Geschlechterrollen: Alles ist fließend
Seite 2: "Erst im Laufe des 'Zivilisationsprozesses' treten 'Alphamännchen' auf"
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Warum sollte das so sein?
Carel van Schaik und Kai Michel: In der Biologie wird vom Bateman-Prinzip gesprochen: Ein Säugetiermännchen kann, wenn es sich nicht um Nachwuchs kümmern muss, mit vielen Weibchen nun mal mehr Nachwuchs zeugen, während das umgekehrt für Weibchen kum möglich ist.
Deshalb hat sich in der Evolution in der Tendenz bei Männchen ein stärkerer psychologischer Drang ausgebildet, andere zu dominieren.
Der konnte bei uns früher weniger zum Ausdruck kommen, weil es für mobile Jäger, die noch über keine Ressourcen verfügten, nur ganz selten möglich gewesen wäre, mehrere Ehefrauen und deren Kinder zu versorgen. Insofern ging es eher darum, die anderen in Sachen Reputation zu übertreffen.
Nun, unter den neuen Bedingungen von Sesshaftigkeit und Privatbesitz führte das bei uns Menschen zu einer stärkeren Motivation der Männer, Reichtümer anzuhäufen und Machtpositionen zu erringen – und letzten Endes auch mehrere Frauen ihr Eigen zu nennen.
Erst im Laufe dieses so gerne als "Zivilisationsprozess" titulierten Entwicklungen treten, wenn man so möchte, "Alphamännchen" auf. Die sind es dann, welche dank ihrer Ressourcenkontrolle die neuen gesellschaftlichen Maximen setzen, unter denen Frauen leiden, aber auch der Großteil der Männer, die leer ausgehen im Kampf um Macht und Ressourcen. Doch das geschieht, wie gesagt, eben erst unter den neuen kulturellen Bedingungen, als überhaupt die Möglichkeit bestand, Besitz anzuhäufen, und in den größer und anonymer werdenden Gesellschaften die alten Kontrollmechanismen wegfielen.
Das ehemalige Gleichgewicht kollabierte zu schnell, als dass etwa Frauen effektive Gegenstrategien entwickeln konnten. Aber auch die meisten Männer fielen diesen heute so gerne als „Hochkulturen“ gefeierten frühen Staaten – Despotien ist sicher treffender – zum Opfer.
"Menschheitsgeschichtlich betrachtet gab es 99 Prozent mehr oder minder Gleichberechtigung"
Also gab es nicht schon immer unter Menschen Alphamänner? Gerade in der populären Literatur ist oft von der zentralen Rolle von Anführern die Rede.
Carel van Schaik und Kai Michel: Nein, die Gruppen der Jäger und Sammler besaßen ein etabliertes System der Checks and Balances, um Egoismen unter Kontrolle zu halten und auch das Bateman-Prinzip in produktive Bahnen zu lenken. Anführer gab es allenfalls in Konfliktsituationen, die danach aber wieder ihre Position aufgaben.
Der Anthropologe Christopher Boehm hat gezeigt, wie jene, die über die Stränge schlugen, diszipliniert wurden. Das konnte bis zum Gruppenausschluss gehen - oder sogar schlimmeren. Das ist ja das besondere an unserer Vergangenheit, dass wir die Alphas und Bullys, die sich bei anderen Primatenarten durchaus finden, hinter uns gelassen haben.
Wir haben die zum Teil gewaltigen ökologischen Herausforderungen bewältigt, weil wir die kooperativen Affen wurden. Dass in allen Individuen noch jede Menge Egoismen stecken, weiß jeder aus eigener Erfahrung. Aber denen setzten die Gruppen effektive Grenzen; schließlich konnte man nur gemeinsam überleben. Doch diese Gruppenstrukturen lösten sich im massiven Bevölkerungswachstum der sesshaften Welt über die Jahrtausende hinweg auf.
Zugespitzt gesagt, erwies sich dann der unkontrollierte Egoismus, das Monopolisieren von Ressourcen als neues Erfolgsrezept. Denn mit Überschüssen ließ sich Unterstützung und Gefolgschaft erkaufen. Reichtum und die daraus resultierende Macht konnten bald vererbt und damit immer mehr akkumuliert werden.
Herrschaft entstand. Männliche Herrscher bestimmten die Regeln, schrieben sie später in Gesetzen fest und hielten sich Harems. Kurz: Entscheidend war, dass mit der intensiven Nahrungsproduktion die Lebensgrundlage und die kulturellen Rahmenbedingungen sich massiv geändert hatten. Damit veränderten sich die gesellschaftlichen Spielregeln immer mehr zugunsten von Männern.
Und im Prozess der kumulativen, sich immer mehr anreichernden kulturellen Evolution, entstand dann das, was wir die Patrix, die patriarchale Matrix nennen, eine falsche Welt, in der es normal erscheint und in Gesetzen, Wissens- und Glaubenssystemen festgeschrieben wird, dass Frauen das zweite Geschlecht seien, weil Gott oder die Natur es so eingerichtet hätten.
Aber diese Geschlechterhierarchie ist eine erst vor relativ kurzer Zeit aufgetretene Anomalie. Sie erscheint allein deshalb total, weil wir uns meist nur - nicht zuletzt aus Angst vor Biologie und Evolution - auf die letzten drei, vielleicht fünf Jahrtausende konzentrieren und die waren nun mal schon patriarchal. Menschheitsgeschichtlich betrachtet gab es 99 Prozent mehr oder minder Gleichberechtigung. Psychologisch haben Menschen also keine Probleme damit. Warum sollten sie das heute haben?
(Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde an einigen Stellen nach der Veröffentlichung korrigiert.)
In Teil 2 des Interviews widmen sich Carel van Schaik und Kai Michel u. a. den Geschlechterverhältnissen aus der Sicht der Bibel, der Verteufelung weiblicher Sexualität und der Genderforschung.
Über die Autoren:
Carel van Schaik, geboren 1953 in Rotterdam, ist Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe. Er erforscht die Wurzeln der menschlichen Kultur und Intelligenz bei Menschenaffen. Er war Professor an der Duke University in den USA und von 2004 bis 2018 Professor für biologische Anthropologie an der Universität Zürich, wo er als Direktor dem Anthropologischen Institut und Museum vorstand. Unlängst legte er das Standardwerk "The Primate Origins of Human Nature"vor. Carel van Schaik ist ein korrespondierendes Mitglied der Royal Netherlands Academy of Sciences. Er lebt in Zürich.
Kai Michel, geboren 1967 in Hamburg, ist Historiker und Literaturwissenschaftler. Er hat von GEO über Die Zeit bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung für die großen deutschsprachigen Medien geschrieben. Gemeinsam mit Carel van Schaik las er die Bibel aus einer evolutionären Perspektive als "Tagebuch der Menschheit", mit dem Archäologen Harald Meller legte Kai Michel den Bestseller "Die Himmelsscheibe von Nebra" vor. Er lebt als Buchautor in Zürich und im Schwarzwald.