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Hirnforschers Märchen: Von Terroranschlägen zur Willensfreiheit

Wäre "Nine Eleven" durch Hirnscanner zu verhindern gewesen? – Buchkritik: John-Dylan Haynes' und Matthias Eckoldts "Fenster ins Gehirn" (Teil 3)

Im letzten Teil ging es um das Gedankenlesen [1]. Kommen wir jetzt zur Willensfreiheit. Es dürfte kaum jemandem entgangen sein, dass sich hierzu in den letzten Jahrzehnten so mancher Philosoph, Psychologe und Hirnforscher geäußert hat. Auch anno 2021 räumen Haynes und Eckoldt ihm große Bedeutung bei: Ihr Kapitel "Der freie Wille" ist mit 30 (von insgesamt 300) Seiten das mit Abstand längste ihres neuen Buchs.

Bücher vermitteln Wissen. Anders als in Fachzeitschriften oder populärwissenschaftlichen Medien können Autorinnen und Autoren in Büchern sehr frei schreiben: Es gibt (in der Regel) kaum Einschränkungen zu Inhalt und Umfang. In der "Buchkritik" diskutiere ich ein Kapitel eines Buches, das mich besonders interessiert oder mir zur Rezension angetragen wurde. Wie gewohnt geht es um den Themenbereich Philosophie, Psychologie und Hirnforschung.

Heute steht "Fenster ins Gehirn: Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann" (Ullstein Verlag, 2021) von John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt zum dritten Mal im Rampenlicht. Haynes [2] ist Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité Berlin. Eckoldt ist erfahrener Wissenschaftsjournalist.

Am Anfang rufen sie, wie mehrmals im Buch, ihren Lesern schwere Verbrechen und Terroranschläge in Erinnerung. Und nicht nur irgendein Anschlag, sondern schlichtweg das Terrorereignis des 21. Jahrhunderts, "Nine Eleven", die Flugzeugentführungen vom 11. September 2001. Damit suggeriert man, die Hirnforschung sei hierfür von Bedeutung.

Wie bauen die Autoren diese Brücke? Hätte man mit am Flughafen installierten Hirnscannern die Pläne der Flugzeugentführer erkennen können? Und hätte man nicht nur die gedanklichen Absichten erkennen, sondern auch das konkrete Verhalten voraussagen können? Hätte also die Hirnforschung dieses Jahrhundertverbrechen verhindern können? Und dann sind wir plötzlich beim Physiologen Benjamin Libet (1916-2007).

In memoriam Benjamin Libet

Libet interessierte sich schon für Bewusstseinsvorgänge, als das noch für viele Forscher ein Tabu war. Ich erinnerte im zweiten Teil [3] daran, dass die einflussreiche Schule des Behaviorismus das ganze Thema für unwissenschaftlich hielt. Das hinderte Libet aber nicht daran, seine bahnbrechenden Versuche mit der Elektroenzephalographie (EEG) durchzuführen.

Ihn interessierte insbesondere die zeitliche Dynamik der Bewusstseinsprozesse. Das äußert sich auch im Titel seines Buchs, das 2004 erschien, als der Forscher schon stolze 88 Jahre alt war: "Mind Time. The Temporal Factor in Consciousness [4]". Dieser Titel wurde ein Jahr später (vom Suhrkamp Verlag) irreführend ins Deutsche übersetzt: "Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert." Vom Faktor Zeit im Bewusstsein zur Gehirnproduktion von Bewusstsein?

Wahrscheinlich hat jeder schon einmal davon gehört, dass laut Libets einschlägigem Experiment ein unbewusster Gehirnprozess einer bewussten Entscheidung (für eine Handbewegung) um ca. 300 Millisekunden vorangegangen ist (Libet et al., 1982 [5]). Daraus strickten andere(!) Philosophen und Forscher das Märchen, unser Wille könne nicht frei sein, denn die Entscheidung stehe bereits fest, bevor sie überhaupt ins Bewusstsein komme. Et cetera, et cetera. Nun müsse das Strafrecht grundlegend revidiert werden.

