Hirnforschers Märchen: Von Terroranschlägen zur Willensfreiheit

Seite 3: Beschränkte Experimente

Haynes und Eckoldt kritisieren die Versuchsaufbauten anderer Forscher. Einschränkungen der eigenen Arbeiten erwähnen sie aber nicht. So wurde den Teilnehmern beispielsweise wieder das Vorausplanen der Entscheidungen verboten. Die Knopfdrücke sollten so spontan wie möglich erfolgen und zudem einer Zufallsverteilung entsprechen. Hierfür wurden in einem Vorexperiment nur 14 von 36 (knapp 40 Prozent) Personen ausgewählt. Linkshänder waren übrigens von vorne herein ausgeschlossen; die sind schlecht fürs Signal.

Von den 14 verbliebenen Kandidatinnen und Kandidaten mussten nach dem Versuch im Kernspintomographen dann noch einmal zwei entfernt werden: Die eine reagierte dann doch nicht zufällig und die andere nicht spontan genug. Wenn mit nur 12 von 36, ohnehin nur jungen (21 bis 30 Jahre), rechtshändigen Menschen, gerade einmal ein Drittel(!) den Vorstellungen der Hirnforscher entspricht, dann muss man schon an der Aussagekraft des Versuchs zweifeln. Dazu kommt, dass die Vorhersagewahrscheinlichkeit für den Knopfdruck nur leicht über dem Zufallsniveau lag.

Hier sehen wir, wie sich Forscher im Laborversuch (liege still im Hirnscanner!) mit Instruktionen (sei spontan!) und Verhaltensanalysen (schnell und zufällig) ihr Subjekt sorgfältig auswählen, ja konstruieren. Das müsste einen Wissenschaftler eigentlich bescheiden stimmen.

Unfreie Freiheit

Wenn die Aussagen in den Medien aufgeblasen werden, werden solche Einschränkungen aber kaum erwähnt. Das vermittelt der Gesellschaft ein systematisch falsches Bild von den Möglichkeiten der Hirnforschung. Hierzu findet sich schon in Libets Buch ein amüsantes Zitat:

"In unseren Experimenten entfernten wir alle Einschränkungen der Handlungsfreiheit; die Subjekte führten eine einfache Streckung oder Krümmung des Handgelenks aus, wann immer sie den Drang oder Wunsch dazu verspürten. Diese freiwilligen Handlungen sollten unberechenbar, frei von allen äußeren Beschränkungen ausgeführt werden." (Libet, 2004, S. 141; Übers. d. A.)

Amüsant ist das, wenn man bedenkt, was die Voraussetzungen dieser "Freiheit" des Hirnforschers waren: Möglichst still auf einem Stuhl sitzen und auf den Bildschirm starren; nicht einmal mit den Augen blinzeln (das stört das EEG-Signal); auch nicht vorausplanen und möglichst spontan sein. Diese "Freiheit" besteht also nur unter der Voraussetzung extremer Unfreiheit und ist daher ein Widerspruch in sich.

Libet gerät auch ins Schwimmen, wo er das psychische Phänomen beschreibt, das er untersucht. Mal ist es eine "bewusste Absicht" (S. 125), "Absicht oder Wunsch, sich zu bewegen" (S. 126), "bewusst wollen oder wünschen [engl. wanting or wishing or willing]" (S. 126) oder auch ein "Drang oder Wunsch, sich zu bewegen" (S. 134). 25 Jahre später ist es bei Haynes mit seinem "Drang", einen Knopf zu drücken, meiner Meinung nach nicht viel klarer geworden.

Wir erinnern uns an den zweiten Teil: Die Behavioristen verwendeten solche Unklarheiten des Forschungsgegenstands für ihren Generalangriff auf die Psychologie, insbesondere Introspektion und Phänomenologie. Und den Gründervätern der experimentellen Psychologie wie Wilhelm Wundt wäre das wahrscheinlich zu vage gewesen, um wissenschaftliche Mindeststandards zu erfüllen. Hier reden wir von Maßstäben des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Abschluss: Gehirn-Duell

In seinem neuesten Versuch zum Themenbereich ließen Haynes und seine Mitarbeiter Versuchspersonen zu einem "Gehirn-Duell" antreten. "Die Grundfrage war: Können Menschen ihre Handlung noch abbrechen, nachdem das Bereitschaftspotenzial im Gehirn einmal aktiv geworden ist?" (Haynes & Eckoldt, 2021, S. 182). Die Antwort gab 1982 und 1983 bereits Benjamin Libet - und womöglich 1965 schon Kornhuber und Deecke: Ja, Menschen können das!

Dabei war der neue Versuchsaufbau durchaus interessant: Ein Computer registrierte das EEG der Teilnehmer. Ein Algorithmus sollte die Bewegung (nun mit dem Fuß) der Menschen vorhersagen. Gelang es den Versuchspersonen, einen Schalter zu betätigen, bevor eine Lampe auf rot umsprang, dann ging die Runde an sie. Waren sie langsamer, bekam der Computer den Punkt. Im Ergebnis: Unentschieden zwischen Mensch und Maschine (Schultze-Kraft et al., 2016).

