Greift der Ukraine-Krieg auf Transnistrien über?

Checkpoint an der Grenze zwischen Transnistrien und der Ukraine in Perwomajsk/Kutschurgan zu Friedenszeiten. Foto: Julian Nyča / CC-BY-SA-4.0

Durch Terroranschläge und den Krieg in der benachbarten Südukraine ist die Region Transnistrien in den Fokus gerückt. Kann sie in den Krieg hineingezogen werden?

In Moldawien herrscht aktuell große Sorge, in den Krieg in der benachbarten Ukraine hineingezogen zu werden – auch in der juristisch zum Land gehörenden, faktisch aber wie ein unabhängiger Staat handelnden Provinz Transnistrien.

Der seit den 1990er-Jahren eingefrorene Konflikt um diese Provinz im Inneren nährt die Befürchtungen – und eine Serie von Anschlägen in Transnistrien Ende April auf Funktürme, ein Ministerium der Provinz und eine Militäreinheit. In Transnistrien wurde daraufhin die höchste Terrorwarnstufe eingeführt, die eigenen Streitkräfte sind bis heute in Alarmbereitschaft.

Gegenseitige Schuldzuweisungen nach Bombenanschlägen

Für die Bombenangriffe machten sich umgehend Russland und die Ukraine gegenseitig verantwortlich. Auch die transnistrische Regierung – die Provinz ist mehrheitlich russischsprachig – sieht die Verantwortung bei der Ukraine. Dagegen sehen Kiew und beispielsweise der frühere Moldawische Verteidigungsminister Vitalie Marinuta die Angelegenheit als russische Provokation.

Sie verweisen dazu auf Äußerungen von russischen Militärs, die benachbarte südukrainischen Region Odessa erobern zu wollen, um eine Landbrücke nach Transnistrien zu schaffen. Dort sind als Überbleibsel des eingefrorenen Krieges der frühen 1990er-Jahren zwischen der Moldawischen Regierung und den Transnistriern 1.500 russische Soldaten stationiert.

Der aus Transnistrien stammende russische Journalist und Schriftsteller Jefim Berschin, Zeitzeuge des Krieges in den 1990er-Jahren, sieht dagegen in Kiew ein deutliches Motiv, die Situation in seiner Heimat zu destabilisieren. Die Ukrainer kämpfen im Krieg großteils noch mit Waffen sowjetischer Produktion und für diese lagern in Transnistrien große Bestände an Munition, die von den Truppen der Anfang der 1990er-Jahre aus Mitteleuropa abgezogenen Roten Armee stammen. Sie wurden beim Zusammenbruch der UdSSR recht unkoordiniert von überall dort hingebracht.

All das wird im Dorf Kolbasna in Transnistrien in riesigen Mengen gelagert. Da die Ukrainer hauptsächlich mit ehemaliger sowjetischer Ausrüstung kämpfen, sind sie mit diesen Systemen bewaffnet, haben aber nicht genug Munition. Was heute aus westlichen Ländern geliefert wird, passt zu diesen sowjetischen Waffen nicht.


Jefim Berschin gegenüber Telepolis

Jeder Angriff von außen hätte internationale Konsequenzen

So wäre ein Zugriff auf diese großen Vorräte für die Ukraine ein lohnendes Ziel. Berschin selbst gibt aber zu bedenken, dass jeder offene Einmarsch der Ukraine in Moldawien ein aggressiver Akt und ohne Genehmigung der Moldawischen Regierung undenkbar ist.

Ein Einrücken ohne internationale negative Konsequenzen bräuchte eine offizielle Genehmigung der Republik Moldau. Die russische Seite wiederum müsste für einen Angriff auf Moldawien zunächst die Region Odessa erobern. Hier gab es militärisch in den letzten Wochen für die Invasionsarmee keinerlei Fortschritte in Richtung der Grenze zu Moldau.

Moldawiens Regierung möchte schon seit Jahren die russischen Truppen im eigenen Land los haben und betrachtet sie nach Einschätzung des Politologen Denis Tschenuscha vom Zentrum für Osteuropastudien im Litauischen Vilnius als Besatzungstruppen.

Jedes russische Einrücken in Transnistrien würde Moldawiens Regierung daher als Aggression betrachten. Nach dem Einmarsch ukrainischen Truppen "zum Schutz" rufen würden die Moldawier aber auch nach Auffassung Jefim Berschins nicht, da sie vom Wohlwollen der Transnistrier abhängig seien.

Die Gaspipeline von Russland nach Moldawien führt durch Transnistrien. Und dieses ist durchaus in der Lage, das Rohr abzuklemmen, das Ventil zu schließen. Der Strom in Moldawien kommt aus zwei Kraftwerken, dem Moldajskaja GRES, das sich in Transnistrien befindet und zwei Wasserkraftwerken am Fluß Dnjestr, ebenfalls unter transnistrischer Kontrolle. Moldawien kann sich nicht leisten, ohne Strom zu bleiben.


