Hirnforschers Märchen: Von Terroranschlägen zur Willensfreiheit

Wäre "Nine Eleven" durch Hirnscanner zu verhindern gewesen? – Buchkritik: John-Dylan Haynes' und Matthias Eckoldts "Fenster ins Gehirn" (Teil 3)

Im letzten Teil ging es um das Gedankenlesen. Kommen wir jetzt zur Willensfreiheit. Es dürfte kaum jemandem entgangen sein, dass sich hierzu in den letzten Jahrzehnten so mancher Philosoph, Psychologe und Hirnforscher geäußert hat. Auch anno 2021 räumen Haynes und Eckoldt ihm große Bedeutung bei: Ihr Kapitel "Der freie Wille" ist mit 30 (von insgesamt 300) Seiten das mit Abstand längste ihres neuen Buchs.

Bücher vermitteln Wissen. Anders als in Fachzeitschriften oder populärwissenschaftlichen Medien können Autorinnen und Autoren in Büchern sehr frei schreiben: Es gibt (in der Regel) kaum Einschränkungen zu Inhalt und Umfang. In der "Buchkritik" diskutiere ich ein Kapitel eines Buches, das mich besonders interessiert oder mir zur Rezension angetragen wurde. Wie gewohnt geht es um den Themenbereich Philosophie, Psychologie und Hirnforschung.

Heute steht "Fenster ins Gehirn: Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann" (Ullstein Verlag, 2021) von John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt zum dritten Mal im Rampenlicht. Haynes ist Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité Berlin. Eckoldt ist erfahrener Wissenschaftsjournalist.

Am Anfang rufen sie, wie mehrmals im Buch, ihren Lesern schwere Verbrechen und Terroranschläge in Erinnerung. Und nicht nur irgendein Anschlag, sondern schlichtweg das Terrorereignis des 21. Jahrhunderts, "Nine Eleven", die Flugzeugentführungen vom 11. September 2001. Damit suggeriert man, die Hirnforschung sei hierfür von Bedeutung.

Wie bauen die Autoren diese Brücke? Hätte man mit am Flughafen installierten Hirnscannern die Pläne der Flugzeugentführer erkennen können? Und hätte man nicht nur die gedanklichen Absichten erkennen, sondern auch das konkrete Verhalten voraussagen können? Hätte also die Hirnforschung dieses Jahrhundertverbrechen verhindern können? Und dann sind wir plötzlich beim Physiologen Benjamin Libet (1916-2007).

In memoriam Benjamin Libet

Libet interessierte sich schon für Bewusstseinsvorgänge, als das noch für viele Forscher ein Tabu war. Ich erinnerte im zweiten Teil daran, dass die einflussreiche Schule des Behaviorismus das ganze Thema für unwissenschaftlich hielt. Das hinderte Libet aber nicht daran, seine bahnbrechenden Versuche mit der Elektroenzephalographie (EEG) durchzuführen.

Ihn interessierte insbesondere die zeitliche Dynamik der Bewusstseinsprozesse. Das äußert sich auch im Titel seines Buchs, das 2004 erschien, als der Forscher schon stolze 88 Jahre alt war: "Mind Time. The Temporal Factor in Consciousness". Dieser Titel wurde ein Jahr später (vom Suhrkamp Verlag) irreführend ins Deutsche übersetzt: "Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert." Vom Faktor Zeit im Bewusstsein zur Gehirnproduktion von Bewusstsein?

Wahrscheinlich hat jeder schon einmal davon gehört, dass laut Libets einschlägigem Experiment ein unbewusster Gehirnprozess einer bewussten Entscheidung (für eine Handbewegung) um ca. 300 Millisekunden vorangegangen ist (Libet et al., 1982). Daraus strickten andere(!) Philosophen und Forscher das Märchen, unser Wille könne nicht frei sein, denn die Entscheidung stehe bereits fest, bevor sie überhaupt ins Bewusstsein komme. Et cetera, et cetera. Nun müsse das Strafrecht grundlegend revidiert werden.

Das Bereitschaftspotenzial

Warum spreche ich von einem Märchen? Rund 15 Jahre vor Libet hatten deutsche Physiologen dem Gehirnsignal einen zutreffenden Namen gegeben: Bereitschaftspotenzial (Kornhuber & Deecke, 1965). Es signalisiert die Bereitschaft zur Bewegung (im sogenannten prämotorischen Kortex der Großhirnrinde). Das war Libet und seinen Mitstreitern auch bewusst, als sie schlussfolgerten:

Die Evidenzen zeigen daher […], dass alle Bereitschaftspotenziale, ob sie mit vorausgeplanten oder spontanen Willensakten zusammenhängen, von neuronalen Prozessen produziert werden, die spezifisch mit der Vorbereitung zur Ausführung einer motorischen Handlung involviert sind.