Das Bereitschaftspotenzial

Warum spreche ich von einem Märchen? Rund 15 Jahre vor Libet hatten deutsche Physiologen dem Gehirnsignal einen zutreffenden Namen gegeben: Bereitschaftspotenzial (Kornhuber & Deecke, 1965 [6]). Es signalisiert die Bereitschaft zur Bewegung (im sogenannten prämotorischen Kortex der Großhirnrinde). Das war Libet und seinen Mitstreitern auch bewusst, als sie schlussfolgerten:

Die Evidenzen zeigen daher […], dass alle Bereitschaftspotenziale, ob sie mit vorausgeplanten oder spontanen Willensakten zusammenhängen, von neuronalen Prozessen produziert werden, die spezifisch mit der Vorbereitung zur Ausführung einer motorischen Handlung involviert sind.

Libet et al., 1982 [7], S. 332; Übers. d. A.)

Vom Willen, ob frei oder unfrei, ist in der ganzen Studie nicht die Rede. Doch versetzen wir uns kurz noch in die Lage der Versuchspersonen, um zu verstehen, worum es überhaupt ging: Diese saßen auf einem Stuhl und starrten auf ein speziell präpariertes Oszilloskop. Dieses ließ mit 2,56 Sekunden pro Umdrehung einen Punkt kreisen. Um diesen "Bildschirm" herum - Jahre später hätte man schlicht einen PC verwendet - brachten die Forscher in Fünferschritten eine Skala von 5 bis 60 an. Es handelte sich also um eine Art Uhr mit schnell laufendem "Sekundenzeiger".

In der entscheidenden Bedingung sollten die Personen den Punkt erst einmal vollständig kreisen lassen (also mindestens 2,56 Sekunden warten) und dann, in einem selbst bestimmten Moment, wenn sie den "Drang" zu einer Bewegung spürten, die rechte Hand bewegen. Ein Elektromyogramm (EMG) registrierte die damit verbundene Muskelaktivität und ein Durchlauf endete. Dann meldete die Versuchsperson die Zahl, bei der der Punkt im Moment der bewussten Entscheidung war.

Somit haben wir eine Gehirnvariable (vom EEG, das Bereitschaftspotenzial), eine Muskelvariable (vom EMG) und den subjektiven Bericht über die Entscheidung. Alle haben eine zeitliche Komponente. Und um diese ging es, wie gesagt, Benjamin Libet.

Libet und das Veto

Nun stimmt es zwar, dass sich erst das Bereitschaftspotenzial aufbaute, dann die Versuchsperson ihre Entscheidung meldete und zum Schluss die Bewegung stattfand. Libet behaupte aber nicht, die (frühere) Gehirnaktivierung determiniere die (spätere) Entscheidung. Dazu hatte er gar keinen Grund. Im Gegenteil. Er und seine Kollegen berichteten schon damals:

Es war nicht ungewöhnlich für die Versuchspersonen, einen Bewegungsdrang zu spüren, der nicht zum Vollzug einer tatsächlichen Bewegung führte, als ob dieser Drang durch ein "Veto" gestoppt wurde, und dann auf einen neuen Drang zu warten, auf den die Bewegung folgte. Man mag annehmen, dass ein jeder solcher verdeckter oder unerfüllter Bewegungsdrang auch mit einem entsprechenden Bereitschaftspotenzial verbunden sein sollte, ohne das abschließende motorische Signal. Doch die Messung eines solchen Bereitschaftspotenzials würde einen neuen Versuchsaufbau erfordern.

Libet et al., 1982 [8], S. 333; Übers. d. A.

Natürlich konnten sie das nicht messen, denn nur das Muskelsignal (durch die Handbewegung) beendete ja den Durchlauf. Wie gute Forscher das so machen, entwickelten sie ein Folgeexperiment, um die neue Hypothese zu untersuchen. Und schon im Jahr darauf, also 1983, veröffentlichten sie die Ergebnisse für die Vetobedingung:

Von besonderem Interesse ist unser Ergebnis, dass die fortschreitende Vorbereitung oder Absicht für eine Bewegung sogar dann von einem substanziellen Bereitschaftspotenzial begleitet werden kann, wenn die Versuchsperson weiß, dass sie gegen die Absicht zur Bewegung ein Veto einlegen wird und den Muskel tatsächlich nicht betätigt.

