Unter Friedhofsvögeln
Seite 4: Lady Godiva und der Atomreaktor
In Children of Light wollen die Jugendlichen Simon aufhängen, nur so zum Spaß. Sie sind gewalttätig um der Gewalt willen. Barzman hatte das beibehalten, das BBFC heftig dagegen protestiert. Im Film ist der Anführer der Bande ein komplexbeladener junger Mann, den eine inzestuöse Liebe zu seiner Schwester quält. Die Überfälle auf Touristen wie Simon Wells sind eine Ersatzhandlung, bei denen das erbeutete Geld nur ein Nebenprodukt ist. Joan lockt in Kings Auftrag die Opfer an. Dann geht ihr Bruder dazwischen und bestraft die "schmutzigen Männer" für ihre Gelüste, stellvertretend für sich selbst und das eigene Begehren.
Zwei von den Teddy Boys haben einen Namen. Der eine verkörpert das Klischee vom präpotenten Jugendlichen in der Bikerkluft; er heißt der Einfachheit halber Ted. Der andere, Sid, könnte eine jener Shakespeare-Figuren sein, die kaum Dialog haben und trotzdem wichtig sind, weil es neue Erkenntnisse zu gewinnen gibt, wenn sie den Mund aufmachen. "Glücklich mit dem, was du da tust, Joanie?", fragt Sid, als Simon verletzt am Boden liegt. Gemeint ist: Glücklich mit dem Psychodrama, das du mit deinem Bruder aufführst und in dem du die Rolle der Hure zu spielen hast, damit King deinen Beschützer geben kann?
Lady Godiva und der Atomreaktor (15 Bilder)
Joan weiß keine Antwort, wird aber die erste Gelegenheit ergreifen, um vor der verbotenen Liebe ihres Bruders zu fliehen. Im Roman lässt sie sich mit Simon ein, weil Lawrence das für den Plot braucht und jemand seinen Helden retten muss. Im Film hat sie einen Grund. Joan sucht einen Ausweg und taucht deshalb am Morgen nach dem Überfall bei Simons Boot auf, der Dolce Vita. Das von Sid aufgeworfene Thema wird nun fortgesetzt. Statt Abbitte für den Überfall zu leisten, wirft Joan dem Amerikaner vor, sie wie eine Nutte behandelt und nicht einmal nach ihrem Namen gefragt zu haben.
Weil über Bande gespielt wird gilt das auch King, der bereits im Anmarsch ist. "Und wer sind Sie denn", will Simon wissen, "Lady Godiva?" Auch so kann man die vom BBFC verbotene Nacktheit in den Dialog einbringen. Der Legende nach ritt Lady Godiva unbekleidet, nur mit ihrem langen Haar bedeckt, durch Coventry, weil ihr Mann versprochen hatte, dann die Steuerlast der Bürger zu senken. "Lady Godiva" war auch der Name eines nicht abgeschirmten Reaktors in Los Alamos, den man gebaut hatte, um Testobjekte zu bestrahlen. Der Physiker Otto Frisch nannte den Apparat "Lady Godiva", weil er nackt und ungeschützt war.
Der in Österreich geborene Frisch war vor den Nazis nach England geflohen und gehörte der britischen Delegation beim Manhattan-Projekt an. Ich glaube nicht, dass Losey und Jones über das "Godiva Device" informiert waren, als sie an den Dialogen arbeiteten, aber wer weiß das schon so genau? Vielleicht taucht irgendwann eine FBI-Akte auf, aus der hervorgeht, dass The Damned doch aus politischen Gründen zurückgehalten und Losey wieder einmal verdächtigt wurde, der Agent Josef Stalins zu sein. In einen Film, in dem Joan und Simon bald radioaktiven Kindern begegnen werden, passt Lady Godiva jedenfalls sehr gut.
Nachdem man in Coventry angefangen hatte, Godivas Ritt bei einen jährlichen Prozession zu feiern, wurde die Legende durch Peeping Tom erweitert, den angeblich einzigen Bürger, der es gewagt hatte, zuzuschauen, und der zur Strafe erblindet war. Wenn sie Lady Godiva wäre, sagt Joan nun also, würde das aus Simon Peeping Tom machen. Simon, heißt das, zieht Joan mit Blicken gleichsam aus. So überlistet man die Zensur, die einen solchen Dialog, im Klartext formuliert, niemals zugelassen hätte.
Um einen Spruch des Literaturkritikers Denis Scheck abzuwandeln: Wer Filme für Volltrottel sieht, ist klar im Vorteil. Man ist aufgerufen, nach versteckten Bedeutungen zu suchen, die Pharisäerinnen wie Audrey Field verboten haben und trainiert so sein Gehirn. Im Godiva-Dialog ist auch eine kleine Gemeinheit Loseys seiner ungewollten, ihm aufgezwungenen Hauptdarstellerin gegenüber eingebaut. In Michael Powells Peeping Tom spielt Field einen Kinostar. Die Darstellerin treibt den Regisseur ihres neuesten Films durch ihre Talentlosigkeit fast in den Wahnsinn.