Libet et al., 1982, S. 332; Übers. d. A.)

Vom Willen, ob frei oder unfrei, ist in der ganzen Studie nicht die Rede. Doch versetzen wir uns kurz noch in die Lage der Versuchspersonen, um zu verstehen, worum es überhaupt ging: Diese saßen auf einem Stuhl und starrten auf ein speziell präpariertes Oszilloskop. Dieses ließ mit 2,56 Sekunden pro Umdrehung einen Punkt kreisen. Um diesen "Bildschirm" herum - Jahre später hätte man schlicht einen PC verwendet - brachten die Forscher in Fünferschritten eine Skala von 5 bis 60 an. Es handelte sich also um eine Art Uhr mit schnell laufendem "Sekundenzeiger".

In der entscheidenden Bedingung sollten die Personen den Punkt erst einmal vollständig kreisen lassen (also mindestens 2,56 Sekunden warten) und dann, in einem selbst bestimmten Moment, wenn sie den "Drang" zu einer Bewegung spürten, die rechte Hand bewegen. Ein Elektromyogramm (EMG) registrierte die damit verbundene Muskelaktivität und ein Durchlauf endete. Dann meldete die Versuchsperson die Zahl, bei der der Punkt im Moment der bewussten Entscheidung war.

Somit haben wir eine Gehirnvariable (vom EEG, das Bereitschaftspotenzial), eine Muskelvariable (vom EMG) und den subjektiven Bericht über die Entscheidung. Alle haben eine zeitliche Komponente. Und um diese ging es, wie gesagt, Benjamin Libet.

Libet und das Veto

Nun stimmt es zwar, dass sich erst das Bereitschaftspotenzial aufbaute, dann die Versuchsperson ihre Entscheidung meldete und zum Schluss die Bewegung stattfand. Libet behaupte aber nicht, die (frühere) Gehirnaktivierung determiniere die (spätere) Entscheidung. Dazu hatte er gar keinen Grund. Im Gegenteil. Er und seine Kollegen berichteten schon damals:

Es war nicht ungewöhnlich für die Versuchspersonen, einen Bewegungsdrang zu spüren, der nicht zum Vollzug einer tatsächlichen Bewegung führte, als ob dieser Drang durch ein "Veto" gestoppt wurde, und dann auf einen neuen Drang zu warten, auf den die Bewegung folgte. Man mag annehmen, dass ein jeder solcher verdeckter oder unerfüllter Bewegungsdrang auch mit einem entsprechenden Bereitschaftspotenzial verbunden sein sollte, ohne das abschließende motorische Signal. Doch die Messung eines solchen Bereitschaftspotenzials würde einen neuen Versuchsaufbau erfordern.

Libet et al., 1982, S. 333; Übers. d. A.

Natürlich konnten sie das nicht messen, denn nur das Muskelsignal (durch die Handbewegung) beendete ja den Durchlauf. Wie gute Forscher das so machen, entwickelten sie ein Folgeexperiment, um die neue Hypothese zu untersuchen. Und schon im Jahr darauf, also 1983, veröffentlichten sie die Ergebnisse für die Vetobedingung:

Von besonderem Interesse ist unser Ergebnis, dass die fortschreitende Vorbereitung oder Absicht für eine Bewegung sogar dann von einem substanziellen Bereitschaftspotenzial begleitet werden kann, wenn die Versuchsperson weiß, dass sie gegen die Absicht zur Bewegung ein Veto einlegen wird und den Muskel tatsächlich nicht betätigt.

Libet et al., 1983a, S. 371; Übers. d. A.

Logischerweise musste hier der Versuchsaufbau etwas geändert werden, denn in der Vetobedingung gab es ja prinzipiell kein EMG-Signal, um einen Durchlauf zu stoppen. Daher wurde der Endpunkt nun vom Versuchsleiter vorgegeben. Und die Versuchsperson sollte sich kurz vorher für (M-Bedingung) oder gegen die Bewegung (M-Veto-Bedingung) entscheiden. So oder so war und ist das Ergebnis deutlich: Das Bereitschaftspotenzial kann gar nicht die (vollständige) Ursache der Bewegung (M für "motorisch") sein und auch nicht die Entscheidung festlegen.