Unter Friedhofsvögeln

Seite 3: Auf die Wissenschaft hören

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Offenbar auf Druck von Tony Hinds wurde in den Dialog der "Minister" eingefügt, mit dem Bernard vor Beginn der Handlung geredet hat. Hinds wollte wohl nicht gleich den nächsten Zoff mit dem BBFC riskieren. Seit es die Corona-Krise gibt finde ich, dass das dem Film mehr genützt als geschadet hat. In Pandemie-Zeiten ist viel davon die Rede, dass die Politik "auf die Wissenschaft hören" müsse. Das ist sicher richtig, übersieht aber auch ein wenig, dass "die Wissenschaft" keine Behörde ist, kein Verein und kein Professor, sondern eine Methode zum Gewinnen und Vertiefen von Erkenntnissen.

Das Verwerfen von Erkenntnissen ist ebenfalls dabei. Nach den Geisteswissenschaftlern haben auch die Naturwissenschaftler längst verstanden, dass es so etwas wie die "objektive Wahrheit" eventuell gibt, es aber extrem schwer ist, zu ihr hinzukommen, wenn nicht unmöglich. Bei Studien ändern sich die Ergebnisse mit der Zahl der Probanden. Die Experimente sind Legion, die, wenn bei gleicher Versuchsanordnung wiederholt, zu unterschiedlichen Resultaten führen. Die Wirklichkeit hängt von der Perspektive ab, aus der man sie sieht. Mit Heisenbergs Unschärferelation hat sich die Physik von dem Glauben verabschiedet, dass es eine vom Betrachter unabhängige Realität gibt.

Karl Popper hat daraus seine Schlüsse gezogen und die Falsifikation zum Wesenskern der Wissenschaft erklärt. Der Wahrheit nähert man sich nicht an, indem man nachweist, was richtig ist, sondern indem man herausfindet, was falsch ist. Der Weg zur Erkenntnis führt über die Widerlegung von Annahmen und vermeintlichen Gewissheiten, die sich durch kritische Befragung als falsch herausstellen. In der dauernden Korrektur liegt insofern die Stärke der Wissenschaft, nicht eine Schwäche. In Phasen der Verunsicherung sind aber Leute gefragt - in den Quasselsendungen des Fernsehens beispielsweise -, die es immer schon gewusst haben und die keine Zweifel haben (oder diese für sich behalten).

Der als "Star-Virologe" und "Merkel-Flüsterer" verunglimpfte Christian Drosten agiert als souveräner Wissenschaftler, wenn er, je nach aktuellem Forschungsstand (dem Teil davon, den er kennt), Fehler korrigiert und Irrtümer eingesteht. Ein dankbares Opfer für die mit Stammtischparolen handelnde Boulevardpresse ist er auch. Jeder Praktikant kann ältere und neuere Drosten-Aussagen so kombinieren, dass der Eindruck entsteht, er sei ein schlechter Ratgeber, wenn man den Erkenntnisprozess zwischen Alt und Neu weglässt. In der Krise werden aber Protagonisten gewünscht, die Entschlossenheit und Tatkraft ausstrahlen.

Sich durch ein Trial-and-Error-Verfahren empor zu arbeiten ist gut für die Wissenschaft und nicht so sehr für ein Metier, in dem Protagonisten mit hohen Umfragewerten bedacht werden, die wissen, dass man mit Symbol- und Ankündigungspolitik Punkte macht, nicht mit Zweifeln an der Sinnhaftigkeit von Vorschriften. "Auf die Wissenschaft hören" wird in diesem Umfeld selbst dann zum Problem, wenn man "die Wissenschaft" auf eine einzige Disziplin reduziert, statt andere mit einzubeziehen, weil das Leben nicht nur aus Viren und deren Eindämmung besteht.

Demokratietest

Das Eingestehen von Fehlern gehört nicht zur Berufsbeschreibung des Politikers, und man kann die Schuld an Kehrtwenden auch nicht dauerhaft den wissenschaftlichen Beratern zuschieben, weil das vom Wahlvolk früher oder später nicht mehr akzeptiert wird. Der "Minister" in The Damned hat entsprechend reagiert. Er hört nicht auf "die Wissenschaft", sondern auf einen einzelnen Wissenschaftler. Mit Bernard hat er sich einen ausgesucht, der "alle Antworten kennt" und mit der Betriebsblindheit von dem, der weiß, was richtig ist, auf ein Ziel zusteuert, das er als das einzig mögliche definiert hat.

