Unter Friedhofsvögeln
Geometrie der Angst - Teil 2
Was bisher geschah: Der Wissenschaftler Bernard leitet auf Portland Bill ein geheimes Forschungsprojekt mit radioaktiven, in Zwangsquarantäne festgehaltenen und per Fernunterricht auf eine ihnen unbekannte Aufgabe vorbereiteten Kindern. Im nahe gelegenen Weymouth wird der amerikanische Tourist Simon Wells von King und seiner Bande von Teddy Boys überfallen. Ein Regenschirm, der dabei zum Einsatz kommt, ist der Anlass für monatelange Auseinandersetzungen mit den Zensoren vom BBFC, die Joseph Loseys The Damned, dem "Film für Volltrottel", die Freigabe verweigern.
H. L. Lawrence, der Autor der Romanvorlage, konnte sich nicht recht entscheiden, ob er einen Krimi, einen Politthriller oder eine Science-Fiction-Geschichte schreiben wollte und rührte dann noch eine für den Plot ganz überflüssige Jugendgang mit dazu, weil die Teddy Boys damals gerade in den Schlagzeilen waren. Wer ein solches Buch verfilmt, stellt sich besser auf Probleme ein. Bei Verleihern und Produzenten hat sich der Glaube eingebürgert, dass es das Publikum nicht schätzt, wenn ein Film schwer einzuordnen ist. Solche Filme mögen sie daher nicht - selbst dann nicht, wenn sie selbst die Rechte am Roman gekauft haben wie James Carreras, der Firmenpatriarch der Hammer, bei Children of Light.
Auch das dürfte ein Grund dafür gewesen sein, dass Loseys Film verspätet anlief und bald danach wieder verschwand. Sehr bedauerlich. The Damned ist das ideale Gegengift zur phantasielosen, in Buchhalterhirnen entstandenen und von austauschbaren Regisseuren produzierten Konfektionsware, mit der uns die Filmindustrie seit Jahren quält und immer öfter einschläfert.
Davon konnte man sich überzeugen, als die Firma Sony mit einer schönen Überraschung aufwartete und in ihrer Icons of Suspense Collection eine ungekürzte, in den frühen 1990ern im Fernsehen gezeigte Fassung des bis dahin nur verstümmelt auffindbaren Films auf DVD zugänglich machte. Eine treffende Beschreibung gab damals Jonathan Rosenbaum in seiner "Global Discoveries"-Kolumne. These Are The Damned (US-Titel), so Rosenbaum, habe er zum x-ten Mal gesehen und nun noch mehr genossen als zuvor:
"Der schiere Wagemut beim freien Vermischen aufeinander prallender Stimmungen und Genres - Biker-Action + Strand-Kunstgetue à la Antonioni + SF + dystopische Satire + Macdonald Careys pure B-Film-Verwirrung + philosophisches Geplaudere + perverse und kokette Erotik (komplett mit freudianischem Auspacken) - hört nie auf, mich zu erstaunen. A Clockwork Orange ein ganzes Jahrzehnt früher vorwegnehmend (via Oliver Reed), gelingt es dem Film auch, buchstäblich alle seine sympathischen Charaktere umzubringen, damit er aufhören kann wie Aldrichs Kiss Me Deadly, mit dem Ende der Welt, das bald danach folgen wird."
Fülle der Details
Losey war kein Detailfetischist wie Hitchcock oder Fritz Lang, aber doch beinahe. Auch bei ihm sind die sprechenden Einzelheiten aufgereiht wie Perlen an einer Schnur, an denen entlang er seine Geschichte erzählt. Der überfallene Simon Wells liegt stöhnend am Boden. Die Teds marschieren ab. Schnitt zu den Esplanaden. Die Bildhauerin Freya Nilsson fährt in ihrem Jaguar bei der ehemaligen Residenz des Duke of Gloucester vor. Das ist derselbe Wagen, mit dem King am Ende, beim Royal Victoria Hotel (jetzt: The Ferrybridge), ins Meer rasen wird. Das Gloucester, heute in ein Gebäude mit Pub und Wohnungen umgewandelt, war ebenfalls ein Hotel, als Losey in Weymouth drehte. Hier stieg die Filmcrew ab.
