Grippeparanoia hinter Gittern
Die französischen Gefängnisse sind heillos überfüllt. Manche bis zu 220% ihrer Kapazität! Ein Paradies für den Schweinegrippevirus?
„Der Zustand unserer Gefängnisse ist eine Schande für die Republik“, tönte Staatspräsident Sarkozy noch letzten Juni. Sprach’s und nur wenig geschah. 51000 Plätze stehen zur Verfügung, aber die Grande Nation zählt zur Zeit 64000 Gefangene. Seit Anfang 2009 wird alle 3 Tage ein Selbstmord oder ungeklärter Todesfall eines Häftlings vermeldet. Zynisch gesehen: Vielleicht nimmt ihnen jetzt ja die Schweinegrippe die Arbeit ab? Denn die sanitären Bedingungen sind in dieser räumlichen Enge mehr als bedenklich. Ein Bericht des europäischen Menschenrechtskommissars Thomas Hammarberg macht die desolate Situation der französischen Gefängnisse erschreckend deutlich. Seit Anfang September wurde auch schon von den ersten Grippefälle hinter Gittern berichtet
Drei Gefängnisinsassen in Lyon wurden mit Verdacht auf die H1N1-Grippe zwar nicht einer Quarantäne unterzogen, aber mit Atemschutzmasken ausgestattet. Aus Platzmangel? Ende August wurde nämlich einem Mitglied des Verwaltungspersonals die gefürchtete Schweinegrippe diagnostiziert. Wie sich aus dem Blog des seit 1984 in der Nähe von Paris einsitzenden Laurent Jacqua ersehen lässt, sorgt die Influenza A für gehörige Unruhe hinter den Gefängnismauern:
Im Krankenraum unseres kleinen Zentralgefängnisses („centrale“= Anstalt für lange Haftstrafen) herrscht schiere Aufregung. Man wähnt sich in einer Folge von „Emergencyroom“, so ernst werden die Anweisungen der Gefängnisleitung und des Ministeriums genommen: Tamifluvorräte, Atemschutzmasken, antibakterielle Gels, Zellen, die schon für eventuelle Isolierungen vorbereitet werden. (...)
Unter uns wird das alles auch langsam aber sicher zur Paranoia. Sobald jemand Fieber hat oder ein wenig hustet, sieht man ihn verkehrt an und entfernt sich geschwind von ihm, um keine kontaminierten Nieströpfchen abzubekommen. Man wäscht sich die Hände 20 Mal pro Tag und trinkt nicht mehr von der selben Flasche oder dem selben Glas eines Anderen und vermeidet tunlichst Gruppen.(...)
Aber nun gut: Damit muss man jetzt eben zurechtkommen. Aber natürlich ist es in einem geschlossenem Milieu wie es das Gefängnis ist, ein wenig beängstigender als draußen. Denn hier kann man nicht entkommen. Auch an eine eventuelle Evakuierung oder Schließung ist freilich nicht zu denken. (...)
Falls der H1N1 oder welcher Virus auch immer in einem unserer Gefängnisse auftaucht, werden die Auswirkungen und Schäden sicherlich angesichts der Ungenügsamkeiten unserer Gefängnisse beindruckender sein als anderswo. Also Kopf hoch an all diejenigen, welche schon die Übervölkerung unserer abgehalfterten Gefängnisse und die schwierigen Hygienebedingungen ertragen müssen. Aber macht euch keine Sorgen: Die Regierung kümmert sich um uns!
Denn die Justizministerin Michèle Alliot-Marie, für die abkürzungswütigen Franzosen kurz MAM, hat nämlich einen Plan wie man zumindest die für mediale Aufmerksamkeit sorgende Selbstmordwelle stoppen könnte: Gefährdete Häftlinge sollen mit unzerreißbarer Bettwäsche und Papierpyjamas ausgestattet werden und aus den Zellen die TV-Träger entfernt werden, um Erhängen zu erschweren. Des weiteren schlug MAM kürzlich vor, den Häftlingen die Wahl zu lassen, ob sie allein in ihrer Zelle verbleiben wollen oder Zellengefährten vorziehen würden. Gesellschaft soll nämlich laut der Ministerin eine gute Selbstmordprävention sein.
