zu den radioaktiven Kindern, die der Wissenschaftler Bernard mit paternalistischer Fürsorge zwangsbeglückt (als seine in die Forschungseinrichtung gesperrten Versuchskaninchen), nachdem ihre Mütter bei einem Atomunfall gestorben sind. Einmal, bevor sie zurück nach Weymouth fahren, um Touristen mit Messern zu bedrohen, sehen wir die Teds auf Chesil Beach - das ist da, wo David Farrar bei Michael Powell den deutschen Sprengsatz entschärft.

Beat Girl zwischen Bikern und SS (2) (11 Bilder) [43]

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The Damned

Die Teddy Boys tollen auf dem Kiesstrand herum und liefern sich dann eine wilde Verfolgungsjagd mit Joan, am Crown Hotel vorbei und weiter zum Einhorn bei der King’s Statue, weil sie selbst noch etwas Kindliches haben. Loseys Sympathien gelten allemal den Teds (nicht der sinnlosen Gewalt, sondern der kindlichen Seite der Biker und dem Aufbegehren gegen eine Gesellschaft, die ihre jungen Leute vergessen hat) und nicht Bernard und seiner Truppe aus dem Edgecliff Establishment, die kommt und einen holt, wenn der Leiter der Forschungseinrichtung es befiehlt.

In The Small Back Room geht es um das Überleben der Demokratie. Beat Girl und The Damned stellen die Frage, was nun aus den Werten wird, für die im Krieg gekämpft wurde und die Britanniens Jugend in die Zukunft tragen müsste. Adam Faith als letztlich doch sehr braver Sänger und Gitarrenspieler sagt den originellen (und unfreiwillig komischen) Satz, dass Gewalt etwas für Spießer sei, aber die mehr durch den Film spazierenden als ihm angehörenden Teddy Boys bleiben das bedrohliche Element, das Beat Girl nicht domestizieren kann.

Losey nimmt das auf, versetzt die Teds nach Weymouth und erzählt dann eine Geschichte, in der gezeigt wird, dass es doch nicht die jungen Leute sind, vor denen man Angst haben muss, sondern die älteren Herren im Anzug eines britischen Gentleman. Bernards Befehle werden von Soldaten in schwarzer Schutzkleidung ausgeführt. Der Zusammenhang zur schwarz uniformierten "Schutzstaffel" (SS) der Nazis, gegen die gekämpft wurde, als man die Werte eines demokratischen Landes verteidigte, ist recht offensichtlich. Der Feind ist jetzt im Inneren. Die Kriegsschiffe im Ärmelkanal schützen nicht vor ihm.

Zensur und Regenschirm

Normalerweise traf sich der Firmenpatriarch James Carreras bei Zensurproblemen mit John Trevelyan (der später zum großen Fürsprecher Joseph Loseys wurde), um in informeller Atmosphäre gemeinsam eine Lösung zu finden. Trevelyan hatte aber einen längeren Urlaub angetreten. Einen Brief von Carreras (2. Juni), in dem dieser vorschlug, sich zum Lunch zu verabreden, beantwortete an Trevelyans Stelle Frank Cofts. Der frühere Kolonialbeamte wies Carreras noch einmal auf die lange Liste mit Änderungswünschen hin, die man Hinds am 27. April übermittelt habe. Der Streit wegen der Fahrradkette hatte sich inzwischen erledigt, weil Losey King lieber mit einem Regenschirm ausstattete, getragen wie ein Exerzierstock.

Gern würde man wissen, ob Losey Audrey Fields Gutachten gelesen hatte, als er die Einstellungen rund um das King-George-Denkmal drehte. Wenn sich die Teds da herumlümmeln, das Militär parodieren, Passantinnen anpöbeln und Touristen verprügeln, tragen sie alberne Hüte wie beim Kindergeburtstag. Das wirkt, als würde sich Losey über die gestrenge Dame vom BBFC und ihre Vorurteile lustig machen. Die Teds spielen die gewaltbereiten, auf der Entwicklungsstufe kleiner Kinder verharrenden Zuschauer, als die sich Audrey Field das Publikum der X-Filme vorstellte. Das Klischee wird lächerlich, wenn man es auf der Leinwand ausagiert sieht.