Libet et al., 1983a [9], S. 371; Übers. d. A.

Logischerweise musste hier der Versuchsaufbau etwas geändert werden, denn in der Vetobedingung gab es ja prinzipiell kein EMG-Signal, um einen Durchlauf zu stoppen. Daher wurde der Endpunkt nun vom Versuchsleiter vorgegeben. Und die Versuchsperson sollte sich kurz vorher für (M-Bedingung) oder gegen die Bewegung (M-Veto-Bedingung) entscheiden. So oder so war und ist das Ergebnis deutlich: Das Bereitschaftspotenzial kann gar nicht die (vollständige) Ursache der Bewegung (M für "motorisch") sein und auch nicht die Entscheidung festlegen.

Vierzigjähriges Missverständnis

Halten wir einen Moment inne: Seit fast vierzig (!) Jahren diskutieren Philosophen, Psychologen und Hirnforscher rund um den Globus, ob die Determination des (bewussten) Willens durch (unbewusste) Gehirnaktivierung laut dem Libet-Experiment der Vorstellung von Willensfreiheit widerspricht. Dabei war diese Annahme bereits 1982 unplausibel und sprachen die Evidenzen schon 1983 dagegen.

Diesen Befund bestätigten übrigens 2010 neuseeländische Neuropsychologen mit moderneren Methoden (Trevena & Miller, 2010 [10]). Aber ja, wer sind schon neuseeländische Neuropsychologen!

Nach rund vierzig - oder wenn wir Kornhuber und Deecke hinzuzählen: fast sechzig - Jahren ignorieren Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftler, darunter genug Koryphäen auf ihrem Gebiet, dass das Bereitschaftspotenzial eben nur dies signalisiert: die Bereitschaft zu einer Bewegung.

Dennoch wurden seit den 1980ern zahllose Konferenzen abgehalten, Forschungsprojekte bewilligt, Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten, vereinzelt sogar Habilitationsschriften geschrieben, alles unter der Prämisse, das (unbewusste) Signal lege den (bewussten) Willen fest. Man muss hier fast von "alternativen Fakten" sprechen.

Zahlreiche Autorinnen und Autoren entwickelten Argumente dafür, warum das Experiment keine Gefahr für die Willensfreiheit sei: beispielsweise handle es sich nur um sinnlose Handbewegungen, sei der Bericht der Versuchspersonen nicht 100 Prozent zuverlässig, seien die EEG-Messungen begrenzt oder widerspreche Determinismus gar nicht der Willensfreiheit ("Kompatibilismus"). Das mag alles stimmen. Doch Fakt war und ist: Das Bereitschaftspotenzial allein determinierte gar nichts (Schleim, 2011 [11]; Schleim 2012 [12]).

Libet-Experiment anno 2021

Zugegeben, man hätte natürlich viel weniger zu diskutieren gehabt, hätte man sich nicht einen Teil der Befunde zurechtgebogen und den Rest ignoriert. Denkt jemand, ich übertreibe? Gut, dann schauen wir uns doch einmal an, was John-Dylan Haynes und Matthias Eckolt, beide führende Persönlichkeiten in ihrem Fach, anno 2021 im wichtigen Kapitel über den freien Willen schreiben:

Im Jahr 1983 erschien eine bahnbrechende Studie von Benjamin Libet, die für viele die Willensfreiheit fundamental infrage stellte" (S. 164). Sie erschien erstmals 1982. Aber was ist schon ein Jahr? Doch auch in der ausführlicheren Publikation von 1983 werden die wesentlichen Fakten genannt: Das Bereitschaftspotenzial gibt nur die Vorbereitung der Bewegung an; ein Veto könnte die Bewegung verhindern; und bei Willenshandlungen, die nicht "spontan" getroffen werden, könnte die Sache sowieso ganz anders aussehen (Libet et al., 1983b [13]). Haynes und Eckoldt schreiben weiter:

