Hirnforschers Märchen: Von Terroranschlägen zur Willensfreiheit

Seite 2: Vierzigjähriges Missverständnis

Halten wir einen Moment inne: Seit fast vierzig (!) Jahren diskutieren Philosophen, Psychologen und Hirnforscher rund um den Globus, ob die Determination des (bewussten) Willens durch (unbewusste) Gehirnaktivierung laut dem Libet-Experiment der Vorstellung von Willensfreiheit widerspricht. Dabei war diese Annahme bereits 1982 unplausibel und sprachen die Evidenzen schon 1983 dagegen.

Diesen Befund bestätigten übrigens 2010 neuseeländische Neuropsychologen mit moderneren Methoden (Trevena & Miller, 2010). Aber ja, wer sind schon neuseeländische Neuropsychologen!

Nach rund vierzig - oder wenn wir Kornhuber und Deecke hinzuzählen: fast sechzig - Jahren ignorieren Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftler, darunter genug Koryphäen auf ihrem Gebiet, dass das Bereitschaftspotenzial eben nur dies signalisiert: die Bereitschaft zu einer Bewegung.

Dennoch wurden seit den 1980ern zahllose Konferenzen abgehalten, Forschungsprojekte bewilligt, Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten, vereinzelt sogar Habilitationsschriften geschrieben, alles unter der Prämisse, das (unbewusste) Signal lege den (bewussten) Willen fest. Man muss hier fast von "alternativen Fakten" sprechen.

Zahlreiche Autorinnen und Autoren entwickelten Argumente dafür, warum das Experiment keine Gefahr für die Willensfreiheit sei: beispielsweise handle es sich nur um sinnlose Handbewegungen, sei der Bericht der Versuchspersonen nicht 100 Prozent zuverlässig, seien die EEG-Messungen begrenzt oder widerspreche Determinismus gar nicht der Willensfreiheit ("Kompatibilismus"). Das mag alles stimmen. Doch Fakt war und ist: Das Bereitschaftspotenzial allein determinierte gar nichts (Schleim, 2011; Schleim 2012).

Libet-Experiment anno 2021

Zugegeben, man hätte natürlich viel weniger zu diskutieren gehabt, hätte man sich nicht einen Teil der Befunde zurechtgebogen und den Rest ignoriert. Denkt jemand, ich übertreibe? Gut, dann schauen wir uns doch einmal an, was John-Dylan Haynes und Matthias Eckolt, beide führende Persönlichkeiten in ihrem Fach, anno 2021 im wichtigen Kapitel über den freien Willen schreiben:

Im Jahr 1983 erschien eine bahnbrechende Studie von Benjamin Libet, die für viele die Willensfreiheit fundamental infrage stellte" (S. 164). Sie erschien erstmals 1982. Aber was ist schon ein Jahr? Doch auch in der ausführlicheren Publikation von 1983 werden die wesentlichen Fakten genannt: Das Bereitschaftspotenzial gibt nur die Vorbereitung der Bewegung an; ein Veto könnte die Bewegung verhindern; und bei Willenshandlungen, die nicht "spontan" getroffen werden, könnte die Sache sowieso ganz anders aussehen (Libet et al., 1983b). Haynes und Eckoldt schreiben weiter:

"Aber wie kann ein Signal für die Ausführung einer Handlung im Gehirn entstehen, wenn man sich noch gar nicht bewusst entschieden hat, die Handlung auszuführen?" (S. 166-167). Hmm, denken wir kurz nach: Wie kann das sein? Vielleicht, weil die Versuchspersonen die Anweisung haben, spontan die Hand zu bewegen? Es ist doch keine Magie, dass das Gehirn so eine Bewegung dann vorbereitet. Die Autoren aber bleiben überrascht:

"Das hieße doch, die Hirnaktivität wäre bereits gestartet, bevor der Proband den Handlungsimpuls verspürte. Eine reichlich paradoxe Angelegenheit, denn wenn das Gehirn vor der willentlichen Entscheidung aktiv wird, müsste es ja bereits gewusst haben, dass sich der Proband gleich entscheiden wird." (Haynes & Eckoldt, 2021, S. 166-167)

