Hirnforschung und Dualismus: Wie war das mit der Seele?

Stephan Schleim

Ist da noch etwas? Bild: Gerd Altmann auf Pixabay (Public Domain)

Buchkritik: John-Dylan Haynes' und Matthias Eckoldts "Fenster ins Gehirn" (Teil 1)

Bücher vermitteln Wissen. Anders als in Fachzeitschriften oder populärwissenschaftlichen Medien können Autorinnen und Autoren in Büchern sehr frei schreiben: Es gibt (in der Regel) kaum Einschränkungen zu Inhalt und Umfang. In der "Buchkritik" diskutiere ich ein Kapitel eines Buches, das mich besonders interessiert oder mir zur Rezension angetragen wurde. Wie gewohnt geht es um den Themenbereich Philosophie, Psychologie und Hirnforschung.

Heute steht "Fenster ins Gehirn: Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann" (Ullstein Verlag, 2021) von John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt im Rampenlicht. Haynes ist Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité Berlin. Eckoldt ist erfahrener Wissenschaftsjournalist.

Gleich am Anfang verweisen die Autoren auf ihre bei einer "professionellen Befragungsagentur" in Auftrag gegebene Studie zum Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist. Den Ergebnissen zufolge sind über 90 Prozent der Befragten Dualisten (S. 22). Auch im Interview mit dem Humanistischen Pressedienst meinte Haynes erst vor Kurzem: "Laut Umfragen sind über 90 Prozent der Menschen Dualisten." Später im Buch wird dann - aus Sicht der Hirnforschung - gegen diesen philosophischen Standpunkt argumentiert.

Was ist Dualismus?

Unter dem Leib-Seele-Dualismus versteht man in der Regel, dass Körper (insbesondere Gehirn) und Geist beziehungsweise Seele verschiedene Dinge sind; philosophisch gesagt, verschiedene "Substanzen", die aus sich heraus bestehen. Das schließt die Möglichkeit ein, dass Körper/Gehirn und Geist/Seele unabhängig voneinander existieren können.

Dieser Standpunkt war und ist traditionell in vielen Religionen von Bedeutung. Und nach wie vor fühlt sich die übergroße Mehrheit der Menschheit einer Religion zugehörig.

Der Leib-Seele-Dualismus ist also eine ontologische Position darüber, wie die Welt wirklich ist. Bei näherer Betrachtung fällt aber auf, dass Haynes und Eckoldt hier Aussagen über das Sein und über unsere Erkenntnis - in Fachsprache: ontologische und epistemische Aussagen - über einen Kamm scheren. Mit Aussagen wie: "Der menschliche Geist kann nicht allein durch das Gehirn erklärt werden." (S. 20), geht es nämlich eher um die Erkenntnismöglichkeiten der Hirnforschung als um das Wesen von Geist/Seele.

Ich betone seit Jahren immer wieder, wie wichtig es ist, Aussagen über das Sein auf der einen und Aussagen über das Wissen/Erklären auf der anderen Seite deutlich zu trennen (Reduktionismus und die Erklärung von Alltagsphänomenen). Die Frage nach der Existenz von Geist/Seele ist nämlich weitgehend unabhängig von den Erklärungsmöglichkeiten der Hirnforschung:

Wenn, wie heute zweifellos der Fall, die Wissenschaft nicht den "Menschen an sich" erklären kann, lässt sich nicht entscheiden, ob das an der Natur des Menschen (Sein) oder an den Möglichkeiten der Forschung (Erkenntnis) liegt. Umgekehrt ist es auch möglich, dass es zwar keine Seele gibt, wir Menschen aber trotzdem so kompliziert sind, dass wir nicht vollständig wissenschaftlich erklärt werden können. Gerade Neurowissenschaftler nennen das menschliche Gehirn gerne den komplexesten, uns bekannten Gegenstand des Universums.

Wie man es auch dreht und wendet: Die Frage nach der Seele (Dualismus) mit der Frage der Erklärbarkeit des Menschen zu vermischen, ist also mindestens irreführend, wahrscheinlich sogar falsch. Aber zugegeben, Haynes' und Eckholdts Vorgehen liefert eine gute Schlagzeile. Und der Humanistische Pressedienst springt gleich darauf an. Ob das guter Journalismus ist, möge jeder selbst entscheiden.

