Geschlechterrollen: Alles ist fließend
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- "Erst im Laufe des 'Zivilisationsprozesses' treten 'Alphamännchen' auf"
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Wie es dazu kommen konnte, dass Frauen überhaupt um Gleichberechtigung kämpfen mussten. Gespräch mit dem Evolutionsbiologen Carel van Schaik und dem Historiker Kai Michel
In ihrem Buch "Die Wahrheit über Eva" zeichnen Carel van Schaik und Kai Michel sowohl die Geschichte der Geschlechterbeziehungen wie auch deren Legitimationsdiskurse nach. Telepolis sprach mit den Autoren.
"Die Wahrheit über Eva" - ist das nicht ein vermessener Titel?
Carel van Schaik und Kai Michel: Um Missverständnissen vorzubeugen: Das ist kein Buch über Frauen, sondern eine andere Geschichte der Menschheit, zumindest eines Teils davon. Es geht um das Verhältnis der Geschlechter - und was dieses ins Ungleichgewicht brachte. Mit unserer "Wahrheit" wollen wir nur die Lüge über Eva aus dem Weg räumen. Nämlich die, dass Frauen selbst schuld sind an ihrer Schlechterstellung.
Und diese Lüge existiert gleich in zwei Ausführungen: Die erste lautet, Gott habe die Frauen dazu bestimmt, den Männern untertan zu sein wegen der Lappalie damals im Paradies. Die zweite behauptet, es liege an der Biologie, Frauen seien nun mal von "Natur" aus das "schwache" Geschlecht.
Wir möchten dagegen zeigen: Weder Gott noch Biologie sind für die Schlechterstellung verantwortlich. Wir haben es mit einer kulturellen Verirrung zu tun. Deshalb lautet der Untertitel "Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern".
"Solange es an einer korrekten Diagnose fehlt, besteht die Gefahr, nur an Symptomen herumzudoktern"
Sie behaupten also Frauen und Männer seien gleich?
Carel van Schaik und Kai Michel: Es geht uns um die Erfindung der sozialen Ungleichheit. Wir wollen verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Frauen überhaupt um Gleichberechtigung kämpfen mussten. Das ist eine Frage, die in den allermeisten Diskussionen heute ausgespart wird. Solange es aber an einer korrekten Diagnose fehlt, was für das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern verantwortlich ist, besteht die Gefahr, nur an Symptomen herumzudoktern.
Das führt zumeist wenig produktiven Stellvertreterdiskussionen, etwa der über die Frage nach den Geschlechterunterschieden. Mangels besseren Wissens fürchten viele, hinter der männlichen Dominanz könnte etwas "Biologisches" stecken - und die Vorherrschaft der Männer damit irgendwie "natürlich" sein. Deshalb wird oft mit solcher Vehemenz gegen die Existenz biologischer Geschlechterunterschiede argumentiert.
Also gibt es biologisch verifizierbare Geschlechterunterschiede? Falls ja: Warum haben diese im Laufe der Geschichte so durchgeschlagen, dass sie es bis zum heutigen Tag noch tun?
Carel van Schaik und Kai Michel: Da einer von uns beiden Biologe ist und ein Lehrbuch mit dem Titel "Primate Origins of Human Nature" geschrieben hat, wird es Sie nicht überraschen, dass unsere Antwort auf Ihre erste Frage "Ja, natürlich" lautet. Auf die zweite Frage dagegen würden wir mit einem "Nein, haben sie nicht" allenfalls indirekt antworten.
"Menschen sind nicht nur biologische Wesen, sondern auch kulturelle"
Dann also der Reihe nach: Gibt es biologisch verifizierbare Geschlechterunterschiede?
Carel van Schaik und Kai Michel: Ja, in verschiedenen Abstufungen. Es gibt etwa jene, die das Feld Reproduktion und Schwangerschaft betreffen oder Muskelkraft. Dann gibt es solche, die eher biologisch bestimmt sind, wie die Prädispositionen, welche Männer im Durchschnitt stärker auf Konkurrenzsituationen reagieren oder eher zu Gewalt neigen lassen.
Doch wir dürfen hier einige Aspekte nicht vergessen: Menschen sind nicht nur biologische Wesen, sondern auch kulturelle. Wir müssen immer Kultur und Biologie gemeinsam betrachten und deren Interaktion, das ist nicht zu trennen. Zumal die Rolle, welche die Kultur dabei spielt, in vielen Fällen die größere ist.
Außerdem sind all diese Unterschiede Durchschnittswerte. Auf der Ebene der Individuen kann es sich immer anders verhalten. Deshalb sehen wir auch gewalttätige Frauen und deshalb ist es so schwer, jeweils zu entscheiden, welchen Anteil nun die Biologie spielt.
Schließlich: Bei allem, was erlernt und sozialisiert wird, ist die Frage nach biologischen Geschlechtsunterschieden weniger relevant, weil wir es hier mit enorm plastischen Phänomenen zu tun haben.
Da ist der Einfluss der kulturellen Geschlechterrollen - Gender also - viel entscheidender. Wichtig auch hier: Alles ist fließend, wir haben es mit Kontinuitäten zu tun. Es ist verkehrt, daraus allein zwei legitime Positionen zu extrapolieren und diese mit normativen Attributen zu verknüpfen.
