Gesamtstrategie für Betroffene nicht erkennbar
Vor Jahrestag des rassistischen Terrors in Hanau: Migrantenorganisationen kritisieren mangelhafte Aufarbeitung vor und schlagen Gleichstellungsministerium vor
In einer Videoansprache erinnerte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor wenigen Tagen an die rassistischen Morde in der Stadt Hanau. Rassismus sei ein Gift, sagt Merkel, und der Hass sei ein Gift. Sie habe es vor einem Jahr gesagt und sie wiederhole es auch heute voller Überzeugung.
Mit aller Kraft werde man sich dieser Vergiftung in der Gesellschaft entgegenstellen, verspricht die Bundeskanzlerin erneut, nachdem sie die Namen derjenigen ausgesprochen hat, die Tobias Rathjen am 19. Februar 2020 ermordete, bevor er seine eigene Mutter Gabriele Rathjen und sich selbst erschoss: "Die aus rassistischen Motiven Ermordeten hießen Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Hamza Kurtovic, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Paun und Fatih Saracoglu. Der Mörder kannte sie nicht, er hasste sie nur, wegen ihres Aussehens, der Herkunft ihrer Familien, weil sie Einwanderer oder Kinder von Einwanderern waren."
Wenige Tage vor dieser scheinbar emotionalen Ansprache der Kanzlerin war in einer Debatte im hessischen Landtag deutlich geworden, dass in der Tatnacht am 19. Februar 2020 einfache Dinge, die der Bevölkerung Sicherheit geben sollen, offenbar nicht ausreichend funktionierten.
Die hessische SPD-Landesvorsitzende Nancy Faeser fragte beispielsweise, ob Vili Viorel Paun heute noch leben würde, wenn in der Nacht der Notruf 110 erreichbar gewesen wäre. Der 22jährige Kurierfahrer hatte den Täter verfolgt und war selbst erschossen worden, nachdem er den Notruf nicht erreichen konnte. Auf den Wagen, in dem er saß, wurden sieben Kugeln abgefeuert. Drei Projektile durchschlugen die Windschutzscheibe und trafen ihn in Kopf und Oberkörper.
Der Täter hatte binnen weniger Minuten zwei Tatorte angesteuert - zunächst die Shisha-Bar "Midnight" in der Hanauer Innenstadt, wo er vier Menschen tötete. Anschließend fuhr er in den Stadtteil Kesselstadt, zur "Arena Bar", einem Lokal mit angeschlossenem Kiosk, wo er vier weitere Personen erschoss. Hinzu kam Vili Viorel Paun.
Mehr Einsatz gegen Rassismus gefordert
Die bisherige Aufarbeitung des Falls hat am Dienstag die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen (BKMO) kritisiert. Marianne Ballé Moudoumbou von der Pan African Women's Empowerment and Liberation Organisation attestierte der Bundesrepublik ein selektives Gedächtnis, was das Leid ganzer Menschengruppen anbelange. Nach rassistischen Taten werde immer noch die These von Einzeltätern verbreitet, doch es sei klar, dass Rassismus in der Mitte der Gesellschaft strukturell und institutionell vorhanden sei. Dort müsse er auch bekämpft werden. Die Vertreter der BKMO sprachen mit Blick auf den Anschlag von einer Zäsur. Am Aufklärungswillen von Politik und Polizei gebe es immer noch große Zweifel, sagte Sami Dzemailovski vom Verband für interkulturelle Wohlfahrtspflege, Empowerment und Diversity.
Gesamtstrategie nicht erkennbar
Als Reaktion auf den Anschlag hat die Bundesregierung im Dezember 89 Maßnahmen gegen Rassismus und Rechtsextremismus beschlossen - verbunden mit dem Versprechen, dafür bis 2024 mehr als eine Milliarde Euro zu investieren. Farhad Dilmaghani vom Verein DeutschPlus kritisiert den Plan allerdings als ein Sammelsurium an Maßnahmen: Eine Gesamtstrategie sei nicht erkennbar, auch wenn es sich zum Zeil um sehr sinnvolle Einzelmaßnahmen, handle.
Zum Beispiel brauche es ein Antidiskriminierungsgesetz, das Betroffenen mehr Klagemöglichkeiten gebe, ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen sowie ein Ministerium, das sich um die Gleichstellung der Menschen mit Migrationsgeschichte, eine menschenrechtsbasierte Migrations- und Asylpolitik und um Antidiskriminierung kümmere.
Gegen Rassismus auf allen Ebenen fordert auch die Kurdische Gemeinde in Deutschland aktives Handeln. Mehmet Tanriverdi, der stellvertretende Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde in Gießen, erklärt, nur so könne Rassismus in Institutionen, Medien und letztlich auch in den Köpfen bekämpft werden. Allerdings gebe es auch eine gute Entwicklung: Seit Hanau sei das Bewusstsein für die vorliegende Gefahr gestiegen, die von militanten Rechtsextremen ausgehe. Seither sei in der Öffentlichkeit die Verbreitung von institutionellem Rassismus und Alltagsrassismus stärker in den Fokus gerückt, sagt Tanriverdi.
Keine Gewissheit, was wirklich passiert ist
Angehörige der Opfer hatten schon am vergangenen Donnerstag eine lückenlose Aufklärung der Tat gefordert. Ajla Kurtovic sagt, es liege in der Verantwortung der Ermittlungsbehörden, offene Fragen zu klären - auch wenn der Täter tot sei. Ihr Bruder Hamza gehörte zu den neun Opfern und wurde wie Vili Viorel Paun nur 22 Jahre alt.
Mit der Polizei habe es keine Gespräche über die Tatnacht gegeben, beklagt Kurtovic. Für die Angehörigen sei das eine belastende Situation. Sie wüssten bis heute nicht, was in der Tatnacht wirklich passiert sei. Wie habe der Täter von einem Tatort zum nächsten fahren können? Wie sei der Polizeieinsatz abgelaufen? Nach dem Anschlag hat es laut Kurtovic eine Woche gedauert, bis die Familie Gewissheit über den Verbleib ihres Bruders hatte. Die Polizei habe auf Anfragen abweisend reagiert. Der Umgang mit ihrer und anderen betroffenen Familien sei unmenschlich gewesen.
Den Hinterbliebenen der Opfer der Mord- und Anschlagsserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) könnte all das bekannt vorkommen. Viele von ihnen hatten ähnlich schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Und nach der späten Aufdeckung des NSU hatte Merkel im Jahr 2012 versprochen: "Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen."
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