Grassierender Labelwahnsinn

Die großen Musikkonzerne verwischen die Identität der Marken

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Sagt Ihnen Motown Records oder vielleicht Blue Note Records etwas? Könnten Sie einige Künstler nennen, die auf diesen Labels veröffentlichen? Und wissen Sie auf Anhieb, wo die Aufnahmen des Latinopoppers Ricky Martin oder des Jazzers Wynton Marsalis verlegt werden? Beide bringen ihre CDs bei Columbia heraus, einem Label, das zu Sony Music gehört. Sie könnten sie aber auch bei Epic Records erscheinen lassen, wie Jennifer Lopez, Kollegin von Martin, oder bei Sony Classical, auf dem Wyntons ebenfalls jazzender Bruder Branford inzwischen veröffentlicht. Sie würden damit dem Hause Sony treu bleiben, ihre CD würde einzig ein anderes Markenzeichen zieren, sonst würde sich nichts ändern.

Viele Plattenfirmen, die heute nur noch als virtuelles Label existieren, hatten früher einmal eine Bedeutung, waren in der Branche ein Größe, weil sie für eine bestimmte Musik standen. Heute sind sie zu musikalischen Verschiebebahnhöfen verkommen, sind bloße Etiketten, die nicht mehr als eine Ansammlung von Künstlerverträgen bezeichnen, im günstigen Fall noch eine Goldgrube namens Backkatalog.

Dabei war Motown Records einmal bekannt für exzellenten Soul, Stevie Wonder wurde hier genauso veröffentlicht wie Diana Ross. Jetzt ist es ein Unterlabel von Universal Records, das zu Universal Music gehört, und die wiederum zu Vivendi/Universal. Blue Note Records war Mitte des 20. Jahrhunderts eines der wichtigsten Jazzlabels, das mit sehr viel Mut diese Musik erst gepuscht und populär gemacht hat und ganz zu recht mit dem Spruch warb "The finest Jazz since 1939". Capitol Records, das längst schon EMI gehört, hat es inzwischen aufgekauft und in den 80er Jahren wiederbelebt, um viel Geld mit den alten Aufnahmen zu machen.

Die großen Plattenfirmen waren in den letzten Jahren auf Einkaufstour, Sony hat sich Columbia und Epic einverleibt, Seagram Polygram und EMI ist mit Virgin fusioniert, alles mit dem Ziel, die Nr. 1 des Weltmarktes zu werden. Ein Ende ist nicht in Sicht. Eigentlich wollte Warner ja mit EMI, darf aber wegen seiner Fusion mit AOL nicht, weshalb Bertelsmann nun bei EMI anklopft. Auf diese Weise entstehen riesige Musik-Konglomerate, in denen die frühere Identität der einzelnen Labels längst untergegangen ist, eine Entwicklung, die sich auch am Buchmarkt beobachten lässt.

Universal allein zählt über 100 unterschiedliche Labels, EMI nennt 702, bei den anderen drei großen Konzernen, AOL Warner, BMG und SonyMusic sieht es nicht anders aus. Das einzelne Label gilt nichts mehr, stattdessen wird konsequent auf Musiker gesetzt, Stars werden gestylt und müssen den entsprechenden Umsatz bringen. Damit untergraben die Firmen auf Dauer ihre eigene Arbeit und müssen sich zunehmend ihrer ureigenen Funktion beraubt sehen. Die Produktion übernehmen viele große Musiker inzwischen in Eigenregie, um die Kontrolle über ihre Musik zu behalten. Die Firmen bekommen die fertige Aufnahme geliefert, gelegentlich sogar nur als Lizenz, und dürfen sich dann allein um den Vertrieb kümmern. Da allerdings macht ihnen inzwischen das Internet zu schaffen, nicht nur wegen der Raubkopie-Problematik, sondern auch, weil es zusehends den direkten Kontakt von Künstler und Kaufpublikum ohne Zwischenschaltung eines den Verdienst beschneidenden Fremdvertriebs ermöglicht.

Die Plattenfirmen besitzen, wie sie langsam begreifen, weder ihre Künstler, noch deren Musik wirklich. Ihr wahres Besitztum aber sind die Labels, die mit Marken wie CocaCola oder Nike gleichziehen und sich die Qualität der Marke, die sie früher einmal war, wieder aneignen könnten. So wie Blue Note Records, die einst für einen bestimmten Charakter, für eine bestimmte Musik standen. Dort konnten auch unbekannte Musiker erscheinen und sich ihren Markt erschließen, das Label, auf dem sie veröffentlichten, bürgte für die Qualität. Diese Qualität fand ihren Ausdruck in einer konsequent durchgeführten, ästhetische Maßstäbe setzende Covergestaltung. Heute nennt sich das Corporate Identity und wird von allen gerühmt, nur ist es in die Leitungsetagen der Plattenfirmen noch nicht vorgedrungen.

Der Aufbau solch einer Marke braucht allerdings Zeit, oft mehr als ein Jahrzehnt. PolyGram hat das Anfang der 90er Jahre einmal versucht, Motor Music wurde gegründet, dazu als Unterabteilung Motor Jazz. Verve wurde aus der Versenkung geholt und als Jazzlabel neu positioniert. Sorgsam wurden alte Aufnahmen ediert, dazu eigens noch eine Zeitschrift herausgegeben. Dann kam Seagram, und hat sich PolyGram einverleibt. Damit scheiterte das Projekt, denn aus Motor Music wurde Universal Music, und zu Verve kamen eine ganze Reihe anderer Labels hinzu.

Universal Music ist zwar derzeit Nummer 1 auf dem Weltmarkt, aber selbst im Jazz verströmt es den Charme eines schlecht sortierten Gemischtwarenladens. Sony versucht es derweil auf scheinbar einfacherem Wege. Für ihre neue Midprice-Serie "music for you" haben sie eine der stärksten Musikmarken ins Visier genommen, die Münchner ECM. Konsequent wurde deren ästhetisches Konzept für die CD-Verpackung nachgeahmt. Um Verwechslung zu fördern, fehlt auf dem Front-Cover jeglicher Hinweis auf die Plattenfirma. Eine dauerhafte Bindung des Kunden an die eigenen Produkte wird aber auch so nicht gelingen, der Kunde wird bald merken, dass ihm da nur Altes neu aufgetischt wird. Dabei bringen alle diese Plattenfirmen immer wieder musikalische Juwelen hervor, die häufig in der Masse untergehen.