"Hagen – Im Tal der Nibelungen": Der Verräter als Held
Staatsraison und Blut und Boden: Hagen, der Dark Knight des deutschen Geistes, der Nibelungenmythos und die Frage, ob es besser ist, weniger gut zu sein.
Hagen sag' was bleibt uns denn heut?
Börries von Münchhausen
Ohne Führer das heilige Volk
"Europa im Mittelalter. Feindliche Hunnen drängen in den Westen" – so verkündet eine Schrift auf der Leinwand, bevor die ersten Bilder zu sehen sind. Wer jetzt gleich Fremdenfeindliches vermutet, sieht sich getäuscht.
Denn auch in diesem Film liegt der Fokus ganz auf den Burgundern, auf der königlichen Großfamilie im Zentrum des Nibelungen-Mythos.
"Dem deutschen Volke zueigen"
In Fritz Langs epochemachendem, genau hundert Jahre altem zweiteiligem Stummfilm hieß es noch: "Dem deutschen Volke zueigen". So dreht sich die Perspektive dieser "Nibelungen"- Film-Version scheinbar weg vom Deutschen hin zu "Europa" und weg vom Inneren zum Äußeren, zum feindlichen Fremden, das als fremder Feind erscheinend abgewehrt werden muss.
"Ihr kennt die deutsche Seele nicht, Herr Etzel!" – dieser Zwischentitelsatz kurz nach Ende aller Nibelungentreue im Feuergrab von "Krimhilds Rache", dem zweiten Teil des Lang-Epos, führt im Kino immer wieder zu Glucksen jüngerer Zuschauer und zu entsetztem Aufstöhnen der Älteren, die dieser destruktiven Seele in ihren Eltern und Großeltern noch allzugut begegnet sind.
Bei Lang war er ernst und weder zynisch noch ironisch gemeint.
Tückische Hunnen
Tückisch und böse sind diese Hunnen allerdings schon: Das von ihnen gebranntschatzte Dorf erweist sich nämlich als Falle für die burgundische Reiterschar und König Dankwart wird das erste Opfer eines Films vieler Gemetzel und Toter.
Dass er ihn trotz Mut im Kampf nicht retten konnte, ist ein Trauma mehr für Hagen, den eigentlichen Helden dieses Films. Der "treue" Hagen, ein zum Waffenmeister und besten Ritter des Burgunder-Reichs gewordenes Waisenkind, wurde von Dankwart einst in die Familie aufgenommen und großgezogen.
Am Sarg des Königs schwört er:
Ich werde alles dafür tun, diese Familie zu beschützen.
Selbstzerstörung und deutsche Verachtung der Staatsraison
Grau, braun, matschig und farbentsättigt ist die Szenerie über weite Strecken dieses Films, der Düsternis statt Heroismus zelebriert.
Man merkt ihm mitunter das Dilemma an, einerseits nicht in die vielen möglichen Fallen zu tappen, mit denen die Nibelungen-Story seit bald 200 Jahren ideologisch belastet ist, andererseits doch ein deutsches Fantasy-Epos sein zu wollen und all die phantastischen Erzählstränge und Möglichkeiten zu entfalten, die im Stoff und seiner Rezeptionsgeschichte offen zutage liegen.
Die "Nibelungen" – historisch nüchtern: die mythologische Verdichtung der Wirren der späten Völkerwanderung und des zusammenbrechenden Römischen Reichs – sind lesbar als traditionelles Epos über Ritter-Ehre und Mannestugend und als kritische Abhandlung zu deren Selbstzerstörung in destruktiven Adelskämpfen.
Aber eben auch als Geschichte von Frauenpower und Kampf um Anerkennung des Weiblichen in einer Männerwelt und über die Folgen weiblicher Rivalität wie auch als Aufklärung darüber, dass weibliche Macht nicht notwendig besser oder anders agiert als männliche.
Der Stoff eignet sich als Darstellung von Varianten des Heldentums zwischen menschlichem Mut und Geschick und dem Wirken übernatürlicher Kräfte; schließlich als Betrachtung des Konflikts zwischen mittelalterlicher Rittertugend und moderner Staatsraison.
Der deutsche Nationalmythos schlechthin
Die Nibelungen sind auch damit der germanische Nationalmythos schlechthin – ein sehr deutsches Pendant zur Artussage, zu Lacelot, zur "Göttlichen Komödie", und zu "Don Quixote" – schon im 19. Jahrhundert instrumentalisiert in Theater und Oper fürs liberale Bürgertum (Friedrich Hebbel) und nationalrevolutionär gesättigte Kunstreligion (Richard Wagner).
Später dann für die Massen popularisiert in dem zeitlosen Zweiteiler von Fritz Lang (1924) und seinen zeitgeistigen Nachfolgern von Harald Reindl sowie einem halben Dutzend weiterer Adaptionen für Actionkino oder Fernsehen und neuerdings in den Wormers Nibelungenfestspielen mit jährlichen Neuinterpretationen des Stoffes.
In diesem Fall haben sich das mit guten Fernsehstoffen ("Der Pass", 1. und 2. Staffel) und originellen Kinofilmen ("Der Wixxer") erfahrene Regie-Duo Cyrill Boss und Philipp Stennert und die Macher der Constantin entschlossen, ganz auf Hagen zu setzen – entsprechend dem gleichnamigen Roman von Wolfgang Hohlbein von 1986, der die grobe Vorlage des Films bietet.
Hagen, der "Dark Knight" des deutschen Geistes
Klassisch ist "der grimme Hagen" der Bösewicht dieser Geschichte, der Verräter und heimtückische Mörder des tadellosen blonden Helden Siegfried, ein "Dark Knight" des deutschen Geistes, der die moderne, als listig und verschlagen verachtete Staatskunst repräsentiert.
