Hanau mahnt – zum zweiten Jahrestag

Erinnerungskundgebung in Hanau am 22. August 2020. Bild: Leonhard Lenz/CC0 1.0

Über Rassismus, Medien und den gesellschaftlichen Zusammenhalt

Der mörderische Anschlag von Hanau hat gezeigt, wie aus Worten Taten werden. Neun junge Hanauer wurden aus dem Leben gerissen – an einem ganz normalen Abend, am Mittwoch, den 19. Februar 2020. Die Initiative 19. Februar sorgt für ihr Gedenken und fordert auch am zweiten Jahrestag weiterhin: "Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen."

Es ist also geboten, die immer noch offenen Fragen zu rekapitulieren, aber auch die Opferfamilien bei der Trauer um Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin nicht allein zu lassen. Und dazu müssen wir uns alle der schmerzhaften Realität des Rassismus stellen. Am 20. Februar 2020, Fettdonnerstag, begann der Karneval.

Wer immer noch nicht glauben will, dass Rassismus tötet und dieses Töten in einer feindseligen Stimmung wahrscheinlicher wird, wird sich der Erkenntnis auch weiterhin verweigern. Denn zum Rassismus gehört seit jeher die Rassismusleugnung. Die Leugnung von Rassismus ist notwendig, um das idealisierte Selbstbild einer aufgeklärten Gesellschaft mit der Realität vereinbaren zu können.

Gerne verortet man die unschönen Seiten unserer modernen Gesellschaften an den Rand, den rechten Rand, wo der Chauvinismus die eigene vermeintliche Überlegenheit über das Wohl aller stellt. Damit räumt nun eine sehenswerte Doku-Reihe auf arte von Raoul Peck auf – unter dem Titel "Rottet die Bestien aus!".

Die Taten kommen nicht vom Rand

Der Menschenhass von rechts ist nicht zu leugnen. Dennoch, auch wenn genügend rechtsextreme Straftaten mit menschenverachtenden Handlungen gezählt werden können, die Taten kommen nicht vom Rand. Sie kommen aus der Mitte der Gesellschaft, nicht umgekehrt, wie dies der Politologe Cas Mudde mit Forschung unterlegt – das Aufgreifen rechter Diskurse in der sogenannten Mitte stärke zudem noch den Rand. Die Diskurse der Mitte ermöglichen sie, besonders die Debatten über die Nützlichkeit des Menschen in einer ökonomischen Verwertungsideologie.

Stichwortgeber des aktuellen Hasses auf Frauen, Linke, People of Color, Juden und Muslime, Homosexuelle, Obdachlose sind tatsächlich vor allem Anzugträger mit Reichweite und ihre etablierten Medien – die Sarrazins, Broders und Tichys. Auf medialer Seite treibt mal der Klassenclown Bild den chauvinistischen Hass von Oben nach Unten auf die Spitze, mal transportiert das öffentlich-rechtliche ZDF das Narrativ von "Fremdenfeindlichkeit" bei rassistischen Übergriffen. Der Begriff und seine Perspektive verraten den Rassismus der Mitte, der die Angegriffenen kurzerhand zu Fremden erklärt – ganz im Sinne der Angreifer.

In den 1990er-Jahren, noch vor der Etablierung des Internets als Massenmedium, waren es die renommierten Zeitungen dieser Mitte – FAZ, Spiegel, Zeit u.v.m. – in denen ein antimuslimischer Rassismus gepflegt wurde. Vereinzelt zwar nur, aber konsistent, und unabhängig von der politischen Couleur: So schlugen auch dezidiert linke Publikationen, wie beispielsweise Konkret, oder feministische, wie Emma, in die gleiche chauvinistische Kerbe durch die Betonung der angeblich eigenen kulturellen Überlegenheit.

Stimmungsmacher

Die sogenannten Sozialen Medien haben den Diskurs nicht konstruktiver gemacht, sie haben ihn aber auch nicht erfunden. Stimmungsmacher greifen Elemente aus dem Mainstream auf, übertreiben, spitzen zu. Eine neurechte Partei am neurechten Rand sahnt all die im Internet-Inkubator gereiften Ressentiments ab. Die hinzukommenden Ängste einer übersättigten Gesellschaft vor dem sozialen Abstieg und weitergehende Veränderungen, Ängste um die Gesundheit, die Existenz, das Leben, lenkt man geschickt auf Minderheiten.

Ganz aktuell beobachtbar in Berlin, wo die neue Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey, mit der Brechstange versuchte, eine angeblich geringere Corona-Impfbereitschaft Migranten anzulasten. Tatsächlich sei die Impfbereitschaft sogar höher als der Durchschnitt, so eine Studie des Robert-Koch-Instituts, worüber der Spiegel berichtet, allerdings führten andere gesellschaftliche Barrieren zu einer darunter bleibenden Impfquote.