Als ob französische Häftlinge die Wahl hätten! Der Report des EU-Menschenrechtskommissars berichtet von Zellen, die an sich für eine Person vorgesehen wären, teils von 3 – 4 Gefangenen belegt sind. Stéphane Barraut, Generalsekretär der Ufap-Unsa, größte Gewerkschaft des Wachpersonals, beschreibt die krude Wahrheit folgendermaßen:
Diese angebliche freie Wahl besteht darin, dass zur Zeit die individuelle Zelle Ausnahme bleibt. Auf einem Gang mit 30 Zellen haben Sie vielleicht 2 oder 3 Individuelle. Mit dem Ergebnis, dass falls ein Häftling eine individuelle Zelle verlangt, er aus Platzmangel in eine kilometerweit entfernte Anstalt verlegt werden muss. Weit weg also von seiner Familie und seinem Anwalt. Das nenne ich nicht eine freie Wahl, sondern eine erzwungene. Hier werden die Leute kurzum verarscht!“
Keine Aussicht auf Besserung
Das Recht auf eine Einzelzelle ist an sich schon seit 1875 Gesetz! Dieses nicht angewendete Recht wurde im Jahr 2000 durch das Strafvollzugsgesetz noch einmal bestätigt. Das Recht auf ein wenig Privatsphäre für Häftlinge ist in Frankreich vielleicht Gesetz, aber eben nicht die Regel. Das Strafvollzugsgesetz wurde übrigens gerade revidiert. Die neue Version wurde vom Parlament am 22.09. abgesegnet. Dieses Gesetz war ursprünglich dafür vorgesehen, die Grundrechte der Gefangenen zu stärken.
Doch dieses nunmehr großartig von MAM verkündete neue Recht auf die freie Wahl, ob Zellengefährte oder nicht, ließe erkennen, dass das neue Gesetz ein gewaltiger Rückschritt sei, wie die linksstehende Richtergewerkschaft Syndicat de la Magistrature (SM) befürchtet. Um das ohnehin schon geltende Recht auf eine Einzelzelle zu untergraben?
Die Gefängnisverwaltung kann laut der Richtergewerkschaft nunmehr dank des neuen Gesetzes einem Häftling die Einzelzelle kurzum verweigern. Die von MAM dekretierte freie Wahl hat nun also viel eher die Gefängnisverwaltung, die natürlich mit dem wenigen Platz, der zur Verfügung steht, tut, was sie kann. Doch scheint das neue Gesetz der ohnehin schon allmächtigen Gefängnisverwaltung noch mehr Entscheidungsmacht einzuräumen.
Künftig soll diese u.A. im Alleingang die Gefährlichkeit eines Gefangenen abschätzen, um zu entscheiden, welchem Haftregime dieser unterzogen werden soll. Wie Hugues de Suremain, Jurist beim Internationalen Observatorium der Gefängnisse (OIP) erklärt:
Man wohnt der Installierung eines verdeckt disziplinären Regimes bei, in dem die Macht der Gefängnisverwaltung noch mehr ausgebaut wird.
Auch Florence Aubenas, Journalistin, ehemalige Geisel im Irak (siehe Grauzone 007 im Irak) und nunmehr Präsidentin des OIP, zeigt sich vom neuen Gesetz enttäuscht: „Dieses Gesetz sollte endlich die Anerkennung bringen, dass auch Häftlinge Bürger sind. Sobald aber ein Grundrecht für die Häftlinge in diesem Strafvollzugsgesetz auftaucht, ist es von derartig vielen Einschränkungen eingerahmt, dass vor allem Platz für die Willkür der Gefängnisverwaltung bleibt.“
Die Menschenrechte hören beim Durchschreiten des Gefängnisportals auf gültig zu sein, bringt es ein weiterer Mitarbeiter des OIP, Patrick Marest, auf dem Radiosender France Inter auf den Punkt. Die Gefängnisverwaltung sei laut der OIP, ein Staat im Staat, und der Gefängnisdirektor gleichzeitig Richter und Partei.
Selbst das Justizministerium hätte da kaum etwas zu vermelden. Die Abgeordneten vermieden es aus Angst vor Unpopularität, Gesetze vorzuschlagen, die endlich den Rechtsstaat in die Gefängnisse einziehen lassen könnten. Diese Situation sei einmalig in Europa. Nur noch vergleichbar mit den Gefängnissen der Ex-UdSSR. Frankreich hätte in Europa die höchste Selbstmordrate hinter Gittern und schlägt alle Rekorde bei der Aufenthaltsdauer im Disziplinarbereich, der von manchen mit einem Hundezwinger verglichen wird.
Immerhin darf seit geraumer Zeit der „Disziplinierte“ einen Anwalt konsultieren. Doch dieses Recht scheint nur in Paris umgesetzt zu werden. In der Provinz, wie es in Frankreich so schön heißt, bekommt ein Häftling im Disziplinarbereich einen Anwalt nur selten oder gar nicht zu Gesicht.
Warum sind die Gefängnisse so voll?
