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HĂ€usliche Pflege nur mit Ausbeutung?

Wie ist die Pflege Angehörige zu Hause tragbar? Bild: geralt, Pixabay

Nachrichten aus dem bundesdeutschen Kapitalismus (Teil 3 und Schluss)

Manchmal kommt den sozial Schwachen ein Gericht zu Hilfe. Das höchste deutsche Arbeitsgericht schreitet gegen den "systematischen Gesetzesbruch" (ver.di) in der geschĂ€ftlichen SphĂ€re der hĂ€uslichen Pflege ein und gibt einer bulgarischen Pflegekraft Recht, die mit UnterstĂŒtzung der Gewerkschaft auf Nachzahlung stattlicher LohnbetrĂ€ge klagt

FĂŒr ihre Rund-um-die-Uhr-Betreuung einer alten Dame hat sie nach dem Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts nachtrĂ€glich einen Anspruch auf die Bezahlung sĂ€mtlicher, auch der Bereitschaftsstunden, und zwar in der Höhe des deutschen Mindeststundenlohns.

Und was vermelden dazu die öffentlichen Beobachter? Damit wird ein sozialstaatliches Modell infrage gestellt, bei dem alle Beteiligten nur gewinnen:

FĂŒr Hunderttausende deutsche Familien ist eine osteuropĂ€ische Pflegekraft, die Senioren fĂŒr kleines Geld in den eigenen vier WĂ€nden versorgt, die Rettung: Oma und Opa mĂŒssen nicht ins Heim, die Pflegekraft verdient mehr als in der Heimat und der Staat hat ein Problem weniger.

FAZ, 25.6.21

Ein Zynismus, der freilich nur bedingt auf das Konto der FAZ geht, der nÀmlich die sozialstaatlich geregelte Sache betrifft, um die es da geht:

FĂŒr die Abwicklung der hilfsbedĂŒrftigen Endphase eines bĂŒrgerlichen Lebens macht der Staat grundsĂ€tzlich die Familie haftbar und gewĂ€hrt ihr dabei eine wohldosierte UnterstĂŒtzung aus der Pflegekasse, die ĂŒber ZwangsbeitrĂ€ge aus dem Einkommen der ErwerbstĂ€tigen gefĂŒllt wird.

Der allgemeine öffentliche Haushalt ist zur Finanzierung der Altlasten der Benutzung des Volkes nicht da, so die erste PrÀmisse.

Die Zweite lautet, dass die BeitrĂ€ge zur Pflegeversicherung mit dem Bedarf auf gar keinen Fall einfach wachsen dĂŒrfen; das ist der Arbeitgeberschaft nĂ€mlich nicht zuzumuten, bei der Löhne schließlich als Kosten anfallen.

Die UnterstĂŒtzung der Familien aus der Pflegekasse ist unter diesen beiden Maßgaben eng bemessen, jedenfalls von vornherein nicht darauf berechnet, eine ‚Fremdvergabe‘ des Problems durch Heimunterbringung zu finanzieren. Sie mindert fĂŒr die Betroffenen nur die Kosten, die anfallen.

Pflege durch Angehörige

Diese verbleibenden heftigen "Eigenleistungen" beleben - neben den ZustĂ€nden in den kostenbewusst gefĂŒhrten Pflegeeinrichtungen - die Bereitschaft der Angehörigen zur "hĂ€uslichen Pflege".

FĂŒr die kann wiederum ein ambulanter Pflegedienst genutzt werden, dann geht der Zuschuss der Pflegekasse fĂŒr eine durchaus ĂŒberschaubare "Sachleistung" drauf und der grĂ¶ĂŸere Rest der Pflege bleibt unentgeltlich am privaten Umfeld hĂ€ngen.

Oder aber pflegende Angehörige erledigen alles selbst und können dafĂŒr aus der Pflegekasse ein wahrlich reichlich bemessenes Pflegegeld beziehen: Beim höchsten Pflegegrad 5, der komplette Hilflosigkeit voraussetzt, gibt es fĂŒr die Arbeit der pflegenden Angehörigen stolze 901Euro Bezahlung!

Diese privat zu leistende Pflege wĂ€chst sich allerdings auch bei niedrigeren Pflegegraden schnell zu einem Programm aus, das eine ErwerbstĂ€tigkeit mehr oder weniger ausschließt, es sei denn, die Betroffenen können sich eine private "Hilfestruktur" beschaffen, die den Pflegeaufwand fĂŒr sie in Grenzen hĂ€lt.

Womit sie beisammen wĂ€ren, die sozialstaatlichen Rahmendaten fĂŒr einen ganz speziellen Arbeitsmarkt fĂŒr PflegekrĂ€fte, auf dem sich drei Akteure tummeln:

Erstens die Familien, die sich und/oder ihren hilfsbedĂŒrftigen Angehörigen ein Pflegeheim ersparen möchten und auf helfende HĂ€nde angewiesen sind, weil ihr Arbeitsleben sie umfassend in Anspruch nimmt - die meisten gehören ja selbst zu den abhĂ€ngig BeschĂ€ftigten, und deren Einkommen gibt die Nutzung von Dienstpersonal ĂŒberhaupt nicht her.

FĂŒr diese Nachfrage nach Betreuungspersonal der billigen Art organisieren zweitens Vermittlungsagenturen ein Angebot fĂŒr eine hĂ€usliche Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Deren GeschĂ€ftsmodell ist einerseits zugeschnitten auf die Notlage sowie die geringe Zahlungskraft ihrer Kundschaft.

