Unter Friedhofsvögeln

Seite 6: Vergewaltigung der Kunst

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Vergewaltigt wurde aber nur der Film, durch das BBFC und seine Regeln zum Schutz der Volltrottel mit gewalttätigen Neigungen, die in der Vorstellungswelt der Zensoren als Publikum für einen Film wie The Damned allenfalls in Frage kamen. Durch das Motorengeräusch alarmiert, fliehen Joan und Simon aus dem Haus. Freya findet nur noch das zerknüllte Bett und die Reste ihrer Vorräte vor - und King, der auf der Suche nach seiner Joanie ist. Joans Bruder fehlt jegliches Kunstverständnis, und man fragt sich wieder, ob damit auch die Zensoren gemeint sein könnten, oder überhaupt alle, die Losey ins Handwerk pfuschten, repräsentiert durch den Anführer einer Schlägertruppe.

Zwischen King und Freya steht der Torso eines Ritters, oder eines Kriegers aus der Antike (Frinks "Warrior", entstanden um 1954). King kann die Hände nicht von der Skulptur lassen, legt sie ihr um den Hals, als wolle er sie - und damit Freya? - strangulieren. Der Dialog liefert den begleitenden Kommentar dazu. Er kenne Leute wie Freya, sagt King, Leute ohne Moral. "Vielleicht ist meine Moral eine andere als die Ihre", gibt Freya zurück, aber für jemanden wie King gibt es nur eine Moral, die eigene. Der junge Mann hat etwas überraschend Spießiges.

Vergewaltigung der Kunst (1) (16 Bilder)

The Damned

King schaut sich nervös um, als wären die Kunstwerke eine Bedrohung, sieht einen ausgemergelten Mann und einen Pferdekopf ("Horse’s Head", ca. 1954). Abfall sei das, böse und widerlich, sagt er und legt jetzt, mit Blick auf Freya, die Hände auf die Brüste der Figur, weil es in dieser eindringlichen Szene, neben der Aversion gegen die Kunst, um die Unterdrückung der Sexualität geht, und um die Gewalt, die daraus resultiert. Das hänge davon ab, wie man ihre Werke betrachte, erwidert Freya, und: "Was hat meine Moral mit Ihrer Joanie zu tun?"

King bringt das noch mehr in Rage. Er steckt die Finger in die leeren Augenhöhlen des "Warrior", spuckt ihn an und rennt mit einem Schnitzbeil nach draußen, um auf eine liegende Skulptur einzuschlagen und tatsächlich Abfall aus der Kunst zu machen, wo bisher keiner war. Freya versucht, den Vandalismus zu verhindern. Losey filmt den Kampf der beiden wie eine Vergewaltigung, nur dass eben die Kunst vergewaltigt wird und die von der Norm abweichende Weltanschauung. "Wie konnten Sie so grausam sein?", fragt Freya. "Es hat mir Spaß gemacht, liebe Lady", antwortet King.

Philip French hat als erster darauf hingewiesen, dass diese Szenen Alex' Begegnung mit der Cat Lady vorwegnehmen. Wem die stilisierte Hässlichkeit, das gewollt Obszöne und die überbordende Brutalität in Kubricks A Clockwork Orange zuviel sind: The Damned ist keine schlechte (und eine poetischere) Alternative. Wie Kubrick kontrastiert auch Losey die sinnlose Gewalt jugendlicher Schläger mit den Aktivitäten sinistrer staatlicher Institutionen, um zu zeigen, dass sich in den Verbrechen der einen Gruppe die der anderen spiegeln. The Damned ist weniger zynisch. Sie glaube ihm nicht, dass ihm das Spaß gemacht habe, ruft Freya King hinterher, weil Gewalt nur so zum Spaß nicht das letzte Wort sein kann.

Vergewaltigung der Kunst (2) (9 Bilder)

A Clockwork Orange

Ganz anders läuft Freyas Begegnung mit Sid ab. Auch er kommt ins Atelier, reicht ihr aber eines ihrer Werkzeuge, damit sie ihre Arbeit fortsetzen kann. Diese eine Geste sagt mehr als eine Seite Dialog. Man erfährt viel über die Charaktere, wenn man auf die Gegenstände achtet, die sie in der Hand haben, und was sie damit machen. Später, im Steinbruch, erzählt Sid von sich. Es wirkt, als sei Freya die erste, die ihm tatsächlich zuhört. "Ich weiß, dass es Kinderkram ist, sich in einer Gang herumzutreiben", sagt er, "aber was soll man sonst tun?"