Jefim Berschin

Prorussische Mehrheit in Transnistrien

Tatsächlich sei die Bevölkerung Transnistriens prorussisch gesinnt und würde sich mehrheitlich am liebsten der Russischen Föderation anschließen, so Berschin. In der Provinz sind nur ein Drittel der Menschen ethnische Moldawier, dem Rest stellen Russen und Ukrainer. Diese Mischung lebte in der Sowjetzeit friedlich nebeneinander – Stalin schlug das Gebiet Moldawien zu und zog eine recht willkürliche Grenze zur Ukraine.

Beim Zusammenbruch der UdSSR zerbrach die Eintracht und ein Krieg begann, der durch einen Waffenstillstand 1992 beendet wurde, geschützt von Anfang an durch russische Truppen.

In den letzten Jahren hätten sich beide Seiten mit der Situation gemäß Berschin recht gut arrangiert und hätten auch intensive Kontakte zueinander. Zuvor hatte es in den Jahrzehnten nach dem Krieg einen umfassenden wirtschaftlichen Niedergang gegeben, der sowohl viele Moldawier als auch Transnistrier zur Arbeitssuche ins Ausland trieb. Die Bevölkerung sank von knapp vier Millionen auf etwa zweieinhalb Millionen Einwohner.

Nach der Abspaltung von der Sowjetunion wurde Moldawien tatsächlich arm. Ich lebe in Moskau und wenn ich auf den Markt gehe, sehe ich die armen Moldawier in vielen Jobs: Ob bei den Verladern oder bei den Verkäufern, weil es in Moldawien einfach keine Arbeit gibt (…) viele sind auch unterwegs in Europa, in romanischen Ländern, Italien, Spanien, Rumänien, wo sie die Sprache einfacher lernen können. Die Russischsprachigen arbeiten in Russland.


Jefim Berschin

Russische Truppen vor Ort mit geringem Potenzial

Die Kampfkraft der russischen Truppen im Land schätzen sowohl Berschin als auch Tschenuscha nicht allzu hoch ein. Ein eigenes Invasionspotenzial besteht kaum.

Die Militärbestände in Kolbasna sind instabil und veraltet, der Flugplatz in keinem guten Zustand und nicht geeignet für einen Hochbetrieb. Sie könnten bei Bedarf nur für kleinere militärische Operationen eingesetzt werden.


Denis Tschenuscha gegenüber der Onlinezeitung Meduza

Bei einem tatsächlichen Angriff würden sie nur wenige Tage standhalten, hätten auch vergleichsweise wenige moderne Waffen. Ihre Aufgabe ist vor allem die Bewachung der riesigen Magazine vor Ort. Die Transnistrier wollten trotz ihrer russlandfreundlichen Haltung laut Berschin nicht in Kampfhandlungen des Ukraine-Krieges verwickelt werden.

Vergleich zwischen Transnistrien und Donbass

Ein Vergleich der in Bezug auf Transnistrien häufig gezogen wird, ist der zu den abtrünnigen und ebenfalls mehrheitlich russischsprachigen Donbass-Republiken. Berschin sieht hier durchaus Parallelen, da zur Sowjetzeit Grenzen ohne Berücksichtigung nationaler und kultureller Besonderheiten gezogen worden seien. Denis Tschenuscha sieht jedoch in Bezug auf die Gegenwart der Regionen entscheidende Unterschiede.

In den letzten Jahren hat sich sogar ein Teil der Wirtschaft [Transnistriens] in den europäischen Markt integriert, allerdings als Teil Moldawiens. Die Region hat ein gewisses Maß an Autonomie gegenüber Moskau, was von den Donbass-Republiken nicht gesagt werden kann. Deswegen hat die Region eine gewisse Neutralität gegenüber der Ukraine gezeigt.


Denis Tschenuscha gegenüber der Onlinezeitung Meduza

So eint Moldawien und Transnistrien trotz aller Spaltung der Sympathien und Ethnien der Wunsch, in den Krieg in der benachbarten Ukraine nicht hinein gezogen zu werden. Weder ein ukrainischer noch ein russischer Einmarsch würde begrüßt werden. Das Land ist durch einen Bürgerkrieg in den frühen 1990er Jahren leidgeprüft und hat kein Interesse, Gegenstand einer neuen bewaffneten Auseinandersetzung zu werden.

Jefim Berschins Buch zum Transnistrien-Konflikt ist auch auf Deutsch erschienen: Wildes Feld – Eine dokumentarischer Erzählung zum transnistrischen Krieg, ISBN 978 3741263866

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