Gewaltspirale made in Germany: Wie Zionismus zur Frage des Überlebens wurde
Das Framing von Juden als "weiße Kolonisatoren": Wo die Shoah ausgeblendet wird – und warum es auch Linken so schwer fällt, den Hamas-Terror klar zu verurteilen. Ein Kommentar.
Vivian Silver war seit Jahren als Feministin und linke Aktivistin für die Verständigung zwischen der israelischen und der palästinensischen Bevölkerung bekannt. Diese Woche ist bekannt geworden, dass die Frau, die sowohl die kanadische als auch die israelische Staatsbürgerschaft hatte, zu den Todesopfern des Terrorangriffs der Hamas am 7. Oktober gehört.
Bisher waren Freunde, Angehörige und Behörden davon ausgegangen, dass Silver einer der Geiseln sei, die von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurden. Am 17. Oktober hatte die von Silver mitgegründete Organisation "Women Wage Peace" eine sehr ergreifende Stellungnahme herausgegeben.
Darin werden auch andere Aktivistinnen und Aktivisten für den Frieden genannt, die Opfer des Terrorangriffs geworden sind.
Zuerst betrauern wir die brutalen Morde, welche die Hamas in einem unbeschreiblichen und unverzeihlichen Massaker an mehr als 1.300 Menschen, Zivilisten, Babys, Kinder, Frauen, Männer, ältere Menschen, Soldatinnen und Soldaten, an Sicherheitskräften, Rettungskräften, darunter auch arabische Zivilisten und Soldaten, begangen hat. Wir wünschen allen, die verwundet wurden, dass ihre Körper und ihre Seelen wieder vollständig genesen.
Wir teilen die tiefe Trauer unserer Mitfrauen von "Women Wage Peace", die Familienangehörige verloren haben. Wir bieten unseren Mitfrauen aus dem Gazastreifen, die das furchtbare Inferno am vergangenen Samstag überlebt haben, Hilfe an.
Und wir sind zutiefst um die Sicherheit und das Schicksal derer besorgt, die vermisst werden, entführt, verschleppt – unter ihnen ist die Friedensaktivistin Vivian Silver aus dem Kibbuz Beeri, eine von uns, sowie Ditza Heyman aus dem Kibbuz Nir Oz, die Mutter unserer Mitstreiterin Neta Heian.
Aus der Stellungnahme von Women Wage Peace vom 17. Oktober
Zuvor schrieben die Verfasserinnen des Textes, dass sie einige Tage gebraucht hätten, weil in der Organisation Frauen aus Israel und Palästina arbeiten.
Darum ist umso bemerkenswerter, dass es hier gelang, eine Position zu formulieren, die zunächst ohne Wenn und Aber den Hamas-Terror benennt und verurteilt. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, wenn eine Organisation sich der gesellschaftlichen Linken zurechnet.
Dazu gehören auch diejenigen, die am 10. November zu einer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor aufriefen. Ihr schlossen sich viele linke Gruppen und Kunstinitiativen an. Sie hatte den begrüßenswerten Ansatz, "israelische, jüdische, palästinensische und muslimische Stimmen" zu Gehör zu bringen. Die zentrale Forderung war ein Waffenstillstand im Israel-Gaza-Krieg – nur der Angriff der Hamas wurde mit keinem Wort erwähnt.
Kein Raum für Trauer um die israelischen Opfer des Hamas-Terrors
Auch in dem kurzen Text, mit der zu der Kundgebung aufgerufen wurden, fällt die Auslassung auf:
Die Diskursräume in Deutschland verkleinern sich aktuell: Symposien und akademische Veranstaltungen werden abgesagt. Konzerte und Performances fallen aus. Theaterstücke werden gecancelt. Buchpreise werden nicht vergeben.
Einladungen an Künstler:innen, Kulturschaffende und Intellektuelle werden zurückgezogen. Kulturveranstaltungen werden häufig abgesagt, da ihr Inhalt "zu sensibel" sei, weil es "nicht der richtige Zeitpunkt" sei, zusammenzukommen um gemeinsam zu sprechen, zu debattieren, zu spielen, zu schreiben, zu singen, auszustellen, zu protestieren, zu trauern.
Aus dem Aufruf der Kundgebung zum Protest für Waffenruhe und Kunstfreiheit
Es fällt auf, dass bei der Kritik an der Verengung der Diskursräume wohl nur die propalästinensische Seite gemeint ist. Sonst hätte man doch mindestens in einem Absatz die antisemitischen Aktionen benennen müssen, die auch Deutschland jüdische Menschen nach dem Hamas-Angriff wieder an die Shoah erinnern.
Man braucht nur die eindringlichen Artikel der taz-Kulturredakteurin Erica Zingher zu lesen, um etwas von den Gefühlen und Ängsten zu verstehen, die viele betroffene Menschen nach dem 7. Oktober auch in Deutschland bewegen.
Sie hätte auf dieser linken Kundgebung wohl kaum die Möglichkeit gehabt, ihre Gedanken vorzutragen. Denn fast alle Rednerinnen und Redner sprachen lediglich über die Zustände im Gaza. Der vorangegangene Hamas-Angriff wurde kaum erwähnt.
Immerhin gab es einige Schilder, auf denen die Freilassung aller Geiseln gefordert wurde. Mehrere Rednerinnen und Redner bezogen sich positiv auf die Theorien des Postkolonialismus und bestätigten damit die Kritiker, die schon lange davor warnen, dass diese Theorien zunehmend zur Delegitimierung Israels benutzt werden.
Denn Jüdinnen und Juden werden pauschal den weißen Kolonisatoren zugerechnet – und es wird nicht erkannt, dass der Zionismus ebenso eine nationale Befreiungsbewegung der jüdischen Bevölkerung war, die spätestens nach der Shoah für viele eine Frage des Überlebens geworden ist.