Das ist Loseys Kommentar zu einer Gesellschaft, die jungen Leuten wie Sid kein Angebot macht und sich nicht wirklich für sie interessiert. Das könnte eine Anregung sein, neu nachzudenken, bevor man sich über die Verantwortungslosigkeit des "Partyvolks" empört, das trotz Corona auf öffentlichen Plätzen feiert, nachdem Politiker die üblichen Treffpunkte geschlossen haben, ohne zu überlegen, wie Ersatz zu schaffen wäre. Per Verordnung Sachen zu verbieten, wenn frühere Verbote die erwartbaren Folgen haben, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Nicht nur in Weymouth haben junge Leute keine Lobby.

Wissenschaft und Apokalypse

Arthur Grant, zuvor schon Kameramann bei The Stranglers of Bombay und Hell Is a City, profitierte sehr von der Zusammenarbeit mit Losey und Macdonald. The Damned wäre mein Kandidat für den am besten photographierten Hammer-Film in Schwarzweiß. Einer der Drehorte war das Gelände um die St. George’s Church, errichtet aus dem gleichen Portland-Kalkstein, aus dem nach dem großen Brand von 1666 Teile Londons wieder aufgebaut wurden. Die Bilder von der damals noch nicht restaurierten Kirche und dem sie umgebenden Friedhof sind sehr atmosphärisch und der perfekte Übergang in das Reich des Todes.

Simon und Joan versuchen, durch den mit Gras überwucherten Friedhof zu entkommen, aber da wartet schon King wie ein Vampir, der seine Gruft verlassen hat oder, besser noch, ein Vogel der Nacht. Das ist wieder ein schönes Beispiel dafür, wie Losey die Geschichte in Bildern und Motiven erzählt. Freya schenkt Bernard eine Skulptur, die sie ihren "Friedhofsvogel" nennt. Bernard und sein Projekt werden damit erstmals mit dem Tod assoziiert, obwohl er selbst sagen würde, dass es dem Leben dient, dem Fortbestand der Menschheit nach dem Atomkrieg (wer das weiß, nimmt das Geheimnis allerdings mit ins Grab).

Bernard sammelt Freyas Kunst und King zerstört sie, doch beide sind gewalttätig. Der eine, Bernard, hat die Gewalt internalisiert; der andere, King, trägt sie nach außen. Beide sind Anführer von schwarz gekleideten Männern. Aus dem Dunkel der Nacht tauchen die Teddy Boys auf. King kommuniziert vom Grabstein aus mit ihnen, indem er die "Black Leather"-Melodie pfeift. Er wird so selbst zum Friedhofsvogel und jetzt dann gleich, am Fuß der Klippe, in den unterirdischen Teil des Edgecliff Establishment eindringen, in das Bernard Freyas Skulptur mitgenommen hat.

Wissenschaft und Apokalypse (17 Bilder)

The Damned

James Bernard überführt den "Black Leather""-Song in die Musik für eine Verfolgungsjagd und zitiert noch kurz seine Komposition aus Quatermass 2 an, die dort die Annäherung an den geheimen Forschungs- und Reproduktionskomplex begleitet. Hier ist es das Labor von Bernard und nicht das der Außerirdischen, das angekündigt wird, musikalisch verbunden mit den Teddy Boys. Die Filmmusik, sagt Losey in einem Interview, müsse eine genaue Beziehung zur jeweiligen Szene haben und - wie der Ton insgesamt - kontrapunktisch wirken, statt zu verdoppeln. James Bernard hat das mustergültig umgesetzt.

Umstellt von den Teds, bleibt Joan und Simon nur noch, über den Zaun des Edgecliff Establishment zu klettern. Dabei lösen sie einen Alarm aus. Von schwarz gekleideten Wachmannschaften mit Spürhunden gejagt, stürzen sie - wie Frinks fallende Männer - von der Klippe, King etwas später ebenfalls. Wie kommen Unbefugte in ein militärisch abgeschirmtes Forschungslabor der Regierung? Im Roman von Lawrence fallen sie in einen Schacht, schon sind sie drin. Losey war das zu unterkomplex. Im Film gibt es am Fuß der Klippe einen geheimen Zugang, ausgestattet mit einem speziellen Sperrmechanismus.

Nach dem nuklearen Holocaust, wenn die Erde atomar verseucht ist, so Bernards Zukunftsszenario, wird ein eingebautes Messgerät die Tür automatisch öffnen und die Kinder in die Freiheit entlassen, damit sie ein neues Menschengeschlecht begründen können. Bernard hat dabei die Möglichkeit nicht bedacht, dass seine Versuchskaninchen, weil radioaktiv, die Tür selbständig öffnen können. So wendet sich sein Plan gegen ihn. Statt zu ertrinken, werden Joan, Simon und King von den Kindern aus dem Wasser gefischt und in die Höhle gebracht.