"Aber wie kann ein Signal für die Ausführung einer Handlung im Gehirn entstehen, wenn man sich noch gar nicht bewusst entschieden hat, die Handlung auszuführen?" (S. 166-167). Hmm, denken wir kurz nach: Wie kann das sein? Vielleicht, weil die Versuchspersonen die Anweisung haben, spontan die Hand zu bewegen? Es ist doch keine Magie, dass das Gehirn so eine Bewegung dann vorbereitet. Die Autoren aber bleiben überrascht:

"Das hieße doch, die Hirnaktivität wäre bereits gestartet, bevor der Proband den Handlungsimpuls verspürte. Eine reichlich paradoxe Angelegenheit, denn wenn das Gehirn vor der willentlichen Entscheidung aktiv wird, müsste es ja bereits gewusst haben, dass sich der Proband gleich entscheiden wird." (Haynes & Eckoldt, 2021, S. 166-167)

Psychologische Plausibilität

Hier sehen wir sehr deutlich, wie die Autoren Gehirn und Person gegeneinander ausspielen und dabei Vorbereitung und Entscheidung vermischen. Das ist aber schon psychologisch unplausibel. Was passiert denn, wenn man Versuchspersonen sagt, sie sollen sich auf einen Stuhl setzen, auf einen Bildschirm starren und bitte nichts tun, bis sie (spontan, nicht geplant!) einen Drang spüren, die Hand zu bewegen? Irgendwann beginnt eben die Vorbereitung der Bewegung, sonst würde das Experiment nie aufhören und die Teilnehmer wahrscheinlich vor Langeweile sterben.

Das entsprechende Modell zu Haynes' und Eckoldts Beschreibung wäre, dass wir immer bewusst entscheiden müssten, was unser nächster spontaner(!) Drang wird. Dann wäre er aber gar nicht mehr ungeplant und spontan. Und es wäre eine völlige Überforderung unseres Bewusstseins. Die Autoren verwickeln sich hier in Widersprüche.

In Wirklichkeit spüren wir mal einen Drang, auf Toilette zu gehen, etwas zu trinken, einen Spaziergang zu machen, die Nachrichten oder Social Media zu checken, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wenn dem nichts entgegensteht, machen wir es meistens. Manchmal überwältigt uns ein Drang, wird er übermächtig und verlieren wir die Kontrolle. Das ist zum Glück - außer bei schweren psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen - aber die seltene Ausnahme. Noch einmal die Autoren:

Wie passt das zusammen mit dem subjektiven Eindruck des Versuchsteilnehmers, dass er sich erst später bewusst entschieden hatte? Wenn der Wille tatsächlich dieser frühen, unbewussten Hirnaktivität hinterherhinkt, kann die bewusste Entscheidung nicht der Startpunkt der Kausalkette sein, die letztlich zur Handlung führt.

Haynes & Eckoldt, 2021, S. 167

Die Autoren verbreiten hier, wie so viele, den Mythos, das Libet-Experiment habe irgendetwas mit Willensfreiheit zu tun. Und ebenfalls fragwürdig: Die Befunde zum Veto erwähnen sie nicht einmal. Den Lesern wird zudem vorenthalten, dass Libet selbst die Willensfreiheit gar nicht anzweifelte.

Im Gegenteil schreiben die beiden: "Allerdings wurden auch Kritikpunkte an Libet laut. War es nicht ein wenig vorschnell, mit einem derart einfachen Experiment, das die zeitlichen Abläufe bei einer Handbewegung untersucht, gleich die ganze menschliche Willensfreiheit zu verabschieden?" (Haynes & Eckoldt, 2021, S. 168). Das hat Benjamin Libet ausdrücklich nicht gemacht!

Ich will hier nicht über Vorsatz spekulieren, nur die eine Hälfte der Geschichte zu erzählen, die sich gut "verkaufen" lässt; und dann auch noch so verzerrt. Fahrlässig ist dieses Vorgehen aber schon; nach vierzig Jahren und wenn man selbst auf diesem Gebiet forscht, wahrscheinlich eher grob fahrlässig.