Die Forscher Versuchten, den Zeitraum, in dem die Teilnehmer nach Beginn des Bereitschaftspotenzials die Bewegung stoppen konnten, näher einzugrenzen: "Ab ca. 200 Millisekunden vor der Handlung ist der Point of no Return erreicht. Wurde der erste Hirnprozess bis zu diesem Zeitpunkt nicht eingeholt, gibt es keine Chance mehr zum Abbruch der von ihm initiierten Handlung" (S. 184-185). Sprang also in dieser Zeitspanne die Lampe auf Rot, gewann der Computer.

Um solche zeitlichen Dynamiken ging es auch Libet. Zu genau dieser Frage, bis wann das "Veto" eingelegt werden kann, schrieb er noch 2004 über seine früheren Ergebnisse: "Tatsächlich haben wir experimentell gezeigt, dass das Veto einer geplanten Handlung sogar noch während der letzten 100 bis 200 Millisekunden vor dem erwarteten Moment der Handlung eingelegt werden konnte" (S. 138; Übers. d. A.). Und auch für die Variante, in der es um einen von außen vorgegebenen Zeitpunkt ging (das M-Veto von oben), kam er auf dieselbe Zeitspanne (S. 139).

Bewusster Mensch

Dank Haynes' neuerem Versuch wissen wir es jetzt etwas genauer: Das Fenster für das Veto endet eher 200 als 100 Millisekunden vor einer Bewegung. Das Fazit des Hirnforschers und des Wissenschaftsjournalisten im Jahr 2021 lautet:

"Das Bewusstsein kann sich umentscheiden und eine eingeleitete Handlung unter bestimmten Bedingungen noch abbrechen. Das klassische Libet-Experiment hat damit seine Relevanz für das Problem der Willensfreiheit verloren, denn es ist kein Beleg dafür, dass unsere Entscheidungen durch vorangehende Hirnprozesse kausal determiniert sind." (Haynes & Eckoldt, 2021, S. 184)

Wie ich gezeigt habe (und auch Libet von Anfang an betonte), stellten die experimentellen Befunde nie die Willensfreiheit in Frage. Die Ergebnisse passen sogar sehr gut zum Begriff der Steuerungsfähigkeit des Menschen, auf dem das Strafrecht aufbaut: Die Versuchspersonen kontrollierten bewusst ihr Verhalten. Gut, jetzt wissen wir, dass man eine bewusst gesteuerte Bewegung (im Mittel) 200 Millisekunden vor ihrer Ausführung nicht mehr anhalten kann.

Man muss Versuchspersonen schon in eine merkwürdige Lage bringen, muss ihnen komische Anweisungen geben, muss sich die Teilnehmer sehr sorgfältig auswählen, muss Libets Ergebnisse verzerrt wahrnehmen und die andere Hälfte ganz ausblenden, um eine andere Geschichte zu erzählen: Hirnforschers Mär von der unbewussten Steuerung des Menschen. Es sei noch einmal daran erinnert, dass wir froh sein können, unsere unbewussten Dränge und Wünsche nicht auch noch selbst steuern zu müssen. Andernfalls wären wir permanent damit beschäftigt!

Libet warf dem Harvard-Psychologen Wegner, der das Märchen in seinem vielzitierten Buch von 2002 verbreitete, diese Einseitigkeit vor. Haynes und Eckoldt zitieren aus genau diesem Buch Benjamin Libets - und ignorieren dann doch, wie Wegner, die frühere Forschung zum bewussten Veto. Warum? Weil nur dann die eigenen Ergebnisse so neu und innovativ erscheinen?

Es ist natürlich die freie Entscheidung wissenschaftlicher Redakteure - hier von Nature und den Proceedings of the National Academy of Sciences der USA (PNAS) - solche Studien zu veröffentlichen. Dass die angeblich unbewussten Determinanten von Entscheidungen wahrscheinlich weder unbewusst waren, noch die Entscheidungen determinierten, und dass die Untersuchung des Vetos gar nicht so neu war, sollte man aber schon erwähnen. Natürlich würden die Studien dann nicht so stark von den Medien und anderen Forschern aufgegriffen.

Manche dieser Aspekte liegen vielleicht im Auge des Betrachters. Unstrittig scheint mir aber doch zu sein, dass es diesem bald vierzigjährigen Märchen um Hirnforschung und Willensfreiheit an Substanz fehlt, von Anfang an. Warum es dennoch so verlockend ist und ob es im 19. Jahrhundert anders war, darum wird es im vierten und letzten Teil der Serie gehen.

So viel sollte aber deutlich geworden sein: Terroranschläge können Hirnforscher bis auf Weiteres wohl eher nicht verhindern. Vor allem dann, wenn sie in ihren Laborversuchen ein weltfremdes Objekt konstruieren; eigentlich einen Zufallsgenerator.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.