Es lebt andererseits von der Notlage einer dritten Partei, der Arbeitsuchenden hauptsĂ€chlich aus Osteuropa eben, fĂŒr die dank der marktwirtschaftlichen Befreiung ihrer Heimat zum Hinterland der EU jede Art von Billiglohn-Arbeit ein Angebot darstellt, das sie nicht ablehnen können.

Arbeitsvermittlung im Graubereich der LegalitÀt

Diese ArbeitskrÀfte werden von den einschlÀgigen Agenturen mehr oder weniger im oder jenseits des Graubereichs der LegalitÀt vermittelt zu Löhnen weit unterhalb selbst des deutschen Mindestlohns und zu faktischen Einsatzzeiten jenseits jeder Arbeitszeitordnung.

Die Notlage der zahlenden Kundschaft und der hilfreichen Damen, gelegentlich auch Herren aus dem Osten sowie der GeschÀftssinn der Vermittler mobilisiert dabei auf allen Seiten die nötige Bereitschaft, darauf zu spekulieren, dass die Sache nicht vor den Kadi kommt.

Und das tut sie in der Regel auch nicht. Denn dieses MassengeschĂ€ft im Billiglohnsektor - erst zu Beginn der Corona-Krise, als QuarantĂ€neregeln den ĂŒblichen Schichtwechsel der PflegekrĂ€fte aus den OstlĂ€ndern behinderten, wurde man mit den Ausmaßen vertraut gemacht - wird von den jeweils zustĂ€ndigen staatlichen Instanzen normalerweise stillschweigend geduldet; funktionelle BeitrĂ€ge dieses Marktes zur Abwicklung des "Pflegeproblems" sind schließlich politisch erwĂŒnscht.

Und dann das! Mit einem Urteil, das sich - ohne RĂŒcksicht auf funktionelle sozialstaatliche ErwĂ€gungen - stur an die geltende Rechtslage hĂ€lt, erkennt das Arbeitsgericht ein durch den deutschen Einsatzort gegebenes, gleiches Recht auf Bezahlung der geleisteten Arbeits- und Bereitschaftszeit an.

Prompt lassen die öffentlichen Beobachter das Publikum wissen, dass das Urteil in deutschen Haushalten einen "Tsunami" (Focus, 24.6.21) auslösen werde, weil es eine hÀusliche Pflege tendenziell unbezahlbar mache:

"WĂŒrde das Urteil umgesetzt, wĂŒrden sich die Löhne vervielfachen, was sich kaum jemand leisten könnte." FĂŒr eine Rundum-Betreuung mĂŒsste man nĂ€mlich "mindestens drei Betreuerinnen anstellen, um rechtlich auf der sicheren Seite zu sein. Das dĂŒrfte zwischen 12.000 und 15.000 Euro im Monat kosten." (FAZ, 9.8.21)

FAZ gegen ertrĂ€glichen Arbeitseinsatz fĂŒr Pflegende

FĂŒr die FAZ selbstverstĂ€ndlich eine AbsurditĂ€t! Sie gibt so auf ihre Art zu Protokoll, dass die unabdingbare Entlastung der pflegenden Familien, die sich bekanntlich auch noch anderweitig nĂŒtzlich machen sollen, schlicht unvereinbar ist mit einem auch nur halbwegs auskömmlichen und ertrĂ€glichen Arbeitseinsatz des pflegenden Personals.

Dass also nach den maßgeblichen Interessen von Staat und Kapital an der SphĂ€re im Prinzip alles so bleiben muss, wie es ist.

Und die FAZ weiß auch Rat. Sie weiß erstens, dass ein Rechtsspruch und dessen Umsetzung zweierlei sind - dass es nĂ€mlich "fraglich ist, ob sich die BetreuungskrĂ€fte trauen, die Forderungen gegenĂŒber ihren auslĂ€ndischen Vermittlungsagenturen durchzusetzen" und dass sich das Urteil mit der vermehrten Anwendung der Rechtsform eines "freien Gewerbetreibenden" oder "arbeitnehmerĂ€hnlichen SelbstĂ€ndigen" umgehen lĂ€sst.

Und sie weiß zweitens, dass grundsĂ€tzlich der Bedarf besteht, das Unvereinbare vereinbar zu machen:

Seit Jahren verschließen die zustĂ€ndigen Minister Jens Spahn und Hubertus Heil die Augen vor den unĂŒbersehbaren MissstĂ€nden in der hĂ€uslichen Pflege, dabei hat ein höchstrichterliches Urteil jĂŒngst auch dem letzten RealitĂ€tsverweigerer aufgezeigt, dass PflegekrĂ€fte dort systematisch unterbezahlt werden. Dieses Problem muss gelöst werden, ohne die hĂ€usliche Pflege unbezahlbar zu machen. Es braucht einen rechtssicheren Mittelweg, der dem deutschen Arbeitsrecht, den BedĂŒrfnissen osteuropĂ€ischer Betreuerinnen und den finanziellen Möglichkeiten der Familien gerecht wird.

FAZ, 9.8.21

Was also ist zu tun? Die Politik muss einfach endlich handeln und die Lösung finden, die alle Seiten gut bedient!

Peter Decker ist Redakteur der politischen Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt [1]. Dieser Artikel ist eine Vorabveröffentlichung aus der nÀchsten Ausgabe, die am 17.9. erscheint.


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