Die europäischen Instanzen haben schon mehrmals die Grande Nation, die sich ja selbst bekanntermaßen Heimat der Menschenrechte wähnt, ob des katastrophalen Zustandes ihrer 190 Gefängnisanstalten gerügt. Der Bericht des europäischen Menschenrechtskommissars liefert den Franzosen Erklärungen, warum eine derartige Übervölkerung in ihren Gefängnissen herrscht: So sorgten in manchen Anstalten die ohnehin längst überfälligen Renovierungsarbeiten dafür, dass sich die Häftlinge auf die Zehen steigen. Vor allem aber rühre das Dilemma daher, dass die in Sarkozien verhängten Strafen zunehmend verhärten und immer häufiger eine Gefängnisstrafe verhängt würde. Seit 2002 hat laut dem Menschenrechtskommissars Thomas Hammarberg eine ganze Reihe neuer Gesetze den Schwerpunkt auf die repressive Dimension gelegt.
Vor allem ein Gesetz vom August 2007, das Gesetz Dati, nach dem Namen der ehemaligen nicht gerade als zart besaitet bekannten Justizministerin Rachida Dati, das für Rückfalltäter Minimalstrafen (peines plancher) geschaffen hat, erweist sich als Gefängnisfüller par excellence. Der Richter kann auf diese Minimalstrafe zwar verzichten, muss dies aber gesondert begründen.
Noch dazu kann er ab der zweiten Rückfalltat nur noch eine Haftstrafe verhängen. Und dies gilt für eine erkleckliche Anzahl von Delikten. Auch kleine. In den folglich randvollen Gefängnissen mangelt es noch dazu an Wachpersonal, Sozialarbeitern und Verwaltungspersonal, wird deren Anzahl doch nach der „theoretischen“ maximalen Kapazität berechnet.
Die räumliche Enge führe zu Spannungen und Gewalt zwischen dem Wachpersonal und den Häftlingen und den Häftlingen untereinander. Diese düstere Stimmung treibt nicht nur die Gefangenen in den Selbstmord: Seit Anfang des Jahres haben sich auch 10 Beamte des Überwachungspersonals umgebracht. Die hygienischen Bedingungen stellen in dieser räumlichen Enge ein ernsthaftes Risiko für die Gesundheit dar. Einen Platz in einer Dusche zu ergattern sei alles andere als einfach und wer einen Arzt konsultieren möchte, müsse ganz schön lange darauf warten.
Und dies in Zeiten der H1N1-Grippe, die sich in Europa zur Zeit in Frankreich am schnellsten verbreiten soll.
Laut dem Bericht Hammarbergs, plant das französische Justizministerium für das Jahr 2012 über 63.000 Haftplätze zu verfügen. Doch Vorraussagen sehen für 2017 80.000 Gefangene vor. Der europäische Menschenrechtskommissar gemahnt daran, dass eine Haft natürlich nicht nur dazu vorgesehen sei, zu strafen, aber auch auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorbereiten müsse.
Der ehemalige Justizminister Mitterands, Robert Badinter, der 1981 die Todesstrafe abgeschafft hatte, bedauert ebenfalls, dass das neue Strafvollzugsgesetz nicht endlich den Rechtsstaat in die französischen Gefängnisanstalten einführt, und dass nicht endlich anerkannt wird, dass ein Häftling auch ein Bürger sei, der über Grundrechte verfügt, ausgenommen eben der Freiheit, zu kommen und gehen, wie es ihm gefällt.
Der Psychiater Louis Albrand, Gründer eines Kollektivs, das zum Ziel hat, die Haftanstalten menschlicher zu gestalten, formuliert den katastrophalen Zustand der französischen Gefängnisse folgendermaßen:
Zur Zeit verurteilt man Leute, die man in diese Gefängnisse steckt zum Tode, obwohl diese Strafe nicht mehr existiert. Wir müssen uns da jetzt einmischen, um dafür Sorge zu tragen, dass wieder mehr Menschlichkeit herrscht.
Währenddessen scheinen die Häftlinge der Anstalt in Longuenesse im Norden Frankreichs eine Lösung gefunden zu haben, um ein wenig Ruhe in all dem heillosen Lärm der Gefängnisse zu bekommen. Ihnen wurde nämlich um 6,45 Euro eine Impfung gegen die Schweinegrippe angeboten, die aber kaum einen interessiert haben soll. Warum sich ruinieren wenn doch eine Kontaminierung dank der Quarantäne die Perspektive auf ein wenig mehr individuellen Raum und Aufmerksamkeit eröffnet, wie Le Monde anmerkt?
Gesetzt den Fall natürlich, dass die betroffene Anstalt über genügend Platz verfügt, um einen eigenen Quarantäneraum einzurichten. Wenn nicht, müssten dann eben die Häftlinge ganz einfach noch näher zusammenrücken. Kein Problem: Sie sind es ja gewohnt.