Die Jugendlichen in der Romanvorlage treiben als "Die Borgias" ihr Unwesen, nennen sich aber nach Figuren in Shakespeares Julius Caesar, weil italienische Namen zu schwer zu merken sind. Caesar, der Bandenchef, wird am Schluss von seinem Stellvertreter Brutus umgebracht. Die Teddy Boys im Film heißen Sid oder Ted. Losey hat ein anderes Stück ausgewählt, und er ist subtiler. Er verlässt sich darauf, dass Literaturfreunde bei "Gloucester" nicht so sehr an den Bruder von George III. denken werden, sondern vielmehr an den Gloucester, der bei Shakespeare, in King Lear, der Berater des Königs ist und geblendet wird.
Fülle der Details (11 Bilder)
Die Kamera ist auf der verglasten Veranda des Hotels postiert, mit Blick nach draußen. Mit einem Schwenk folgt sie dem vorfahrenden Jaguar. Dadurch gerät Bernard ins Blickfeld, der auf der Veranda ein Glas Wein bestellt hat, oder vielleicht einen Sherry, und die Zeitung liest. Mit dem Wagen kommt auch die Kamera zum Stehen (nicht ganz synchron, was den Perfektionisten Losey sicher ärgerte; für weitere Takes fehlte wohl die Zeit). Losey macht Gebrauch vom 2.35:1-Format, in dem er drehte, wenn auch nicht so, wie es im Kommerzkino üblich ist (der Mensch im Mittelpunkt).
Freya ist am rechten Bildrand zu sehen, Bernard am linken. Dazwischen hängt Bernards Gehstock am Rahmen des geöffneten Fensters. Die zentrale - und darum in der Bildmitte platzierte - Information ist der gebogene Griff dieses Stocks. Fast könnte man glauben, dass das der Griff eines Regenschirms ist. Bernards Stock und Kings Schirm sind Bindeglieder zwischen zwei scheinbar getrennten Welten, zwischen dem Anführer der Jugendbande und dem Leiter eines mysteriösen Regierungsprojekts, dem bildungsfernen Schläger und dem kultivierten Wissenschaftler.
Die Details geben dem Film seine erstaunlich dichte Textur. Bernard, der Berater des ominösen Ministers (anstelle des Königs wie bei Shakespeare), sitzt nicht im Hotel Gloucester, weil Loseys Crew ohnehin da abgestiegen und der Weg zum Drehort nicht weit war, sondern weil ihn die Leser und Theatergeher im Publikum mit Blindheit assoziieren sollen sowie mit Impotenz, in der Literatur und im Film häufig durch verlorene Sehkraft und Gehhilfen symbolisiert. Bernard ist außerdem, wie wir noch erfahren werden, auf einem Selbstmordtrip, auch wenn er das genaue Gegenteil von sich behauptet. Bei Shakespeare will sich der blinde Gloucester nicht allzu weit von Weymouth, in Dover, von der Klippe stürzen.
Bernard möchte im Edgecliff Establishment die Zukunft der Menschheit sichern, folgt dabei aber suizidalen Impulsen. Auf den Klippen von Portland steht auch seine Residenz, und gleich darunter liegt das in den Fels gehauene Haus, das er Freya, mit der er früher liiert war, als Atelier zur Verfügung stellt. Zum Dank hat sie ihm, dem Mann mit dem Gehstock, eine ihrer Skulpturen mitgebracht, einen Raben. Sie ist die Kreative von den beiden. Bei Bernard, den Freya mit einem langen Kuss begrüßt, sind Potenz und Leidenschaft erloschen.
Bernard stellt die Skulptur so auf den Tisch, dass es aussieht, als sei sein Stock ein Auswuchs des Kunstwerks geworden. Was das genau zu bedeuten hat, bleibt der Interpretation des Betrachters überlassen. Fast glaubt man, Loseys Regieanweisung zu hören, wenn Alexander Knox ein wenig nachkorrigiert, bis es richtig ist. Ich wäre gern dabei gewesen, als die Aufnahme entstand. Zufällig ist da nichts. Durch seine - mitunter kryptische - Liebe zum Detail zog sich Losey bei seinen Verächtern den Ruf zu, mehr Innendekorateur als Regisseur zu sein.
Tom Milne (Losey on Losey) ordnet The Damned in Loseys "späte mittlere Periode" ein, deren Filme er brillant und hypnotisch findet, aber auch rätselhaft und "überfüllt". Vor The Servant, so Milne, werde auf das hingewiesen, was man sehen soll; nach The Servant (mit Kunstwerken von Elisabeth Frink in Tonys Wohnung) werde weggelassen, was man nicht sehen soll. The Damned, ließe sich ergänzen, weist hin, sagt einem aber nicht, wie man das Gesehene interpretieren soll. Durch die "Überfüllung", also durch die Vielfalt der Details, wird das zum intellektuellen Abenteuer. Ein Film für Volltrottel ist The Damned nicht.