Libets Erklärung

Libet würde das wohl bedauern, wäre er nicht schon gestorben. 2002 schrieb nämlich der Harvard-Psychologe Daniel Wegner (1948-2013) ein Buch über den angeblich illusionären Willen [14]. Er reihte sich als namhafter Wissenschaftler bei den Willensfreiheitszweiflern ein, allerdings auch aufgrund anderer Studien, deren Diskussion hier zu weit führen würde.

Jedenfalls fand Libet Wegners Beschreibung seines Experiments einseitig: "Nirgendwo in seinem Buch diskutiert er das Veto-Phänomen und dessen mögliche kausale Rolle für den bewussten Willen" (Libet, 2004 [15], S. 144; Übers. d. A.). Wissenschaftler sollten verschiedene Erklärungen berücksichtigen, oder nicht? Das machte Wagner nicht; ebenso wenig Haynes und Eckold. Vielleicht, weil die Geschichte dann nicht mehr so schön ist?

Doch Moment mal, was meint Libet hier mit der "kausalen Rolle"? Wir wissen inzwischen, dass das Bereitschaftspotenzial allein weder die bewusste Entscheidung noch die Bewegung festlegt. Der bewusste Wille könnte aber doch dem gespürten Drang über die nötige Schwelle zur Ausführung verhelfen! Wenn dem so ist, meint die Mehrheit der Forschergemeinschaft, die Willensfreiheit mit einem Experiment zu widerlegen, das sie tatsächlich bestätigt.

Haynes' neuere Studien

Mit Blick auf die Länge des Artikels will ich allmählich zum Ende kommen. In Haynes' und Eckoldts Kapitel über den freien Willen werden aber noch zwei Versuche aus Haynes' eigener Forschungsgruppe besprochen, die hier erwähnt werden müssen.

Beim ersten Experiment führten die Forscher eine neuere Variante von Libets Versuch im Kernspintomographen durch; das ist übrigens laut Google Scholar [16] Haynes' meistzitierte Arbeit (Soon et al., 2008 [17]).

Im Buch schreiben die Autoren von der Innovation, den Versuchspersonen zwei Optionen anzubieten: einen Knopf mit links oder rechts drücken. Das sei eine "entscheidende Verbesserung" (S. 169) gegenüber Libet. Zwei Optionen gab es aber auch schon in den 1980ern: 1982, weil die Versuchspersonen manchmal dem Drang nicht nachgaben, ergo die Hand nicht bewegten; 1983 die M- und M-Veto-Bedingungen, wobei diese aber aufgrund des Versuchsaufbaus von außen vorgegeben werden mussten.

Der Sinn der neuen Untersuchung: "Die Frage war, ob der Computer die Entscheidung aus den Hirnaktivitätsmustern vorhersagen konnte, noch bevor die Person selber glaubte, sich entschieden zu haben" (S. 169-171). Der Titel der neuen Studie verrät die Antwort: "Unbewusste Determinanten freier Entscheidungen im menschlichen Gehirn."

Die alte Geschichte, dass (unbewusste) Gehirnaktivierung den (bewussten) Willen bestimmt, wurde damit wieder aufgewärmt. Diesmal stehe die Entscheidung nicht nur 300 Millisekunden vorher fest, wie bei Libet (was allerdings falsch ist, wie wir gesehen haben), sondern mindestens 7 Sekunden!

In aller Kürze sei hier gesagt, dass die Hirnforscher gar nicht wissen, ob ihre Signale wirklich mit unbewussten Prozessen zusammenhängen. Sie merken offenbar keinen Widerspruch, wo sie selbst von einem "Netzwerk höherstufiger Kontrolle" sprechen, das vor allem Gebiete im Frontalhirn und Precuneus umfasst.

Neurologisch gesehen passt das vielmehr zur bewussten Steuerung der Aufgabe. Und das war ja die Aufgabe für die Teilnehmer: Irgendwann "spontan" einen der beiden Knöpfe zu drücken, wenn sie einen "Drang" dazu spürten. Zusätzlich mussten sie, wie bei Libet, auf eine Zeitmarke (diesmal eine Reihe von Konsonanten statt des Zeigers) achten. Die brauchten die Forscher für die Auswertung der Daten.