Psychologische Plausibilität

Hier sehen wir sehr deutlich, wie die Autoren Gehirn und Person gegeneinander ausspielen und dabei Vorbereitung und Entscheidung vermischen. Das ist aber schon psychologisch unplausibel. Was passiert denn, wenn man Versuchspersonen sagt, sie sollen sich auf einen Stuhl setzen, auf einen Bildschirm starren und bitte nichts tun, bis sie (spontan, nicht geplant!) einen Drang spüren, die Hand zu bewegen? Irgendwann beginnt eben die Vorbereitung der Bewegung, sonst würde das Experiment nie aufhören und die Teilnehmer wahrscheinlich vor Langeweile sterben.

Das entsprechende Modell zu Haynes' und Eckoldts Beschreibung wäre, dass wir immer bewusst entscheiden müssten, was unser nächster spontaner(!) Drang wird. Dann wäre er aber gar nicht mehr ungeplant und spontan. Und es wäre eine völlige Überforderung unseres Bewusstseins. Die Autoren verwickeln sich hier in Widersprüche.

In Wirklichkeit spüren wir mal einen Drang, auf Toilette zu gehen, etwas zu trinken, einen Spaziergang zu machen, die Nachrichten oder Social Media zu checken, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wenn dem nichts entgegensteht, machen wir es meistens. Manchmal überwältigt uns ein Drang, wird er übermächtig und verlieren wir die Kontrolle. Das ist zum Glück - außer bei schweren psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen - aber die seltene Ausnahme. Noch einmal die Autoren:

Wie passt das zusammen mit dem subjektiven Eindruck des Versuchsteilnehmers, dass er sich erst später bewusst entschieden hatte? Wenn der Wille tatsächlich dieser frühen, unbewussten Hirnaktivität hinterherhinkt, kann die bewusste Entscheidung nicht der Startpunkt der Kausalkette sein, die letztlich zur Handlung führt.

Haynes & Eckoldt, 2021, S. 167

Die Autoren verbreiten hier, wie so viele, den Mythos, das Libet-Experiment habe irgendetwas mit Willensfreiheit zu tun. Und ebenfalls fragwürdig: Die Befunde zum Veto erwähnen sie nicht einmal. Den Lesern wird zudem vorenthalten, dass Libet selbst die Willensfreiheit gar nicht anzweifelte.

Im Gegenteil schreiben die beiden: "Allerdings wurden auch Kritikpunkte an Libet laut. War es nicht ein wenig vorschnell, mit einem derart einfachen Experiment, das die zeitlichen Abläufe bei einer Handbewegung untersucht, gleich die ganze menschliche Willensfreiheit zu verabschieden?" (Haynes & Eckoldt, 2021, S. 168). Das hat Benjamin Libet ausdrücklich nicht gemacht!

Ich will hier nicht über Vorsatz spekulieren, nur die eine Hälfte der Geschichte zu erzählen, die sich gut "verkaufen" lässt; und dann auch noch so verzerrt. Fahrlässig ist dieses Vorgehen aber schon; nach vierzig Jahren und wenn man selbst auf diesem Gebiet forscht, wahrscheinlich eher grob fahrlässig.

Libets Erklärung

Libet würde das wohl bedauern, wäre er nicht schon gestorben. 2002 schrieb nämlich der Harvard-Psychologe Daniel Wegner (1948-2013) ein Buch über den angeblich illusionären Willen. Er reihte sich als namhafter Wissenschaftler bei den Willensfreiheitszweiflern ein, allerdings auch aufgrund anderer Studien, deren Diskussion hier zu weit führen würde.

Jedenfalls fand Libet Wegners Beschreibung seines Experiments einseitig: "Nirgendwo in seinem Buch diskutiert er das Veto-Phänomen und dessen mögliche kausale Rolle für den bewussten Willen" (Libet, 2004, S. 144; Übers. d. A.). Wissenschaftler sollten verschiedene Erklärungen berücksichtigen, oder nicht? Das machte Wagner nicht; ebenso wenig Haynes und Eckold. Vielleicht, weil die Geschichte dann nicht mehr so schön ist?

