Gershkovich und Assange: Wann Journalismus ein Verbrechen ist – und wann nicht

Evan Gershkovich und Julian Assange. Bilder: Wall Street Journal, Wikimedia Commons

Dem Reporter vom Wall Street Journal droht ein Spionageprozess in Russland. Biden und die EU sind empört, verlangen die sofortige Freilassung. Und was ist mit Assange?

US-Präsident Joe Biden appelliert eindringlich an Russland, den inhaftierten Journalisten des Wall Street Journal, Evan Gershkovich, wieder freizulassen. Beim Presse-Dinner im Weißen Haus am Wochenende verlangte er, den Schutz für die freie Presse überall zu stärken. Und er fügte hinzu:

Unsere Botschaft heute Abend ist folgende: Journalismus ist kein Verbrechen.

"Die freie Presse ist ein Pfeiler – vielleicht sogar der Pfeiler – einer freien Gesellschaft, nicht ihr Feind", sagte Biden gegenüber den versammelten Reportern, Redakteuren, Fernseh- und Radiomoderatoren.

Sie ermöglicht es normalen Bürgern, Autoritäten zu hinterfragen – und ja, auch über Autoritäten zu lachen –, ohne Angst oder Einschüchterung. Das ist es, was diese Nation stark macht. Lassen Sie uns also heute Abend uns selbst und der Welt unsere Stärke zeigen, nicht nur durch das Beispiel unserer Macht, sondern durch die Macht unseres Beispiels.

Auch die Sprecher der Republikaner und Demokraten im US-Senat verlangen in einem gemeinsamen Aufruf, Gershkovich umgehend freizulassen, und postulieren ebenfalls: "Journalism is not a crime".

Der Reporter Evan Gershkovich wird von Russland der Spionage beschuldigt. Er wurde in Jekaterinburg bei Ermittlungen gegen die Wagner-Gruppe verhaftet. Ihm droht ein Prozess, der mit einer Gefängnisstrafe von zwanzig Jahren enden könnte. Sein Antrag auf Aufhebung der Untersuchungshaft wurde abgelehnt, während man ihm einen Besuch von Vertretern des US-Konsulats verweigerte.

Gershkovich und das Wall Street Journal haben die Vorwürfe entschieden zurückgewiesen. Die USA stellen fest, dass seine Festnahme "absolut illegal" sei. Russland behauptet hingegen, man habe den US-Journalisten auf "frischer Tat" ertappt, Beweise für diese Behauptung sind aber nicht vorgelegt worden.

Auch in anderen Ländern reagiert man empört auf die Verhaftung von Gershkovich. Mehr als 40 westliche Länder fordern Russland auf, Gershkovich freizulassen und das "drakonische Vorgehen gegen die freie Meinungsäußerung, auch gegen Mitglieder der Medien", zu beenden.

So erklärte Josep Borrell, Vizepräsident der EU-Kommission, auf Twitter, die EU verurteile die Inhaftierung des Korrespondenten des Wall Street Journal in Russland:

Journalisten müssen ihren Beruf frei ausüben können und verdienen Schutz.

Borrell warf Moskau vor, die Medienfreiheit zu missachten.

Das alles sind berechtigte Verurteilungen und Forderungen. Denn Journalisten müssen geschützt werden vor staatlicher Verfolgung und Einschüchterung. Überall auf der Welt.

Aber die USA, die sich jetzt empören, sind zugleich diejenigen, die in einem anderen prominenten Fall selbst seit vielen Jahren einen Journalisten wegen angeblicher Spionage unerbittlich verfolgen, ihn in einem ausländischen Gefängnis festhalten lassen, seine Auslieferung verlangen und ihn in den Vereinigten Staaten anklagen wollen. Viele westliche Staaten lassen das geschehen, verweigern Schutz und Asyl oder assistieren den USA.

Die Rede ist natürlich von Julian Assange, dem Mitbegründer von Wikileaks. Dabei wird ihm nicht einmal vorgeworfen, für einen ausländischen Staat bzw. Geheimdienst gearbeitet zu haben.

Assange-Anklage: Gefährliche Kollateralschäden

Assange wird lediglich zu Last gelegt, Dokumente veröffentlicht zu haben, die Kriegsverbrechen der USA belegen, darunter "Cablegate", die "Iraq War Logs" – die die Tötung, systematische Vergewaltigung und Folterung von Tausenden irakischer Zivilisten protokollieren – sowie das Video "Collateral Murder", in dem gezeigt wird, wie ein US-Militärhubschrauber elf unbewaffnete Menschen willkürlich tötet, darunter zwei Reuters-Journalisten – Beweis dafür, wie gegen die Genfer Konvention und US-Militärvorschriften verstoßen wurde.