Es ist schon etwas unfair, die Versuchsperson dazu zu zwingen, den Moment der bewussten Entscheidung auf einen festen Zeitpunkt zu fixieren - und alles davor schlichtweg als "unbewusst" zu definieren. Praktisch ist es allemal, sicher für die griffige Schlagzeile der unbewussten Determinierung des Menschen. Diese lässt sich wieder mit angeblichen Folgen für unsere Rechtsordnung verknüpfen, wofür die Nature-Redaktion [18] begleitend zur Studie sorgte.

Das Vorgehen ist aber auch in sich unschlüssig: einerseits unsere innere Wahrnehmung (Introspektion) grundlegend in Zweifel zu ziehen, andererseits die Auswertung entscheidend von der inneren Wahrnehmung der Versuchspersonen abhängig zu machen. Ja was denn nun? Funktioniert unser Bewusstsein zuverlässig oder nicht? Hier rächt sich auch, dass man Introspektion in Psychologie und Hirnforschung im 20. Jahrhundert so stiefmütterlich behandelte, wie ich im zweiten Teil schrieb.

Beschränkte Experimente

Haynes und Eckoldt kritisieren die Versuchsaufbauten anderer Forscher. Einschränkungen der eigenen Arbeiten erwähnen sie aber nicht. So wurde den Teilnehmern beispielsweise wieder das Vorausplanen der Entscheidungen verboten. Die Knopfdrücke sollten so spontan wie möglich erfolgen und zudem einer Zufallsverteilung entsprechen. Hierfür wurden in einem Vorexperiment nur 14 von 36 (knapp 40 Prozent) Personen ausgewählt. Linkshänder waren übrigens von vorne herein ausgeschlossen; die sind schlecht fürs Signal.

Von den 14 verbliebenen Kandidatinnen und Kandidaten mussten nach dem Versuch im Kernspintomographen dann noch einmal zwei entfernt werden: Die eine reagierte dann doch nicht zufällig und die andere nicht spontan genug. Wenn mit nur 12 von 36, ohnehin nur jungen (21 bis 30 Jahre), rechtshändigen Menschen, gerade einmal ein Drittel(!) den Vorstellungen der Hirnforscher entspricht, dann muss man schon an der Aussagekraft des Versuchs zweifeln. Dazu kommt, dass die Vorhersagewahrscheinlichkeit für den Knopfdruck nur leicht über dem Zufallsniveau lag.

Hier sehen wir, wie sich Forscher im Laborversuch (liege still im Hirnscanner!) mit Instruktionen (sei spontan!) und Verhaltensanalysen (schnell und zufällig) ihr Subjekt sorgfältig auswählen, ja konstruieren. Das müsste einen Wissenschaftler eigentlich bescheiden stimmen.

Unfreie Freiheit

Wenn die Aussagen in den Medien aufgeblasen werden, werden solche Einschränkungen aber kaum erwähnt. Das vermittelt der Gesellschaft ein systematisch falsches Bild von den Möglichkeiten der Hirnforschung. Hierzu findet sich schon in Libets Buch ein amüsantes Zitat:

"In unseren Experimenten entfernten wir alle Einschränkungen der Handlungsfreiheit; die Subjekte führten eine einfache Streckung oder Krümmung des Handgelenks aus, wann immer sie den Drang oder Wunsch dazu verspürten. Diese freiwilligen Handlungen sollten unberechenbar, frei von allen äußeren Beschränkungen ausgeführt werden." (Libet, 2004 [19], S. 141; Übers. d. A.)

Amüsant ist das, wenn man bedenkt, was die Voraussetzungen dieser "Freiheit" des Hirnforschers waren: Möglichst still auf einem Stuhl sitzen und auf den Bildschirm starren; nicht einmal mit den Augen blinzeln (das stört das EEG-Signal); auch nicht vorausplanen und möglichst spontan sein. Diese "Freiheit" besteht also nur unter der Voraussetzung extremer Unfreiheit und ist daher ein Widerspruch in sich.