Bernard ist der Wissenschaftler, den sich autoritäre Charaktere wünschen. Wenn er das Lehrerzimmer betritt wird es ruhig, dreht sich alles nur noch um ihn. Bernard ist der Mann, der Kollegen Anweisungen erteilt, statt die Debatte zu suchen und der Fragen nicht etwa begrüßt, was für einen Wissenschaftler zum guten Ton gehört, sondern (die ihm exklusiv bekannten) Antworten auf ein vages Später verschiebt, "wenn die Zeit gekommen ist". Wer wie er Maßnahmen nicht erklären, keine Kriterien für sein Handeln nennen und diese nicht begründen muss, sagt der Film, verrennt sich in einem geschlossenen Denksystem.

Demokratietest (7 Bilder)

The Damned

In The Damned hat das katastrophale Konsequenzen. Ohne Öffentlichkeit, ohne Evaluierung vermeintlicher Fakten, ohne Widerstreit der Meinungen und ohne parlamentarische Kontrolle haben plötzlich Leute die Macht über Leben und Tod, die diese keinesfalls haben sollten. In Verbindung mit einer intransparenten Staatsgewalt, sagt The Damned, führt diese Form von alternativloser Wissenschaft in die Diktatur. Indem er zeigt, wie es nicht sein sollte, gibt der Film Hinweise darauf, was "auf die Wissenschaft hören" bedeuten müsste.

Damit reicht The Damned die Verantwortung dorthin zurück, wo sie hingehört: an die Politik, repräsentiert durch einen Minister, der einem Parlament aus gewählten Volksvertretern gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Anhand der eigenen Empfindungen beim Sehen dieses Films kann man - zuhause und ohne Rachenabstrich - den Demokratietest machen: Werden das Fehlen demokratischer Institutionen und Verfahrensweisen schmerzlich vermisst, oder gibt man sich (vor dem bitteren Ende) damit zufrieden, dass Bernard entscheidet, was gemacht wird, weil er ein Experte ist, der schon wissen wird, was zu tun ist und keine Zweifel zulässt, statt diese als eine Stärke zu begreifen?

Vielleicht hängt die Antwort auf die Frage, ob eine Regierung "alles, aber auch alles richtig gemacht" hat oder nicht (siehe Teil 1), letztlich doch nicht davon ab, ob die Verantwortlichen ein Sammelsurium von Vorschriften präsentieren und deren Einhaltung von Hubschraubern überwachen lassen. Langfristig könnte es sich als entscheidender erweisen, ob sie einen Plan haben und wie sehr ihnen daran gelegen ist, demokratische Spielregeln einzuhalten. Wenn Corona-Umfragekönige im August darauf aufmerksam werden, dass Auslandsreisende irgendwann wiederkommen und infiziert sein könnten, bleibt noch Raum für Verbesserungen.

Ministerpräsident Söder musste viel Kritik dafür einstecken, dass er hektisch Testzentren an Bayerns Autobahnen einrichten ließ und damit nicht zum ersten Mal die Leute überforderte, die seine eher spontanen Ideen ausführen müssen. Besser schnitt Gesundheitsminister Spahn ab, obwohl auch ihm erst am Ende der Reisezeit auffiel, dass die Reisezeit endete. Eine Testpflicht für Reiserückkehrer ist selbst dann ein Eingriff in die Grundrechte, wenn man prinzipiell dafür ist. In einer parlamentarischen Demokratie, denkt man sich, müsste so etwas im Parlament diskutiert werden, gern sehr kontrovers.

Leider war das wieder einmal nicht möglich, weil die Abgeordneten im Urlaub waren, als Spahn öffentlich über eine solche Testpflicht nachdachte. Im Juni, als man auch schon über mögliche Folgen der wieder zugelassenen Auslandsreisen hätte nachdenken können, wären sie noch da gewesen. Ich kann mich an Aussagen des Ministers erinnern, der prüfen wollte, ob eine Testpflicht mit den bestehenden Gesetzen vereinbar sei, ob es einer Ergänzung bedürfe (schwierig, wenn die Volksvertretung im Urlaub ist) oder was sonst zu machen sei. Irgendwie blieb das eine Geschichte ohne Fortsetzung.

Die Bundestagsdebatte wurde ersetzt durch Meinungsumfragen, denen zufolge mehr als 90 Prozent der Deutschen für eine Testpflicht waren. Es gab auch Umfragen, wer für die Tests bezahlen soll. Nicht abgefragt wurde, wer dann für eine Testpflicht ist, wenn sichergestellt wurde, dass sie sich im Rahmen der bestehenden Gesetze bewegt, dass die Beschneidung der Grundrechte verhältnismäßig ist und dass Alternativen erörtert wurden. Vermutlich hatten doch die besorgten Bürger recht, die dem vom Hubschrauber verfolgten Familienvater wegen Verstößen gegen die Solidaritätspflicht die Leviten lasen (siehe Teil 1). Gesundheit vor Grundrechten. Zu blöd, dass sich ein Virus nicht für Meinungsumfragen interessiert.

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