Der Großteil der Filmcrew reiste am Samstag an und nützte den Sonntag, um Aufnahmen für die Vorspannsequenzen zu machen, von den Klippen an der Südostseite von Portland Bill, des Felsvorsprungs am Ende der Halbinsel. Wir wissen schon, dass das ein Schnabel ist (siehe Teil 1, Michael Powell zu Chesil Bank und Portland Bill). Auf dem Schnabel formt Freya Vögel und Vogelmänner in einem Atelier, das in der Gegend als das Vogelhaus bekannt ist. So kommt eins zum anderen. Hammer-Veteranen, die eine andere Art des Filmemachens gewöhnt waren, gab das Rätsel auf.
Der Regieassistent John Peverall erzählt im Buch von Wayne Kinsey (Hammer Films. The Bray Studio Years) von einer intensiven Szene zwischen Shirley Anne Field und Macdonald Carey, die Losey plötzlich unterbrach, um ein Kunstwerk von Elisabeth Frink, das mit im Bild war, ein wenig zu verrücken. Außer dem Regisseur verstand das niemand am Set. Der Kameraassistent Harry Oakes erinnert sich an einen Sonntagvormittag auf Portland Bill, den das Team mit Warten verbrachte. Frink kam mit einigen Skulpturen aus London angereist und hatte sich verspätet. Ohne die Werke wollte Losey nicht mit dem Drehen anfangen.
Als die Skulpturen endlich da waren (Frinks’ "Reclining Figure" wurde in einem Krankenwagen angeliefert) verhüllte Losey sie mit Abdeckplanen, statt mit der Arbeit zu beginnen. Inzwischen war Mittag, und Losey erklärte, dass man die Werke vor der Sonne schützen müsse. Auch das stieß auf breites Unverständnis, zumal ein für Gipsarbeiten zuständiger Handwerker nicht allein mit seiner Meinung war, dass er die "Reclining Figure" in fünf Minuten selbst hätte anfertigen können. Die Geduld des Hammer-Personals wurde durch die Liebe zur "Überfüllung" genauso strapaziert wie die der Zensoren durch den Regenschirm.
Der Mann, der alle Antworten kennt
Offizieller Drehbeginn war am Montag, dem 8. Mai. Als erstes entstanden die Innenaufnahmen im Hotel Gloucester. Man kann sich gut vorstellen, wie Losey der auf Effizienz getrimmten Hammer-Crew gleich ordentlich auf die Nerven ging, weil ihm Detailgenauigkeit wichtiger war als Geschwindigkeit. Stets im Blick (und auch im Ohr) hatte er die Mehrdeutigkeit. Grenzziehungen sind schwierig in diesem Film mit der mit Stacheldraht umzäunten Forschungseinrichtung. Freya trägt schwarzes Leder wie Kings Bande. Wenn sie das Hotel betritt, ist wieder der "Black Leather"-Song zu hören. Er begleitet die Gloucester-Szenen, obwohl das eigentlich die Erkennungsmelodie der Teds ist.
Freya hat kaum Platz genommen, als zwei Männer den derangierten Simon Wells hereinführen. Einer der Männer hat gerade seinen Pass überprüft. Normalerweise würde man sich denken, dass das Kriminalbeamte sind; auch als Gangster würden sie eine gute Figur abgeben. Am nächsten Tag und 20 Filmminuten später werden wir sie in Uniform wiedersehen, im Lehrerzimmer des Edgecliff Establishment. Bernard stellt sie Freya jetzt als Major Holland und Captain Gregory vor. Holland hat seinen Militärstock daheim gelassen, weil er in Weymouth in Zivil ist.
Der Mann, der alle Antworten kennt (11 Bilder)
"Majors und Captains", sagt Freya spöttisch. "Gehören sie beide dir?" "Ja", erwidert Bernard trocken: "Und zuhause im Zwinger halte ich mir einen Colonel als Haustier." Freya schlägt die Augen nieder und wirkt betroffen, ganz so, als wisse sie mehr als wir. Das scheinbar harmlose Wortgeplänkel hat plötzlich einen sinistren Unterton bekommen. Am Ende, wenn Bernard die Hunde von der Kette lässt, gibt es nichts mehr zum Lachen. Das kündigt sich hier schon an. Dabei ist die Szene im Hotel Gloucester so dicht inszeniert, dass man leicht das Ungeheuerliche übersehen kann, das sich vor unseren Augen abspielt.