Auch Losey hat einen Plan und mischt ein wenig Religion bei. Die religiöse Symbolik säumt den Weg zu den Katakomben. In Freyas Atelier steht eine von Elisabeth Frinks Jesus-Figuren, von da führt der Weg zur Kirche und zum Friedhof und weiter zum Edgecliff Establishment. "Die Teufel sind über die Klippe gegangen", sagt einer von den Wachmännern, nachdem die Eindringlinge verschwunden sind. Die Kinder, die diese "Teufel" in ihre Höhle bringen, tragen eine Art Schuluniform für die Nacht. Beim Entwerfen dieser Mäntel ließen sich Losey und sein Designer Richard Macdonald von Mönchskutten inspirieren.

So schleicht sich die religiöse Ikonographie in Bernards streng wissenschaftliches Projekt. Der Forscher selbst ist ein Apokalyptiker wie jene frühen Christen, die daran glaubten, dass erst der Weltuntergang kommen müsse, ehe - banal gesagt - alles ein gutes Ende nehmen konnte. "Und die Könige auf Erden […]", heißt es in der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel, "verbargen sich in den Klüften und Felsen an den Bergen." In Bernards Szenario ist Johannes' "Tag des Zorns" der Atomkrieg, mit den Kindern als den Königen in der Höhle.

Wenn man erst die Anspielungen entdeckt hat, wirkt das gar nicht mehr so wissenschaftlich, wie Bernard sich und sein Projekt versteht. Losey kannte sich mit solchen Dingen aus. Aufgewachsen im Mittleren Westen der USA (in La Crosse, Wisconsin), hatte er eine "Church-of-England-Ausbildung" genossen, wie er selber sagte - mit der Mitgliedschaft in der Episkopalkirche als Nachweis für die Zugehörigkeit zu den höheren Schichten und abendlichem Bibellesen, an das er sich später gut erinnern konnte.

Superspreader, Aliens und Fake Memories

Loseys größter Einwand gegen die Romanvorlage war die, dass ihn die zentrale Idee - die radioaktiv verseuchten Kinder, die selbst immun gegen die atomare Strahlung sind - nicht überzeugte. Aus heutiger Sicht scheint sie wie gemacht für die Coronakrise. Bei den derzeit verfügbaren Studien ist für jeden etwas dabei. Kinder spielen "keine herausragende Rolle in der Ausbreitungsdynamik", wie man im Covid-19-Sprech sagt. Oder aber das Gegenteil ist der Fall, wie manche Experten meinen. Kinder zeigen demnach selten Krankheitssymptome, sind aber wahre "Virenschleudern".

Aktuell neigt sich die Waage weg von der Superspreader-Hypothese, aber das könnte sich ändern, wenn es mehr Daten gibt, die vergleichbar sind und sich die Fachleute nicht mehr in den Hinweis flüchten müssen, dass dieses Virus neu ist und man deshalb noch sehr wenig darüber weiß. Ohnehin kriegt man Informationen, einmal in die Welt gesetzt, nicht mehr so leicht aus den Köpfen raus, auch wenn sie falsch sind. Selbst immun und hoch infektiös: Das ist das Material für ein Horrorszenario. The Damned liefert die Geschichte dazu.

Superspreader, Aliens und Fake Memories (13 Bilder)

The Damned

Die neun Kinder, die Bernard weggesperrt hat, zeigen keine äußerlichen Anzeichen einer Erkrankung. Ein erster Verdacht keimt auf, dass mit dieser Gruppe von Elfjährigen etwas nicht in Ordnung sein könnte, als Victoria Joan die Hand gibt. Die Hand des Mädchens ist eiskalt und erwärmt sich durch den Körperkontakt auch nicht. Die Erwachsenen sind durchnässt und frieren. Die Kinder wissen nicht, was Husten und Schnupfen sind. Die Wärme eines menschlichen Körpers haben sie noch nie gespürt. Artig bitten sie um die Erlaubnis, die Gesichter von Joan und Simon berühren zu dürfen.

King kommt als Nachzügler in die Höhle und erschrickt, weil die Kinder so kalt sind. Im ersten Moment hält er sie für tot. Damit ist er auf der richtigen Spur. Die Kinder sind nicht tot, sondern tödlich. Mit jeder Berührung steigt für die Erwachsenen das Risiko, einer letalen Strahlendosis ausgesetzt zu sein. Sie wissen es nur nicht. In der Szene ist zum Greifen nah, was Bernards Geheimniskrämerei für Folgen hat. "Es gibt Dinge", sagt Victoria wie auswendig gelernt zu Simon, "die du nicht verstehen kannst. Du wirst sie zur rechten Zeit erfahren, jede neue Sache, wenn du sie verstehen kannst, und nicht früher."