Dies gegen einen zwar "tumben", aber ehrhaften Siegfried, auf dessen Scheitern die "verspätete Nation" der Deutschen immer gern ihre unpolitische Naivität, fehlende politische Flexibilität, ihren "reaktionären Modernismus" (Jeffrey Herf) – und ganz praktisch ihre Kriegsniederlagen und Untergänge projiziert hat.
Der Ideengeschichtler Herfried Münkler hat die einseitige Instrumentalisierung des Nibelungenmythos im Ersten Weltkrieg sowie in den Ostfrontkämpfen des Dritten Reich detailliert beschrieben.
Vielleicht müssen wir lernen, weniger ... gut zu sein!
Man kann es auch ganz anders sehen: Vielleicht müssen wir endlich lernen und von all unserer besonderen Tugendhaftigkeit und Achtsamkeit und (moralisch-politischen) Sensibilität zu verabschieden. Vielleicht müssen wir lernen, weniger ... gut zu sein!
Vielleicht sind der Pragmatismus und die melancholische Nachdenklichkeit Hagens, auch seine Bereitschaft, sich "die Hände schmutzig zu machen" und Gewalt als Mittel der Politik zu gebrauchen heute die viel zeitgemäßere Haltung, auch für eine deutsche "Linke" die zwischen BSW-Neopazifismus und der neuen Panzerliebe grüner Ukrainefreunde im Diffusen laviert und sich "Staatsraison" noch nicht mal zu sagen traut, wenn das Wort in einem Satz mit "Israel" fällt?
"Antisemitismus" schreibt Münkler wurde unter dem Einfluss konservativer Gruppierungen zum Code für "Antimoderne, die sich neben der Ablehnung der Avantgarde durch einen Mix aus Antiurbanität, Antikapitalismus und Antisemitismus auszeichnete".
Der Nibelungenmythos feierte genau das. Das Deutschland der Weimarer Republik wartete nach dem Dolchstoß von 1918 auf den "neuen Siegfried" (Münkler).
Siegfried, der traumatisierte Schlagetod
Hier nun wird diese Figur jedenfalls entsprechend umcodiert: Hagen ist ein treuer Waffenschmied, der sich um Reich und die Zukunft des schwachen neuen Königs Gunter sorgt und schlechte Träume hat.
Er nimmt Drogen gegen seine aus früher Kindheit stammenden Wundschmerzen und erst ein Alb namens "Alberich" kann ihn trösten, als er sagt: "Ich kenne deine Narben." Alberich ist bei Wagner der "jüdische kapitalistische" Zwerg, der nur von Gewinnsucht getrieben ist.
Währenddessen ist der Neuankömmling Siegfried von Xanten hier der Führer einer moralisch höchst zweifelhaften Söldnerschar, die allerdings im Kampf unbesiegbar und daher als Verstärkung für das wankende Burgunderheer willkommen.
Am Hof eingetroffen, benimmt er sich von Anfang an respektlos und schlecht. Der ehrlose und durch seine Unbesiegbarkeit – das Bad im Drachenblut ist im Film nur ein kurzer Flashback – gelangweilte Zyniker ist auch ein traumatisierter Schlagetod.
Spannende, überzeugende Umdeutung
So mündet die Handlung schnell in den Kardinalkonflikt zwischen Hagen und Siegfried, flankiert von den zwei "starken Frauen" Kriemhild und Brunhild. Während letztere heimlich Siegfried liebt, ist erstere hier die heimliche Liebe Hagens, was dieser allerdings ihr nicht und kaum sich selbst eingesteht.
Nach einigen Wendungen und Schlachten kommt es zu einem im Gegensatz zum Mythos ehrhaften Zweikampf der beiden Recken. Am Ende dieses Showdowns ist Siegfried tot, aber Hagen kein Mörder und Verräter. Die Schuld trägt hier eine andere Person – eine spannende, überzeugende Wendung und Uminterpretation der bekannten Geschichte.
Der Niederländer Gijs Naber ist ein überzeugender, solider, wenn auch etwas hüftsteif und behäbig agierender Hagen. Lilja van der Zwaag (Krimhild) und Rosalinde Mynster (Brunhild) sind gute und doch überraschende Besetzungen, nur Jannis Niewönner mag zwar für alles Mögliche taugen und so zu einer Allzweckwaffe des deutschen Films geworden sein – ein Siegfried ist er allerdings wirklich nicht. Und auch das Trauma nimmt man ihm nur mit mehr als viel gutem Willen ab.
Daneben ist unübersehbar, dass viele Schauspieler synchronisiert wurden, und auch das führt zu einer gewissen Distanz zwischen Betrachter und Leinwandgeschehen.
Kein deutsches "Game of Thrones"
So ist "Hagen – im Tal des Nibelungen" in vielem ansprechend inszeniert und eine legitime, interessante, daher sehenswerte Interpretation des Stoffes.
Filmästhetisch wie erzählerisch fehlen jedoch auch Mut und letzte Ambition (und vermutlich die finanziellen Möglichkeiten), die unumgänglich gewesen wären, um die im Nibelungen-Stoff fraglos liegende Chance für ein deutsches "Game of Thrones" oder "Der Herr der Ringe" auch auszureizen.
So schwankt der Film zwischen gutem (!) Edeltrash für Genre-Fans und "Terra X"-Anmutung und es dominiert der Eindruck von verschenktem Potenzial.
Den Nibelungenmythos als Vorboten der Moderne sichtbar zu machen, gelingt dem Film nicht.
Literatur:
Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied. Beck Wissen, München 2005
Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2010
Herfried Münkler/ Wolfgang Storch: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos. Rotbuch Verlag, Berlin 1988