Getreidedeal mit Ukraine beendet: Säbelrasseln im Schwarzen Meer, Skandal-Zahlen von Oxfam
Schiffe der Russischen Schwarzmeerflotte, 2012. Bild: function.mil.ru, CC BY-SA 4.0
Russischer Geheimdienst will Sprengstoffspuren in Getreideschiff gefunden haben, Selenskyj appelliert an Nato. Beide Seiten drohen. Entwicklungsexperten sehen Deal gescheitert.
Nach dem Ende des Getreidedeals zwischen der Ukraine und Russland bleibt die Lage im Schwarzen Meer angespannt.
Nachdem russische Drohnen nach ukrainischen Angaben ein Getreidelager in der Hafenstadt Odessa teilweise zerstört haben, kommen aus Moskau neue Vorwürfe gegen die Ukraine: Regierung und Armee, heißt es von dort, missbrauchten Getreideschiffe für den Transport von Waffen. Russland hat die Aufkündigung des Deals mit deutlichen Drohungen und auch militärischen Drohgebärden flankiert.
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Die Regierung in Kiew erklärte, man werde im Schwarzen Meer Schiffe ins Visier nehmen, die russische oder von Russland kontrollierte Häfen anlaufen. Präsident Wolodymyr Selenskyj versuchte indes, die Nato zu einem stärkeren Engagement zu motivieren.
Die Schwarzmeer-Getreide-Initiative war im Juli 2022 zwischen Russland und der Ukraine ausgehandelt worden, um Exporte von Getreide aus der Ukraine weiterhin zu gewährleisten und Hungersnöte vor allem in Ländern des Globalen Südens zu verhindern. Das Erste scheint erreicht worden zu ein, das Zweite wird in Abrede gestellt.
Vermittelt hatten den Deal die Türkei und die Vereinten Nationen. Die Türkei hatte sich bereiterklärt, Getreideschiffe, die über eine vereinbarte sichere Route fahren, auf möglichen Waffenschmuggel zu untersuchen.
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Nach Ende der vereinbarten Laufzeit hat Russland eine Verlängerung nun jedoch abgelehnt. Seitdem eskaliert die Lage auf verschiedenen Ebenen. Die Vereinbarung hatte es der Ukraine ermöglicht, trotz des Krieges im vergangenen Jahr rund 33 Millionen Tonnen Getreide und andere Lebensmittel zu exportieren. Aber auch Russland hätte von einer Fortsetzung profitiert, schrieb Russland-Experte und Telepolis-Autor Roland Bathon.
Mit dem angeblichen Fund von Sprengstoffspuren untermauert Russland den Vorwurf, die Ukraine benutze Getreidefrachter für den Transport von Waffen. So sollen Reste von Explosivstoffen auf einem entsprechenden Lastschiff entdeckt worden, behauptete der russische Inlandsgeheimdienst FSB am Montag.
Das Schiff sei auf dem Weg von der Türkei in den Hafen von Rostow am Don am Asowschen Meer gewesen, um Getreide zu laden, hieß es von dem russischen Nachrichtendienst. Im Mai habe das Schiff im Hafen von Kilija in der Ukraine gelegen. Anfang des Monats habe das Schiff, während es im türkischen Tusla lag, seinen Namen geändert und die Besatzung, die aus zwölf Ukrainern bestand, ausgetauscht. Die Angaben wurden nicht von unabhängigen Experten überprüft.
Selenskyj ruft Nato-Ukraine-Rat, Stoltenberg nimmt keine Stellung
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Russland nach einem Telefonat mit Selenskyj bezichtigt, "Lebensmittel als Waffe einzusetzen". Zuvor hatte der ukrainische Präsident am Freitag in einer seiner regelmäßigen Videoansprachen gefordert, dass die Sicherheitslage im Schwarzen Meer auf die Agenda des neu gegründeten Nato-Ukraine-Rates gesetzt wird.