Wir wollen Losey zugute halten, dass er Field in einer Szene das Talent abspricht, in der er andererseits verlangt, Frauen wie Joan mit mehr Respekt zu behandeln, als Simon es bisher gemacht hat. Man kann den Peeping-Tom-Verweis auch als Solidaritätsbekundung mit einem Kollegen verstehen, dessen Meisterwerk das BBFC mit zahlreichen Schnittauflagen versehen und die britische Presse in nie da gewesener Einigkeit mit Verbalinjurien überzogen hatte wie keinen Film zuvor. Nach dem Skandal war Powells Regiekarriere in Großbritannien beendet. Peeping Tom verschwand auf Jahre hinaus in der Versenkung und wurde mit einem Schweigetabu belegt wie das Kaninchen auf Portland Bill (dazu gleich mehr).
Dolce Vita mit Vorgeschichte
Die Szene am Kai, wo Simon sein Boot festgemacht hat, bietet die Gelegenheit zu einem Neuanfang. Simon und Joan stellen sich einander vor, dann reicht Simon der jungen Frau die Hand und lädt sie ein, an Bord zu kommen. Man kann auch sagen, dass das Loseys Versuch ist, das Beste aus der Liebesgeschichte zu machen, auf die man bei der Hammer keinesfalls verzichten wollte. Die sich anbahnende Romanze reichert er mit ein paar Informationen über seinen Helden an. Simon erzählt, dass er auf seinen Job als leitender Angestellter einer Versicherung keine Lust mehr hatte und ausgestiegen ist.
Mag sein, dass er einer der GIs war, die hier im Zweiten Weltkrieg für die Invasion in der Normandie eingeschifft wurden und dass er mit seinem Boot gekommen ist, um Weymouth unter friedlicheren Umständen wiederzusehen. Oder er hat schlimme Dinge in Warschau erlebt wie der Journalist Larry Wilder, den Carey in The Lawless spielt, Loseys zweitem Hollywoodfilm. Nach einer bewegten Karriere als Auslandskorrespondent für große Blätter hat Wilder die Zeitung des Provinznests Santa Maria in Kalifornien übernommen und will nur noch eine ruhige Kugel schieben, bis ihn Rassismus und Lynchjustiz zwingen, Stellung zu beziehen.
Wilder und Wells sind Charaktere, von denen Losey sagte, dass sie ihm sehr ähnlich seien: Leute mit einer eigenen Meinung, die sich nicht politisch engagieren wollen, bis sie etwas sehen, das sich nicht mehr ungesehen machen lässt und das sie in Konflikt mit anderen bringt. In seinem eigenen Fall war das der Konflikt mit den rabiaten Antikommunisten in seiner amerikanischen Heimat, die Berufsverbote für politisch Andersdenkende erwirkten (für Losey eine Form von Exekution) und seinen Namen notierten, als The Lawless im Daily Worker positiv besprochen worden war.
"Der Faschismus fängt wieder an", schrieb er 1949 an eine Freundin in Finnland. "Unverkennbar und schneller. Stück für Stück geben die Liberalen und die aufrechten Demokraten ihr Recht auf politische Mitwirkung auf." Vielleicht ist das der Grund, aus dem Simon - wie Losey - die USA verlassen hat und nach Europa gekommen ist. Durch Joan wird er in einen neuen Konflikt hineingezogen, statt auf der Dolce Vita das süße Leben genießen zu können. Prompt sehen wir die Stiefel der Teds, die auf dem Weg zu ihm sind. King hat wieder den Schirm dabei, dessen Griff sich in einen Dolch verwandeln lässt.
Dolce Vita mit Vorgeschichte (1) (25 Bilder)
Tony Hinds fand die Beziehung zwischen den Geschwistern verwirrend und verlangte mehr Klarheit. Losey erfüllte ihm diesen Wunsch und besorgte King ein ausziehbares Phallussymbol, mit dem er droht wie ein eifersüchtiger Liebhaber. "Denkst du, ich würde es zulassen, dass dich ein Mann mit seinen schmutzigen Händen anfasst?", fragt der Bruder die Schwester mit steil aufgerichteter Klinge. In einem Zwischenschnitt sehen wir Sid. Er ist Mitglied der Gruppe und doch ein irritierendes Element, weil er begriffen hat, was vor sich geht. King bemerkt Sids Blick, wird unsicher und steckt das Messer weg.
"Los, Joan, gib’s auf!", ruft der davonfahrende Simon der Schwester des Königs zu, während die Bande einen Veitstanz aufführt und ihm höhnisch hinterher johlt. Joan soll das semi-inzestuöses Leben mit einem Bruder aufgeben, der sie auf die Straße schickt, um Männer anzulocken, die er dann verprügeln kann. Kaum zu fassen, dass das vom selben BBFC durchgewinkt wurde, dessen Einwände zwei Jahre davor dazu geführt hatten, dass Beat Girl ohne die erste Szene in britischen Kinos lief, zulasten des Verständnisses.
Dolce Vita mit Vorgeschichte (2) (9 Bilder)
In dieser Szene sitzt David Farrar mit der viel jüngeren Französin, die er fünf Tage davor in Paris geheiratet hat, in einem Zugabteil, auf dem Weg zurück nach London und zu seiner Tochter, der Titelheldin. Nachdem davon die Rede war, dass nicht nur in England, sondern auch in Frankreich Kühe auf der Weide stehen (Kühe haben Euter), küsst der Ehemann seine Gattin zwar nicht auf die Brust, wohl aber auf den Hals. Nicht auf britischen Leinwänden, sagte das BBFC. The Damned ist viel suggestiver. Ob Field und Crofts von Kings Regenschirm so geblendet waren, dass sie für alles andere blind und taub wurden?
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