Doch Moment mal, was meint Libet hier mit der "kausalen Rolle"? Wir wissen inzwischen, dass das Bereitschaftspotenzial allein weder die bewusste Entscheidung noch die Bewegung festlegt. Der bewusste Wille könnte aber doch dem gespürten Drang über die nötige Schwelle zur Ausführung verhelfen! Wenn dem so ist, meint die Mehrheit der Forschergemeinschaft, die Willensfreiheit mit einem Experiment zu widerlegen, das sie tatsächlich bestätigt.

Haynes' neuere Studien

Mit Blick auf die Länge des Artikels will ich allmählich zum Ende kommen. In Haynes' und Eckoldts Kapitel über den freien Willen werden aber noch zwei Versuche aus Haynes' eigener Forschungsgruppe besprochen, die hier erwähnt werden müssen.

Beim ersten Experiment führten die Forscher eine neuere Variante von Libets Versuch im Kernspintomographen durch; das ist übrigens laut Google Scholar Haynes' meistzitierte Arbeit (Soon et al., 2008).

Im Buch schreiben die Autoren von der Innovation, den Versuchspersonen zwei Optionen anzubieten: einen Knopf mit links oder rechts drücken. Das sei eine "entscheidende Verbesserung" (S. 169) gegenüber Libet. Zwei Optionen gab es aber auch schon in den 1980ern: 1982, weil die Versuchspersonen manchmal dem Drang nicht nachgaben, ergo die Hand nicht bewegten; 1983 die M- und M-Veto-Bedingungen, wobei diese aber aufgrund des Versuchsaufbaus von außen vorgegeben werden mussten.

Der Sinn der neuen Untersuchung: "Die Frage war, ob der Computer die Entscheidung aus den Hirnaktivitätsmustern vorhersagen konnte, noch bevor die Person selber glaubte, sich entschieden zu haben" (S. 169-171). Der Titel der neuen Studie verrät die Antwort: "Unbewusste Determinanten freier Entscheidungen im menschlichen Gehirn."

Die alte Geschichte, dass (unbewusste) Gehirnaktivierung den (bewussten) Willen bestimmt, wurde damit wieder aufgewärmt. Diesmal stehe die Entscheidung nicht nur 300 Millisekunden vorher fest, wie bei Libet (was allerdings falsch ist, wie wir gesehen haben), sondern mindestens 7 Sekunden!

In aller Kürze sei hier gesagt, dass die Hirnforscher gar nicht wissen, ob ihre Signale wirklich mit unbewussten Prozessen zusammenhängen. Sie merken offenbar keinen Widerspruch, wo sie selbst von einem "Netzwerk höherstufiger Kontrolle" sprechen, das vor allem Gebiete im Frontalhirn und Precuneus umfasst.

Neurologisch gesehen passt das vielmehr zur bewussten Steuerung der Aufgabe. Und das war ja die Aufgabe für die Teilnehmer: Irgendwann "spontan" einen der beiden Knöpfe zu drücken, wenn sie einen "Drang" dazu spürten. Zusätzlich mussten sie, wie bei Libet, auf eine Zeitmarke (diesmal eine Reihe von Konsonanten statt des Zeigers) achten. Die brauchten die Forscher für die Auswertung der Daten.

Es ist schon etwas unfair, die Versuchsperson dazu zu zwingen, den Moment der bewussten Entscheidung auf einen festen Zeitpunkt zu fixieren - und alles davor schlichtweg als "unbewusst" zu definieren. Praktisch ist es allemal, sicher für die griffige Schlagzeile der unbewussten Determinierung des Menschen. Diese lässt sich wieder mit angeblichen Folgen für unsere Rechtsordnung verknüpfen, wofür die Nature-Redaktion begleitend zur Studie sorgte.

Das Vorgehen ist aber auch in sich unschlüssig: einerseits unsere innere Wahrnehmung (Introspektion) grundlegend in Zweifel zu ziehen, andererseits die Auswertung entscheidend von der inneren Wahrnehmung der Versuchspersonen abhängig zu machen. Ja was denn nun? Funktioniert unser Bewusstsein zuverlässig oder nicht? Hier rächt sich auch, dass man Introspektion in Psychologie und Hirnforschung im 20. Jahrhundert so stiefmütterlich behandelte, wie ich im zweiten Teil schrieb.