Eine Motorradgang mit jugendlichen Rowdys überfällt einen Touristen und raubt ihn aus. Damit ist zu rechnen. Aber was ist mit Holland und Gregory? Warum bringen sie den Amerikaner nicht auf ein Polizeirevier, damit er Anzeige erstatten kann, sondern zu Bernard in das Hotel? Warum ist Bernard der Vorgesetzte der Offiziere, obwohl er keinen militärischen Rang bekleidet? Frank Crofts vom BBFC fand das beunruhigend. Weil nicht erklärt wurde, was er gern erklärt haben wollte, ließ er seinen Vorurteilen freien Lauf. Statt den Film ernst zu nehmen, sah der Chef-Zensor in der Geschichte nur einen Vorwand für Sex und Gewalt.
Der Horror aber steckt in der Selbstverständlichkeit, mit der Bernard und seine Büttel agieren können, wie sie wollen. Nachdem die Offiziere gegangen sind entspinnt sich einer dieser Losey-Dialoge, die Produzenten zur Weißglut brachten, weil sie dem Publikum das Kompliment erweisen, ihm die eigene Denkfähigkeit zuzutrauen (immer besser als das blinde Vertrauen, das Politiker in Krisenzeiten haben wollen) und mit interpretationsbedürftigen Sätzen operieren wie in einem gepflegten Konversationsstück, statt einen mit leicht konsumierbaren Häppchen abzuspeisen.
Nachdem von netten alten Damen die Rede war, die Socken stricken, sagt Simon, dass er in England jemanden wie Bernard erwartet habe, keine Straßenbanden. "Das Zeitalter der sinnlosen Gewalt hat auch uns eingeholt", antwortet Bernard. Das ist so doppeldeutig wie fast alles in The Damned. Auf der einen Seite, so scheint es, sind da die Teds und auf der anderen ist dieser freundliche Herr im Tweedjackett, und doch wird sich bald zeigen, dass Bernard die Gewalt, die King und seine Bande offen zur Schau tragen, internalisiert und ideologisiert hat, er Menschen wie Schachfiguren behandelt in einem Spiel, dessen Sinnhaftigkeit erst noch zu hinterfragen wäre.
Nach dem, was ihm widerfahren sei, sagt Bernard, sei Simon sicher nicht in der Stimmung, ihm beim Moralisieren zuzuhören. Moralisieren tut er aber trotzdem. Er ist einer von denen, die Diskussionen abtöten, indem sie die Moralkeule schwingen und die Alternativlosigkeit der eigenen Entscheidungen mit dem Retten von Menschenleben begründen. Im Umkehrschluss werden Zweifler schuldig am Verlust von Menschenleben. Kommt einem das irgendwie bekannt vor? Nach dem jetzigen Stand der Forschung verringert sich in der Corona-Krise die Ansteckungsgefahr, wenn Leute in bestimmten Situationen eine Maske tragen und Abstand halten.
Also bin ich dafür. Aber rette ich damit Menschenleben? Werde ich zum Feuerwehrmann, Intensivmediziner oder wenigstens zum Bergdoktor, wenn ich ein Stück Stoff auf Mund und Nase habe und mir die Hände wasche? Es ginge auch eine Nummer kleiner. Das wäre aber nicht mehr so wirkungsvoll. The Damned treibt es auf die Spitze. Bernard fühlt die moralische Verpflichtung, das Überleben der gesamten Menschheit zu sichern. Damit lässt sich sehr viel rechtfertigen. Aus Bernard macht es den Mann mit der Lizenz zum Töten.
"Nur zu", antwortet Simon. "Ich höre gern Leuten zu, die wissen, wovon sie reden. Mein Problem ist, dass ich nie etwas von dem glaube, was sie sagen." Freya: "Gut für Sie." Simon: "Meinen Sie?" Freya: "Ja, das tue ich." Simon: "Ich nicht. Die Leute, die alle Antworten kennen, sind viel glücklicher." Freya: "Warum sind Sie dann nicht einer von denen?" Simon: "Das habe ich Ihnen gerade gesagt. Ich mag die Antworten nicht." Zwischen Simon und Freya sitzt Bernard, der die Antworten verabsolutiert, indem er sie moralisch auflädt, während die beiden anderen das Recht und die Freiheit für sich reklamieren, sich ein eigenes Urteil zu bilden und von Fall zu Fall zu entscheiden.
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