Zum Problem wurde nun der Regenschirm. Beim Überfall auf Simon sticht King mit der Spitze des Schirms auf ihn ein. Das BBFC untersagte das kategorisch. Die Fahrradkette im Drehbuch war schlimm gewesen, der Regenschirm in der fertig geschnittenen Szene war offenbar noch schlimmer. Am 21. November fragte Tony Hinds beim aus dem Urlaub zurückgekehrten Trevelyan an, ob er den Film nicht trotzdem mit einem X-Zertifikat freigeben könne, auch wenn King den Amerikaner (im Off) mit dem Schirm bearbeitete. Änderungen seien mit hohen Kosten verbunden - ein Argument, das bei Trevelyan üblicherweise auf offene Ohren stieß.

Zensur und Regenschirm (14 Bilder) [45]

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The Damned

Nicht in diesem Fall. Trevelyan blieb hart. "Wollen Sie mich bitte für meine Akten wissen lassen, was Sie hinsichtlich der Regenschirmeinstellung in The Damned entschieden haben?", schrieb er am 11. Dezember an Hinds. Hinds antwortete zwei Tage später, dass das nicht allein von ihm abhänge und er noch warten müsse, bis "jemand" sich entschieden habe. Dieser "Jemand" kann nur Losey gewesen sein, der sich ein Mitspracherecht gesichert hatte. Das Ganze schleppte sich noch ein halbes Jahr hin. Am 21. August 1962 konnte Hinds Trevelyan mitteilen, dass man den Regenschirm wie verlangt entfernen werde.

Ganz verschwunden ist er nicht. Was genau geschnitten wurde, ist nicht dokumentiert. Bemerkenswert ist, dass dieser Schirm das Potential hatte, die Freigabe des Films so lange aufzuhalten. Als bekennende Nicht-Fans von X-Filmen waren die Offiziere und Beamten sowie ihre Alibi-Frau im BBFC, in Umkehrung der dort gepflegten Denkmuster, keine Volltrottel, müssten also in der Lage gewesen sein, Ideen zu erkennen wie die, dass zwischen den Teds und dem Militär ein Zusammenhang besteht. Vielleicht lag es daran, dass sie der Regenschirm (Exerzierstock) so sehr reizte. Man kann sie nicht mehr fragen, nur spekulieren.

Zwei Jahre später, in The Servant, übernahm Dirk Bogarde den Schirm von Oliver Reed, dessen Vorgänger als junger Krimineller er in Sleeping Tiger gewesen war. Dieses Mal ist kein Dolch darin versteckt wie bei King, weil der Kampf des Dieners gegen seinen Herrn mit psychischen Mitteln ausgetragen wird, nicht mit physischen. Symbolisch bewehrt mit einem eingerollten Regenschirm, überquert Barrett (Bogarde) die King’s Road in Chelsea und biegt in die Royal Avenue ein, um bei Tony (James Fox) als Butler anzuheuern. So beginnt ein Film, der das englische Klassensystem auseinander nimmt und zeigt, wie viel zerstörerische Kraft darin steckt, wenn man sich den falschen Prinzipien verschrieben hat.

Wie aber geht es nun mit The Damned weiter? Was hat Weymouth, der Badeort in Dorset, mit einem Après-Ski-Dorf in Tirol zu tun? Warum hilft ein Literaturstudium gegen von Aerosolen übertragene Viren? Welche Rolle spielen Kaninchen auf Portland Bill? Warum mussten 40.000 Hunde sterben? Und wie kommen Heinrich VIII. und Lady Godiva in die Geschichte?

Antworten auf diese und auf andere Fragen gibt der 2. Teil: Unter Friedhofsvögeln [47]


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