Libet gerät auch ins Schwimmen, wo er das psychische Phänomen beschreibt, das er untersucht. Mal ist es eine "bewusste Absicht" (S. 125), "Absicht oder Wunsch, sich zu bewegen" (S. 126), "bewusst wollen oder wünschen [engl. wanting or wishing or willing]" (S. 126) oder auch ein "Drang oder Wunsch, sich zu bewegen" (S. 134). 25 Jahre später ist es bei Haynes mit seinem "Drang", einen Knopf zu drücken, meiner Meinung nach nicht viel klarer geworden.

Wir erinnern uns an den zweiten Teil: Die Behavioristen verwendeten solche Unklarheiten des Forschungsgegenstands für ihren Generalangriff auf die Psychologie, insbesondere Introspektion und Phänomenologie. Und den Gründervätern der experimentellen Psychologie wie Wilhelm Wundt wäre das wahrscheinlich zu vage gewesen, um wissenschaftliche Mindeststandards zu erfüllen. Hier reden wir von Maßstäben des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Abschluss: Gehirn-Duell

In seinem neuesten Versuch zum Themenbereich ließen Haynes und seine Mitarbeiter Versuchspersonen zu einem "Gehirn-Duell" antreten. "Die Grundfrage war: Können Menschen ihre Handlung noch abbrechen, nachdem das Bereitschaftspotenzial im Gehirn einmal aktiv geworden ist?" (Haynes & Eckoldt, 2021, S. 182). Die Antwort gab 1982 und 1983 bereits Benjamin Libet - und womöglich 1965 schon Kornhuber und Deecke: Ja, Menschen können das!

Dabei war der neue Versuchsaufbau durchaus interessant: Ein Computer registrierte das EEG der Teilnehmer. Ein Algorithmus sollte die Bewegung (nun mit dem Fuß) der Menschen vorhersagen. Gelang es den Versuchspersonen, einen Schalter zu betätigen, bevor eine Lampe auf rot umsprang, dann ging die Runde an sie. Waren sie langsamer, bekam der Computer den Punkt. Im Ergebnis: Unentschieden zwischen Mensch und Maschine (Schultze-Kraft et al., 2016 [20]).

Die Forscher Versuchten, den Zeitraum, in dem die Teilnehmer nach Beginn des Bereitschaftspotenzials die Bewegung stoppen konnten, näher einzugrenzen: "Ab ca. 200 Millisekunden vor der Handlung ist der Point of no Return erreicht. Wurde der erste Hirnprozess bis zu diesem Zeitpunkt nicht eingeholt, gibt es keine Chance mehr zum Abbruch der von ihm initiierten Handlung" (S. 184-185). Sprang also in dieser Zeitspanne die Lampe auf Rot, gewann der Computer.

Um solche zeitlichen Dynamiken ging es auch Libet. Zu genau dieser Frage, bis wann das "Veto" eingelegt werden kann, schrieb er noch 2004 über seine früheren Ergebnisse: "Tatsächlich haben wir experimentell gezeigt, dass das Veto einer geplanten Handlung sogar noch während der letzten 100 bis 200 Millisekunden vor dem erwarteten Moment der Handlung eingelegt werden konnte" (S. 138; Übers. d. A.). Und auch für die Variante, in der es um einen von außen vorgegebenen Zeitpunkt ging (das M-Veto von oben), kam er auf dieselbe Zeitspanne (S. 139).

Bewusster Mensch

Dank Haynes' neuerem Versuch wissen wir es jetzt etwas genauer: Das Fenster für das Veto endet eher 200 als 100 Millisekunden vor einer Bewegung. Das Fazit des Hirnforschers und des Wissenschaftsjournalisten im Jahr 2021 lautet:

"Das Bewusstsein kann sich umentscheiden und eine eingeleitete Handlung unter bestimmten Bedingungen noch abbrechen. Das klassische Libet-Experiment hat damit seine Relevanz für das Problem der Willensfreiheit verloren, denn es ist kein Beleg dafür, dass unsere Entscheidungen durch vorangehende Hirnprozesse kausal determiniert sind." (Haynes & Eckoldt, 2021, S. 184)

Wie ich gezeigt habe (und auch Libet von Anfang an betonte), stellten die experimentellen Befunde nie die Willensfreiheit in Frage. Die Ergebnisse passen sogar sehr gut zum Begriff der Steuerungsfähigkeit des Menschen, auf dem das Strafrecht aufbaut: Die Versuchspersonen kontrollierten bewusst ihr Verhalten. Gut, jetzt wissen wir, dass man eine bewusst gesteuerte Bewegung (im Mittel) 200 Millisekunden vor ihrer Ausführung nicht mehr anhalten kann.