Es gibt auch keinen genetischen Determinismus, dafür ist unsere Empfänglichkeit für Kultur zu mächtig. Viel zu viele glauben, dass etwas, was "natürlich" sei, eine Verbindlichkeit für uns besitze. Das ist der naturalistische Fehlschluss, quasi-religiöses Denken, als habe die Evolution die Welt irgendwie vernünftig eingerichtet und wir müssten ihr folgen. Doch der Evolution ist völlig egal, wie wir leben. Anders als ein Gott ist sie keine moralische Instanz, die Menschen irgendetwas vorschreibt. Und selbst wenn wir ausssterben wollten, steht uns das von "der Natur" her frei.
"Menschen sind eine höchst kooperative Spezies"
Aber warum sollten sich die biologischen Unterschiede nicht durchgeschlagen haben? Muskelkraft etwa?
Carel van Schaik und Kai Michel: Weil Stärke nicht alles ist. Wir kennen aus der Primatologie einige Beispiele von Affenarten, in denen körperlich schwächere Weibchen die Männchen dominieren. In diesen Arten sind die Weibchen autonom. Sie schließen Allianzen, haben einen verborgenen Eisprung und sind in Sachen Nahrung von den Männchen unabhängig. Das sind Faktoren, die wir auch in unserer Gattung finden. Und schauen Sie sich doch mal um: Ein Arnold Schwarzenegger als politischer Führer ist nun mal die Ausnahme!
Es spuken noch viel zu viele sozialdarwinistische Ideen in den Köpfen herum, dass alles ein Kampf ums Dasein sei, in dem sich die stärksten durchsetzen. Nicht wenige glauben, der Philosoph Thomas Hobbes habe Recht gehabt, als er den Menschen als des Menschen Wolf charakterisierte. Sie nehmen an, dass sich unsere Vorfahren als Steinzeitmachos mit ihren Keulen gegenseitig den Kopf einschlugen und der Sieger dann die Frau an den Haaren in seine Höhle zog. Nichts könnte verkehrter sein. Menschen sind eine höchst kooperative Spezies.
Das Cooperative Breeding - wie es Sarah Blaffer Hrdy, aber auch einer von uns beiden, erforscht hat -, also die gemeinsame Jungenaufzucht, an der sich Geschwister, Großmütter, aber eben auch Väter oder andere Frauen beteiligten, ist ein Hauptfaktor unseres Erfolgs gewesen. Das machte uns im Primatenvergleich zu einer erstaunlich netten Affenart - zumindest innerhalb der eigenen Gruppe.
Erst dank Kooperation und strikter Reziprozität, also Gegenseitigkeit, war es möglich unter den harschen Bedingungen zu überleben. Wäre es anders, wäre Stärke wirklich alles, würden wir überall und zu allen Zeiten die entsprechenden Hierarchien sehen, mit einem Muskelprotz als Alpha an der Spitze und wir würden uns kein bisschen darüber wundern, sondern alle klaglos fügen.
Das aber ist nicht der Fall. Die Diversität menschlicher Gesellschaften zeigt, was alles möglich ist. Kurz: Wer Menschen verstehen will, muss biologische und kulturelle Evolution gemeinsam betrachten.
Männer sind in der Tendenz stärker motiviert, Eigentum anzuhäufen als Frauen"
Sie sagten aber indirekt...
Carel van Schaik und Kai Michel: Für Jahrhunderttausende haben unsere Vorfahren in kleinen mobilen Gruppen als Jäger und Sammler gelebt. Soweit wir das rekonstruieren können, waren das in aller Regel sehr egalitäre Gesellschaften, auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern war weitgehend ausgeglichen, wenn es auch meist eine delikate Angelegenheit war. Die Kooperation war entscheidend. Da man keine dauerhaften Vorräte anlegen konnte, waren die guten Beziehungen zueinander unsere Lebensversicherung.
Das aber änderte sich mit dem Sesshaftwerden vor rund 12.000 Jahren, mit der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht, das ja zunächst nur in wenigen Regionen der Welt geschah. Die folgenden Entwicklungen führten zu einem neuen kulturellen Setting.
Und hier kommen wir zu dem "indirekt": Unter diesen grundlegend veränderten kulturellen Bedingungen spielten biologische Faktoren eine neue Rolle. Einmal führte die neue Lebensweise aus einer Reihe von Gründen zum starken Anstieg der Schwangerschaften und der Arbeitsbelastung der Frauen. Das brachte sie gesundheitlich in die Defensive.
Andererseits gewann jetzt die physische Stärke der Männer an Relevanz. Wo die Landwirtschaft Überschüsse produzierte, mussten die verteidigt werden. Wachsende Bevölkerungen schürten die Konkurrenz, man konnte nicht einfach mehr wie zu Jäger und Sammlerzeiten wegziehen.
Auch wenn es vorher schon Gewalt und Konflikte zwischen Gruppen gab, ist Krieg im engeren Sinne ein Ergebnis des Neolithikums, der Sesshaftigkeit. Deshalb behielten die Familien die Söhne zuhause und die Frauen für diese mussten anderswoher kommen. Die verloren damit ihre angestammten Netzwerke, ihre Position in den neuen Familien war dadurch geschwächt.
Hinzu kam, dass die neue Erfindung des Privateigentums die Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens radikal veränderte. In diesem komplett veränderten kulturellen Setting gewinnt ein weiterer biologischer Faktor an Bedeutung: Männer sind in der Tendenz stärker motiviert, Eigentum anzuhäufen als Frauen.