Die Verbündeten würden der Ukraine so lange wie nötig zur Seite stehen, sagte Stoltenberg daraufhin. Das von Russland angegriffene Land sei der Nato nach dem jüngsten Gipfel des Bündnisses näher als je zuvor. Zu der Forderung, die Nato solle die Lage konkret beraten, äußerte sich Stoltenberg jedoch nicht.
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Kritik an dem Getreideabkommen kam von der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam. Im Verlauf des vor einem Jahr in Kraft getretenen Abkommens seien 80 Prozent der Exporte, die über das Schwarze Meer exportiert worden sind, von den wohlhabendsten Ländern abgenommen worden, erklärte die italienische Sektion der international tätigen Organisation.
Die ärmsten Länder wie Somalia und Südsudan, die am Rande einer Hungersnot stehen, hätten indes nur drei Prozent des Getreides erhalten, das insgesamt – also nicht nur von ukrainischen Erzeugern – über das Schwarze Meer transportiert worden seien.
Die Oxfam-Erklärung verweist darauf, dass es "nur durch die Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion und die Unterstützung von Kleinerzeugern" möglich sein werde, die derzeitige Nahrungsmittelkrise zu bewältigen und Millionen von Menschenleben zu retten.
Der Schwarzmeer-Getreide-Deal jedenfalls habe sich "als völlig unzureichend erwiesen, um den zunehmenden Hunger in der Welt zu bekämpfen". Die Unterernährung sei durch den exponentiellen Anstieg der Lebensmittel- und Energiepreise noch verschärft worden.
Dies gehe aus einer neuen Untersuchung von Oxfam hervor, die sich auf UN-Daten stütze. "Das Getreideabkommen mit der Ukraine hat den Anstieg des Hungers nicht gestoppt", so Oxfam Italia.
Oxfam: Getreidedeal "keine Lösung für den weltweiten Hunger"
"Das Abkommen, das die Wiederaufnahme der Getreideexporte aus der Ukraine ermöglichte, hat sicherlich dazu beigetragen, den Anstieg der Lebensmittelpreise zu bremsen – die 2022 weltweit immer noch um 14 Prozent gestiegen sind –, aber es war keine Lösung für den weltweiten Hunger, von dem heute mindestens 122 Millionen Menschen mehr betroffen sind als 2019", sagte Francesco Petrelli, politischer Berater für Ernährungssicherheit bei Oxfam Italien. Petrelli weiter:
Hunderte Millionen Menschen hungerten vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, und Hunderte Millionen hungern auch heute noch: Nach den jüngsten Zahlen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) betraf das im vergangenen Jahr insgesamt 783 Millionen Menschen.
Länder wie der Südsudan und Somalia, die seit Inkrafttreten des Abkommens gerade einmal 0,2 Prozent der ukrainischen Getreidelieferungen erhalten haben, sind nur einen Schritt von einer Hungersnot entfernt. All dies ist einfach beschämend und beschreibt eine Welt, in der die Ungleichheiten beim Zugang zu Nahrungsmitteln zu- statt abnehmen.
Um den Hunger effektiv zu bekämpfen, müssen wir das derzeitige Welternährungssystem sofort und radikal überdenken, insbesondere jetzt, wo dieses Abkommen nicht mehr zur Debatte steht.
Petrelli zeigt sich davon überzeugt, dass die aktuelle Krise nicht gelöst werden kann, sofern Grundnahrungsmittel weiterhin konzentriert und in hohen Mengen in wenigen Ländern produziert werden.
Notwendig seien eine Diversifizierung der Produktion und mehr Investitionen in den Anbau von Kleinbauern vor allem in den ärmsten Ländern. Dies sei nur durch die Förderung eines nachhaltigen Landwirtschaftsmodells möglich, auch in den vermögenden Ländern und in Europa.
Ein solches Vorgehen stünde schließlich auch im Einklang mit dem European Green Deal. "Nur so können wir uns aus einer Abhängigkeit befreien, die in Zeiten zunehmender Krisen zu Hunger und Hungersnöten in den ärmsten Regionen unserer Welt führt", so der Oxfam-Experte.