Man muss Versuchspersonen schon in eine merkwürdige Lage bringen, muss ihnen komische Anweisungen geben, muss sich die Teilnehmer sehr sorgfältig auswählen, muss Libets Ergebnisse verzerrt wahrnehmen und die andere Hälfte ganz ausblenden, um eine andere Geschichte zu erzählen: Hirnforschers Mär von der unbewussten Steuerung des Menschen. Es sei noch einmal daran erinnert, dass wir froh sein können, unsere unbewussten Dränge und Wünsche nicht auch noch selbst steuern zu müssen. Andernfalls wären wir permanent damit beschäftigt!

Libet warf dem Harvard-Psychologen Wegner, der das Märchen in seinem vielzitierten Buch von 2002 verbreitete, diese Einseitigkeit vor. Haynes und Eckoldt zitieren aus genau diesem Buch Benjamin Libets - und ignorieren dann doch, wie Wegner, die frühere Forschung zum bewussten Veto. Warum? Weil nur dann die eigenen Ergebnisse so neu und innovativ erscheinen?

Es ist natürlich die freie Entscheidung wissenschaftlicher Redakteure - hier von Nature und den Proceedings of the National Academy of Sciences der USA (PNAS) - solche Studien zu veröffentlichen. Dass die angeblich unbewussten Determinanten von Entscheidungen wahrscheinlich weder unbewusst waren, noch die Entscheidungen determinierten, und dass die Untersuchung des Vetos gar nicht so neu war, sollte man aber schon erwähnen. Natürlich würden die Studien dann nicht so stark von den Medien und anderen Forschern aufgegriffen.

Manche dieser Aspekte liegen vielleicht im Auge des Betrachters. Unstrittig scheint mir aber doch zu sein, dass es diesem bald vierzigjährigen Märchen um Hirnforschung und Willensfreiheit an Substanz fehlt, von Anfang an. Warum es dennoch so verlockend ist und ob es im 19. Jahrhundert anders war, darum wird es im vierten und letzten Teil der Serie gehen.

So viel sollte aber deutlich geworden sein: Terroranschläge können Hirnforscher bis auf Weiteres wohl eher nicht verhindern. Vor allem dann, wenn sie in ihren Laborversuchen ein weltfremdes Objekt konstruieren; eigentlich einen Zufallsgenerator.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" [21] des Autors.


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[1] https://www.heise.de/tp/features/Hirnforschers-Traum-vom-Gedankenlesen-6153469.html
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[3] https://www.heise.de/tp/features/Hirnforschers-Traum-vom-Gedankenlesen-6153469.html
[4] https://www.hup.harvard.edu/catalog.php?isbn=9780674018464
[5] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/001346948290181X?via%3Dihub
[6] https://link.springer.com/article/10.1007/BF00412364
[7] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/001346948290181X?via%3Dihub
[8] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/001346948290181X?via%3Dihub
[9] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/0013469483902626
[10] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1053810009001135
[11] https://www.heise.de/tp/buch/telepolis_buch_3180111.html
[12] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0160252712000027
[13] https://academic.oup.com/brain/article-abstract/106/3/623/271932
[14] https://mitpress.mit.edu/books/illusion-conscious-will
[15] https://www.hup.harvard.edu/catalog.php?isbn=9780674018464
[16] https://scholar.google.com/citations?user=pPRLye4AAAAJ&hl=en
[17] https://www.nature.com/articles/nn.2112
[18] https://www.nature.com/articles/nrn2404
[19] https://www.hup.harvard.edu/catalog.php?isbn=9780674018464
[20] https://www.pnas.org/content/113/4/1080.short
[21] http://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/