Daher wird auch bei manchen Linken der Unterschied zwischen der Kibbuz-Bewegung mit ihren teilweise sozialistischen und anarchistischen Wurzeln und der rechten Siedlerbewegung übersehen.
"From the River to the Sea" und was damit gemeint ist
Nur in diesen Kontext bekommt die gerade so heftig diskutierte Parole "From the River to the Sea – Palestine will be free" eine für die jüdische Bevölkerung bedrohliche und nach dem 7. Oktober sogar tödliche Bedeutung. Nämlich die eines "judenfreien" Staates vom Jordan bis zum Mittelmeer.
Auf der Kundgebung trug ein Mann die Parole in abgewandelter Form: "From the River to the Sea – for all People Equality". Die Polizei intervenierte und sah hierin nur eine Variante der auch juristisch umstrittenen und in mehreren Bundesländern verbotenen Parole "From the River to the Sea – Palestine will be free". Dabei entging den Ordnungshütern, dass die veränderte Parole eine konträre Aussage hat.
Sie fordert die gleichen Rechte für alle Menschen, die in der Region leben. Doch dann müsste auch hinzugefügt werden, dass dies nur möglich ist, wenn die Hamas und andere islamistische Organisationen ihren Einfluss in der Region verlieren.
Denn die Gleichheit aller dort lebenden Menschen läuft deren Ideologie und ihrer terroristischen Praxis diametral zuwider, wie sich nicht erst am 7. Oktober wieder gezeigt hat. Doch es sind nicht "nur" alle jüdischen Menschen, sondern alle Linken und gesellschaftlichen Minderheiten von dieser islamistischen Ideologie bedroht.
Daher ist es umso unverständlicher, dass auf explizit linken Veranstaltungen nicht die eindeutige Verurteilung der Hamas erfolgt. Das wäre kein Zugeständnis an jüdische Menschen, sondern die Grundlage jeder emanzipatorischen Politik für alle. Erst wenn die Macht von Hamas und Co. gebrochen wird, wird in der Region zwischen "River" und "Sea" eine Gesellschaft spruchreif, in der alle Menschen gleiche Rechte haben.
Vivian Silver und viele andere, die auch Opfer des Hamas-Terrors waren, haben für eine solche Gesellschaft wichtige Grundlagen gelegt. Das haben ihre Mitstreiterinnen aus Palästina und Israel in der Erklärung noch einmal betont:
Trotz des Zorns und des Schmerzes angesichts der kriminellen und unverzeihlichen Handlungen der Hamas, wozu auch das ununterbrochene Bombardement von Städten überall in Israel gehört, dürfen wir unsere menschliche Würde nicht verlieren. Selbst in dieser äußerst schwierigen Situation ist es unsere Pflicht als Mütter, als Frauen, als Menschen und als ganze Nation, nicht unsere menschlichen Grundwerte zu verraten.
Aus der Stellungnahme von Women Wage Peace vom 17. Oktober
Warum nicht Gaza von der Hamas befreien?
Auf dieser Grundlage wurden dann auch Äußerungen der israelischen Ultrarechten kritisiert, die mit martialischen Tönen gegen die gesamte Bevölkerung Gazas vergessen, dass das Land von der Hamas, aber nicht von der Bevölkerung befreit werden muss.
Das wurde allerdings auch auf der schon erwähnten Kundgebung vergessen, wo nach mehreren Redebeiträgen "Gaza will be free" skandiert wurde und der entscheidende Nachsatz "from Hamas" vergessen wurde.
Dieser kleine aber entscheidende Zusatz fehlt auf vielen Veranstaltungen und Demonstrationen zum Nahostkonflikt in aller Welt, auch bei dem viel kritisierten Auftritt von Greta Thunberg in Amsterdam. Aber selbst Stimmen, die die Hamas klar verurteilen, verirren sich in merkwürdige Scheingefechte.
Slavoj Žižek und eine falsche historische Einordnung
Dazu gehört auch der slowenische Philosoph Slavoj Žižek, der auf seine in der Wochenzeitung Freitag abgedruckte und hier dokumentierte Replik Replik auf die Kritik an seiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse viel Richtiges sagt, um dann mit einer kruden und historisch falschen Einordnung einer Rede des SS-Mannes Reinhard Heydrich zu enden: "Wir müssen die Juden in zwei Kategorien einteilen: die Zionisten und die Assimilationsbefürworter.
Die Zionisten bekennen sich zu einem streng rassischen Konzept und helfen durch die Auswanderung nach Palästina, ihren eigenen jüdischen Staat aufzubauen. (…) Unsere guten Wünsche und unser offizielles Wohlwollen sollen mit ihnen gehen." (Zitiert nach Heinz Höhne: The Order of the Death’s Hand. The Story of Hitler’s SS)
Hier erweckt Žižek fälschlich den Eindruck, die Nazis hätten die Juden nur aus Deutschland und den von der Wehrmacht eroberten Ländern vertreiben wollen und ihnen mit dem eigenen Staat in Palästina viel Erfolg gewünscht.
Damit wird der eliminatorische Antisemitismus des Naziregimes ignoriert. Tatsächlich war es Ziel der Nazis und ihrer Verbündeten, so viele Juden wie möglich in aller Welt zu ermorden. Es waren die Siege der Alliierten, besonders der Briten in Nordafrika, die verhinderten, dass die Nazis und ihre Verbündeten, darunter arabische Islamisten, auch in Palästina Juden ermorden konnten.
Statt solche falschen historischen Bezüge herzustellen, hätte Žižek darauf hinweisen können, dass die Hamas mit ihrem Terror viele Jüdinnen und Juden an den eliminatorischen Antisemitismus des Naziregimes erinnert.