Assange ist seit vier Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis in London eingesperrt. Nun setzt die Biden-Regierung fort, was unter dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump gestartet wurde: Der australische Journalist soll nach dem sogenannten Espionage Act in den USA angeklagt werden.

Sollte er ausgeliefert und verurteilt werden, drohen ihm bis zu 175 Jahre Gefängnis. Es wäre ein historischer Präzedenzfall. Dagegen gibt es weltweiten Protest. Selbst Staatschefs von Ländern wie Australien, Brasilien oder Argentinien opponieren dagegen. Auch US-Kongressabgeordnete verlangen vom Justizministerium in Washington D.C., die Anklage und die Forderung nach einer Auslieferung Assange fallen zu lassen.

In einer Stellungnahme von American Civil Liberties Union, Amnesty International, Reporter ohne Grenzen, Human Rights Watch, Defending Rights and Dissent und dem Committee to Protect Journalists heißt es:

Die Anklage gegen Herrn Assange bedroht die Pressefreiheit, weil ein Großteil des in der Anklageschrift beschriebenen Verhaltens ein Vorgehen ist, das Journalisten routinemäßig an den Tag legen – und das sie an den Tag legen müssen, um die Arbeit zu tun, die die Öffentlichkeit von ihnen erwartet.

Das könnte zu einer allgemeinen Kriminalisierung der Informationsbeschaffung, von Quellenschutz und dem Veröffentlichen von Dokumenten führen, die Regierungen als geheim ansehen.

Vor Kurzem haben sich die Nachrichtenmedien New York Times, The Guardian, El País, Le Monde und Der Spiegel, die mit Wikileaks bei der Veröffentlichung zusammengearbeitet haben, in einer gemeinsamen Erklärung hinter Assange gestellt:

Publizieren ist kein Verbrechen. … Die US-Regierung sollte die strafrechtliche Verfolgung von Julian Assange aufgrund des Veröffentlichens von Geheimnissen beenden.

Craig Murray, ehemaliger britischer Botschafter in Usbekistan, Journalist und Historiker, bringt den Doppelstandard derart auf den Punkt:

Wenn Assange Spionage gegen die USA begangen hat, indem er Geheimnisse der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten veröffentlichte, wie kann dann argumentiert werden, dass Gershkovich keine Spionage gegen Russland beging, indem er versucht, das zu veröffentlichen, was Russland als Geheimnisse seiner nationalen Sicherheit betrachtet? Die Antwort lautet natürlich, dass beide keine Spionage begangen haben. Sie betreiben lediglich Journalismus. Aber das ist eine Antwort, die die Biden-Regierung nicht geben kann, während sie die Strafverfolgung von Assange fortsetzt.

Rebecca Vincent von Reporter ohne Grenzen verweist auf das zentrale Dilemma. "Solange das Verfahren gegen Assange andauert, untergräbt es die Bemühungen der USA, die Medienfreiheit weltweit zu verteidigen." Die Frau von Julian Assange, Stella Assange, anwortete auf Borrells Gershkovich-Statement mit folgenden Worten:

Sie wurden gewarnt. Hätten die USA Assange nicht nach dem Espionage Act verfolgt, wäre Herr Gershkovich vielleicht noch frei. Es gibt keine moralische Überlegenheit, solange die EU politische Verfolgungen nicht gleichermaßen verurteilt.

Einige Beobachter glauben, dass der Kreml beabsichtigen könnte, Gershkovich als Druckmittel zu benutzen, um die Freilassung russischer Gefangener in den USA oder Europa zu erreichen. In Russland werden zudem Forderungen erhoben, den US-Reporter in einem Gefangenenaustausch mit Julian Assange gemeinsam freizulassen.

Biden, der US-Senat und Borrell haben recht: Journalismus ist kein Verbrechen. Aber das gilt entweder überall auf der Welt – egal, um wen es geht –, oder eben nicht.

Der Fall Gershkovich wäre ein guter Anlass, das zentrale demokratische Prinzip im Fall Assange zur Anwendung zu bringen, und damit seine universelle Geltung zu unterstreichen. Die Anklage gegen Julian Assange muss umgehend fallen gelassen werden. Alles andere ist Heuchelei.