Hanau mahnt – zum zweiten Jahrestag

Seite 2: Hanaus offene Fragen verweisen auf andere unbeantwortete

Viele Medien kamen in Sachen Hanau-Berichterstattung ihrer Funktion als Vierte Gewalt nach, nachdem zunächst spekulative Ausfälle für die üblichen Reflexe gesorgt hatten. Das Magazin Focus schrieb von "Shisha-Morden", die Bild suchte Täter im Mafia-Milieu. Als der rechtsextreme Hintergrund des Killers bekannt wurde, gab es eine Korrektur und auch eine Entschuldigung zumindest vom Focus.

Insgesamt setzte eine kritische Selbstreflexion von Medienseite ein, die u.a. dazu führte, dass man Begriffe wie "Ausländerhass" oder "Fremdenfeindlichkeit" als ausgrenzend erkannte und vermied und Rassismus als Motiv offen ansprach.

Das mag ein schwacher Trost für die Überlebenden und Hinterbliebenen der neun getöteten jungen Menschen des rassistischen Mordens sein, aber vielleicht wenigstens ein Hoffnungsschimmer auf Aufklärung – während die staatlichen Behörden dem bis heute hinterher hinken. Aus den vielen differenzierten Berichten von taz bis Spiegel greife ich hier die nach wie vor in der ARD-Mediathek befindliche, besonders sehenswerte Dokumentation des Hessischen Rundfunks, "Hanau: Eine Nacht und ihre Folgen" auf.

Die Sendung lässt die Betroffenen-Familien und Überlebende zu Wort kommen und gibt den Ungereimtheiten Raum, die die Angehörigen der Ermordeten erkannten. Hier macht sich ein Format wirklich zum Anwalt des Volkes, denn die Kritik richtet sich an Polizei, Staatsanwaltschaft und andere Behörden.

Die Versäumnisse in der Nacht vom 19. Februar 2020, davor und danach, erinnern mich zum Teil an den Mord an Marwa el-Sherbini in Dresden am 1. Juli 2009 und die bis dato ebenfalls fehlende Aufklärung unbeantworteter Fragen. Die Unterlassungen deuten auf einen tiefsitzenden strukturellen Rassismus hin, der aus dem Unbewussten heraus an die Oberfläche gezerrt werden muss, damit geklärt werden kann, wie rassistische Muster Hilfe und Rettung verhindert haben und diese Denke weiterhin Menschenleben gefährdet.

Wie der Umgang mit dem sogenannten NSU und den langjährigen Verdächtigungen gegenüber den eigentlichen Opfern bezeugt – kondensiert in der schrecklichen Wortprägung "Döner-Morde" –, hat auch hier bereits der in den Strafverfolgungsbehörden schlummernde Rassismus weitere Opfer ermöglicht und verhindert gleichzeitig eine ehrliche Aufarbeitung.

Was die Medienberichterstattung, die den Überlebenden des Mordens in Hanau und den Familien der Mordopfer eine Stimme gibt, sowie die Informationskampagnen der Initiativen aus Hanau selbst zutage fördern, sollte uns alle beunruhigen.

Zuerst die Frage, die sich nicht nur die Eltern von Vili Viorel Păun stellen und die auf ein allgemeines Versagen polizeilicher Leistungen hinweist – die Nichterreichbarkeit des Notrufs während langer Minuten in der Todesnacht: Wäre der 22-jährige Vili Viorel noch am Leben, wenn der Polizeinotruf auf seine vielfachen Anrufe reagiert hätte?

Und eine andere Frage schließt sich an: Wie kann es sein, dass der mit drei Kugeln durch die Windschutzscheibe getötete Mann 18 Stunden im dann abgedeckten Auto sitzen gelassen wurde? Wer ist dafür verantwortlich? Bis zum Jahrestag des traurigen Todes ihres einzigen Kindes hatte zudem niemand von der Polizei mit der Familie gesprochen.

Eine weitere Frage ist allgemeiner Art, nämlich: Warum konnte der Attentäter legal Waffen besitzen, obwohl seine psychischen Probleme bekannt waren? Diese Frage weist entweder auf Lücken im Waffengesetz hin oder auf Versäumnisse ganz anderer Art. Und warum reagierten Bundesanwaltschaft und Staatsanwaltschaft nicht auf das an Sie gerichtete Schreiben des späteren Mörders vom November 2019, aus dem eindeutig sein Verschwörungsdenken und "Ausländerhass" hervorging?

Weitere Fragen stehen im Raum, die die Zusatzfrage aufwerfen, ob bei anderen Opfern auch so gehandelt worden wäre: Starb Ferhat Unvar an unterlassener Hilfeleistung? Wie das Video einer Überwachungskamera zeigt, wurde der 23-Jährige beim Auffinden nicht erstversorgt, sondern im wahrsten Sinne des Wortes übergangen – ein Polizist überstieg den am Boden Liegenden mehrmals, um den Tatort abzudunkeln.

Lebenszeichen wurden nicht geprüft, Sanitäter nicht gerufen, keine Reanimationsversuche unternommen. Zwischen der Entdeckung von Ferhat hinter dem Tresen eines Kiosks und seinem im Totenschein verbrieften Sterbezeitpunkt vergingen fünf Stunden. Wer half hier nicht?

Wurde das Leben von Said Etris Hashemi riskiert, als dieser erstversorgt wurde, aber auf Anweisung der Polizei nicht ins Krankenhaus gefahren werden durfte? Oder als bei einem erneuten Angriff des Attentäters nicht die Bahre mit dem Verletzten geschützt, sondern als Schutzschild benutzt wurde?