Das ist genau das, was die Kinder seit Jahren von Bernard zu hören kriegen, wenn sie Fragen stellen, die er nicht beantworten will oder kann. Aufklärung, hält der Film dagegen, ist unverzichtbar. Schutzmaßnahmen sind nicht möglich, wenn weder die Kinder noch die Erwachsenen über die vorhandenen Gefahren informiert sind. Intransparenz kann tödlich sein und führt zu verqueren Theorien. Während sich Joan und King über die seltsame, anfallartig auftretende "Erkältung" wundern, unter der sie leiden, seit sie in der Höhle sind, erzählen zwei der Kinder Simon, wie sie versuchen, sich ihre Situation begreiflich zu machen.

William ist überzeugt davon, dass sie sich an Bord eines Raumschiffs befinden und zu einem fernen Planeten fliegen, den sie besiedeln sollen. Wird er später einmal denken, dass - sagen wir - Bill Gates und George Soros das Coronavirus gezüchtet haben, um uns mit einem Impfstoff ihre Mikrochips einpflanzen oder einen mit der DNS von Außerirdischen hergestellten Wirkstoff spritzen zu können, der den Glauben an Gott zerstört? Wer Leute, die für so etwas empfänglich sind, pauschal für verrückt oder rechtsradikal erklärt, macht es sich zu einfach. Eine verfehlte Informationsstrategie schafft Biotope, in der solcher Unsinn wachsen und gedeihen kann.

Elizabeth hingegen leidet unter der Vorstellung, dass sie und die acht anderen Kinder etwas Schlimmes getan haben müssen, weil man sie sonst nicht einsperren und vom Rest der Menschheit isolieren würde. Mich erinnert das an die Psychologen, die vor einem Tsunami an psychischen Erkrankungen warnen, wenn man Kindern im Corona-Lockdown nicht ausreichend erklärt, warum sie ihre Freunde nicht treffen dürfen. Die kalten Körper sind auch im psychischen Sinne zu verstehen. Die Seele erkaltet, wenn die sozialen Kontakte minimiert werden, im Fernunterricht genauso wie im Altenheim.

Auch die dauernde Überwachung durch Kameras macht krank. Bernard weiß das und gewährt den Kindern ihre Höhle als Versteck. Major Holland möchte selbst diesen letzten privaten Rückzugsraum auskundschaften. Bernard weist das mit der Begründung zurück, dass die geistige Gesundheit der Kinder wichtiger sei als die Sicherheitsbedenken des Majors. Man würde ihn für das die Bundesregierung beratende Expertengremium empfehlen wollen, wenn er nicht in anderer Hinsicht ein so unerfreulicher Charakter wäre. (Irgendwie hofft man immer, dass es ein solches Gremium gibt, möglichst breit zusammengesetzt, von der Virologin bis zum Kinderarzt, auch wenn man wenig von den Beratungen erfährt.)

An den Wänden der Höhle hat jedes der Kinder seine persönliche Devotionalienecke eingerichtet. Was zunächst aussieht wie Erinnerungsstücke an die Eltern und eine Kindheit, die Bernards Versuchskaninchen nie hatten, erweist sich als Treibgut, angeschwemmt an der Küste vor dem Eingang zu den Katakomben: Bilder von Filmstars und historischen Persönlichkeiten, von anderen Kindern weggeworfenes oder verlorenes Spielzeug und so weiter. Joan und Simon, von denen die kleinen Gefangenen anfangs hoffen, dass sie ihre Eltern sind, betrachten die Erinnerungsstücke, die keine sind, im Lichtkegel einer Taschenlampe.

Die beiden sind gerührt. Abgrundtief traurig ist es auch. Joan und Simon sind wie Höhlenforscher, die Zeugnisse einer untergegangenen Zivilisation entdecken. Der Weg in die Zukunft, die Bernard mit seinem Projekt garantieren will, führt zurück in die Vergangenheit, in der Menschen noch in Höhlen lebten. Bereits jetzt zerfällt die Welt des Films in voneinander abgegrenzte, stammesgesellschaftlich organisierte Gruppen: die Kinder in der Höhle, King und die Teds, Bernard und die Soldaten, das Lehrerkollegium. Die Kinder können nichts dafür. Bei den Erwachsenen sind die sympathischsten Figuren diejenigen, die aus der Gruppe ausscheren: Simon, Joan und Freya.

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