Man mag es bösartig oder unbedacht nennen, die Projektionsversuche – zumeist eigenen politischen Versagens – tun ihre abgrenzende Wirkung. So lassen sich verbreitete Unzulänglichkeitsgefühle in Mandate umwandeln. Zur Verharmlosung des Rechtsrucks in der Gesellschaft kommt die Dämonisierung von links hinzu – sonst ließe sich nicht jedes Mal beim Klarwerden von Faschisierungstendenzen so schön auf eine imaginierte "Gefahr von links" verweisen und das Abfackeln von Autos mit dem Töten von Menschen gleichsetzen.

Während rechtsausgerichtete Altideologen noch versuchen, mittels der kuriosen Hufeisentheorie von Eckhard Jesse (siehe Schiffer/Kleer in "Deutsche Kopflanger" (KultuRRevolution 77/78) so zu tun, als würde sich das Menschenbild von links und rechts nicht grundlegend unterscheiden, zeigen die Reaktionen auf den Terroranschlag in Hanau, wie die Mechanismen in die Communities der von Rassismus Betroffenen weiter wirken.

Unterschiede im Behandeltwerden

Die Verzweiflung dieser Betroffenen kommt auf vielerlei Wegen zum Ausdruck und ist eine Bankrotterklärung an unser Gemeinwesen. Einige Reaktionen zeigen zudem, dass die Saat der Spaltung, die Unterscheidung zwischen "uns" und "denen", aufgeht; so richtig es auch ist, wenn rassifizierte Menschen darauf hinweisen, dass dieses Erleben anderen eben nicht möglich ist. Es gibt faktisch also Unterschiede – Unterschiede im Behandeltwerden.

Was sagt es aus, wenn eine trauernde Mutter aus Hanau betont, dass ihr getöteter Sohn nicht arbeitslos gewesen sei? Sie kämpft verzweifelt darum, dass man den Wert ihres Sohnes und ihren großen Verlustschmerz anerkennen möge. Das bedeutet gleichzeitig, dass sie nicht davon ausgeht, dass es so ist. Und ich fürchte, sie hat recht.

Zwar steuert die neoliberale Gesellschaft insgesamt in die Fehlentwicklung, einen Menschen nur aufgrund seiner Leistungen und nicht seiner genuinen Existenz – entsprechend der Menschenrechte – zu schätzen, aber in diesem Kontext wiegt der Subtext besonders schwer: Bitte erkennt die Wertigkeit unserer Leben an! Das zeugt von einem tief sitzenden Rechtfertigungsdrang, den kein Mensch verdient.

Und es zeugt davon, dass die Ideologie der Unterscheidung zwischen "lebenswert" und "unwert" längst nicht ausgerottet wurde.

Grenzziehungen

Aber auch die Reaktionen einiger migrantischer Fürsprecher-Organisationen, die sich des Selbst-Empowerments verschrieben haben, ziehen die gezogenen Grenzen nach. Sie mahnen zurecht an, dass die Diversität noch lange nicht überall umgesetzt ist, und sie leisten gute Arbeit darin, die existierende Vielfalt sichtbarer zu machen. Sie fordern zu Recht mehr Vielfalt in Medien und Politik, damit die Perspektiven diverser werden.

Und es ist mehr als verständlich, dass sie angesichts einiger Versuche, den Rassismus hinter dem Anschlag in Hanau zu leugnen, darauf verweisen, dass man den Betroffenen zuhören lernen muss, weil man als Mitglied der Mehrheitsgesellschaft die Erfahrung rassistischer Diskriminierung nicht machen kann. Das Dilemma liegt allerdings darin, dass sie damit tatsächlich die Linien der Ausgrenzung der Anderen selbst übernehmen.

Aussagen wie "Wir sind es, die betroffen sind, nicht ihr!", "Wir sind in Gefahr, nicht ihr!" oder auch die durchaus berechtigte Frage an die Produktionsfirmen der Talkmaster "Warum sitzt da niemand von denjenigen, die von Rechtsextremisten bedroht sind?" machen ein neues trennendes Fass auf. Doch, es ist ein Anschlag auf die ganze Gesellschaft, Hanau bedroht unseren Zusammenhalt und alle, die sich dafür einsetzen.

Der Mord an Walter Lübcke sollte klargemacht haben, dass es die Kategorie der "Volksverräter" aus rechtsextremer Sicht genauso treffen kann wie People of Color. Und historisch ist bewiesen, dass die Rechten immer erst die Linken abgeholt haben. Man sollte sich bei aller Nachvollziehbarkeit des Werbens für Empathie für die "eigene Gruppe" gut überlegen, ob man die aufoktroyierte Einteilung in "Wir und Ihr" an dieser Stelle übernehmen und perpetuieren möchte.

Dann hätten nämlich die Falschen gewonnen, deren Einteilungs- und Ausgrenzungswunsch dem entspräche. Dann würde man die Fremdmarkierung insofern übernehmen, als dass man sie als Selbstmarkierung fortsetzt. Von der Selbstmarkierung von außen markierter Gruppen aber profitieren nur die Chauvinisten.