Hätten mehr fliehen und überleben können, wenn der Notausgang in der Arena-Bar nicht verschlossen gewesen wäre? Indizien und Augenzeugen weisen darauf hin, dass diese Tür mit Wissen der örtlichen Polizei verschlossen bleiben musste, um bei Razzien Zugriff auf die Gäste der Bar zu haben.

Wieso – und diese Frage stellt sich mit Blick auf die Zukunft – wurden die Familien nicht gewarnt, dass der Vater des Attentäters, der wohl die gleiche Gesinnung teilt, sich weiter volksverhetzend äußerte? Warum erhielt er Polizeischutz und nicht die von ihm Bedrohten?

Parallelen zur fehlenden Aufklärung im Mordfall Marwa el-Sherbini

Bei den in den Dokumentationen und Berichten geschilderten Abläufen und dem Leid und Fragen der Hinterbliebenen erlebe ich als Medienbeobachterin einige Déjà-Vues. Als die junge Apothekerin Dr. Marwa el-Sherbini nach ihrer Zeugenaussage im Dresdener Amtsgericht vom Angeklagten mit 16 bis 18 Messerstichen niedergestochen wurde, half ihr nur ihr Ehemann und wurde dabei selbst schwer verletzt. Ein hinzugerufener Polizist schoss ihn nieder und nicht den Angreifer.

Da sich alle anderen Prozessteilnehmer im Nachbarsaal eingesperrt hatten, konnte niemand dem Polizisten zurufen, wer der Angreifer war. Auch das Kind des Paares hatten sie im Gerichtssaal zurückgelassen. Bis heute ist ungeklärt, ob die im dritten Monat schwangere junge Mutter hätte gerettet werden können, wenn nicht ihr Ehemann durch den Schuss in die Vene des Beines ins Koma gefallen wäre und erstversorgt wurde. Sie verblutete vor Ort. Der Junge wurde in ein Kinderheim gegeben. Offensichtlich kam niemand auf die Idee, dass die Familie in Dresden Bekannte gehabt haben könnte.

Bis heute wurde nicht aufgearbeitet, warum das Drohschreiben des Angeklagten und schließlich Verurteilen zuvor an das Gericht nicht zu Schutzmaßnahmen für Marwa und ihre Familie geführt hatte. Denn der Angreifer hatte geschrieben, dass er Muslime für gefährlich halte, und machte explizit, dass er etwas gegen diese "Gefahr" tun müsse. In der Tat stellt sich die Frage, ob es umgekehrt nicht Personenschutz gegeben hätte, wenn ein Muslim der Absender eines solchen Schreibens gewesen wäre.

Es scheint, dass manche Menschen manche Menschen nicht als Opfer denken können, sondern sie nur als potentielle Täter und Gefährder wahrnehmen. Darauf deutet auch die Gefährderansprache an die Hinterbliebenden der Ermordeten von Hanau hin, denen die Polizei offensichtlich Rachegelüste unterstellte bzw. unterstellt – denn für die Familien gab es keinen Schutz vor dem Vater des Attentäters, der nicht nur der gleichen Gesinnung, sondern auch der Mittäterschaft verdächtigt wurde. Damit letzteres untersucht wird, bedurfte es einer Anzeige durch die Opferangehörigen. Von alleine wurden weder Polizei noch Staatsanwaltschaft tätig.

Wie die Ermittler in Hanau die zu Schützenden betrachten, darauf deuten unter anderem die Beschreibungen der Mordopfer hin. Hamza Kurtović, ein blonder junger Mann, wird als "orientalisch südländisch" beschrieben, ganz offiziell und amtlich. Diese rassifizierende Bezeichnung weist auf die Ermittler zurück. Nimmt man den Ausdruck dessen ernst, dann könnte das die mutmaßlich unterlassene Hilfeleistung bei Ferhat Unvar erklären. Er wurde – und es tut mir leid, das hier schreiben zu müssen – einfach nicht als "einer von uns" angesehen.

In die gleiche Richtung weist das Verhalten von Volker Bouffier, Ministerpräsident Hessens, der immer noch die NSU-Untersuchungsakten zurückhält und damit Aufklärung rassistischer Morde und Gesinnung verhindert, und der Joghurt-löffelnd den Hinterbliebenen des Massakers in Hanau kondoliert. So verhält sich niemand, der sich wirklich betroffen fühlt vom Verlust hoffnungsvoller Menschenleben.

Dieser Ausdruck von "keine von uns" ist für mich schon schwer zu ertragen. Wie unerträglich muss das für die Familienangehörigen sein? Und für die Überlebenden? Und umgekehrt, signalisiert das Verhalten der Behörden dem bizarren Vater des Mörders von Hanau gegenüber, dass er als "einer von uns" wahrgenommen wird – jemand für den Rechtsstaatlichkeit eben gilt.

In Dresden wurden nach dem Mord an Marwa el-Sherbini Einlasskontrollen zum Gericht eingeführt und zum Schutz des Mörders vor möglichen Rachakten eine Glaswand in den Gerichtssaal eingezogen. Die ersten, die diesen Sicherheitsmaßnahmen unterzogen wurden, war die Familie der Ermordeten, ihr Witwer und ihr Bruder, die zum Prozess gegen den islamophoben Täter eingelassen werden wollten.