Doch keine Mehrheit von Dualisten?

Man kann es besser machen. So erhob beispielsweise der Psychologieprofessor Jochen Fahrenberg 2006 die Ansichten unter Studierenden. Seiner Befragung zufolge ließen sich nur rund 40 (Naturwissenschaften) bis 60 Prozent (Theologie) eher dem Dualismus zurechnen. In etwa so viele gingen von einer komplementären Sichtweise aus, die Körper und Geist als zwei Seiten einer Medaille sieht. Rund zehn bis 20 Prozent (Naturwissenschaften) hatten eine eher aufs Gehirn begrenzte, reduktionistische Sichtweise (Wissenschaft und Religion: Konflikt oder Kooperation?).

Im Übrigen ist auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass es zwar eine Seele gibt, der Mensch aber trotzdem vollständig wissenschaftlich erklärbar ist. Das wäre genau dann der Fall, wenn die Vorgänge von Geist/Seele und Körper/Gehirn streng aneinandergekoppelt sind.

Denn das ist es ja, was (insbesondere biologische) Psychologen und (kognitive) Neurowissenschaftler seit jeher machen: physische (körperliche) Reaktionen mit psychischen Vorgängen in Verbindung bringen; und umgekehrt. Eine weiterführende metaphysische Interpretation über das "Wesen der Psyche" ist dafür gar nicht notwendig.

Und, man höre und staune, schon im 17./18. Jahrhundert kam man auf den Gedanken, dass Leib und Seele eng verbunden sind, Stichwort "psychophysischer Parallelismus". Mit tieferer Textarbeit könnte man dafür argumentieren, dass sogar der Vorzeigedualist und Naturforscher René Descartes (1596-1650) einen strengen Zusammenhang zwischen Leib und Seele annahm, jedenfalls für das diesseitige Leben.

Mit dem Aufkommen der Naturwissenschaft - im 19. Jahrhundert dann dem Energieerhaltungssatz - wurde Philosophen deutlich, dass Beschreibungen von Naturvorgängen in sich schlüssig sind und keine äußere Kraft angenommen werden muss. Schon in der Antike gab es solche Überlegungen (Das kleine Einmaleins des Leib-Seele-Problems).

Da schien die Annahme einer Parallelität - oder in Gottfried Wilhelm Leibniz' (1646 - 1716) Worten: Harmonie - zwischen Leib und Seele verlockend. Diese löst den Widerstreit zwischen den Seinsweisen zumindest auf begrifflich-logischer Ebene. Warum dann überhaupt noch von Seelen sprechen? Folgerichtig entstanden später die Positionen der Epiphänomenalisten (die psychischen Vorgängen alle Kausalkräfte absprechen) oder Eliminativisten (die die Existenz psychischer Vorgänge verneinen).

Dualismus experimentell belegen?

So viel Philosophiegeschichte muss man natürlich in einem 2021 veröffentlichten Buch über Hirnforschung nicht zur Kenntnis nehmen. Wenn man sich aber ausdrücklich auf philosophisches Terrain begibt, dann täte man gut daran. Die Autoren gehen sogar noch ein paar Schritte weiter und diskutieren, wie man einen Dualismus experimentell bestätigen oder widerlegen könnte:

Eine Möglichkeit wäre, Gedanken zu finden, die überhaupt keine Spuren im Gehirn hinterlassen. Man könnte eine Versuchsperson bitten, sich […] zwei verschiedene Dinge vorzustellen - etwa einen Hund und eine Katze. […] Wenn wir im Labor zwischen diesen beiden Gedanken keinerlei Veränderung in der Hirnaktivierung feststellen können, wäre erwiesen, wovon die Mehrheit der Menschen laut unserer Umfrage ausgeht: nämlich, dass wir nicht allein mit der Hirnaktivität herausfinden können, was jemand denkt. […] Doch als Hirnforscher habe ich erfahren, dass das Gegenteil zutrifft: Gedanken lassen sich aus der Hirnaktivität in der Tat zu einem gewissen Grad auslesen […].

(Haynes/Eckoldt, 2021, S. 50-51)

Der Teufel steckt hier im Detail: Als erfahrener Hirnforscher weiß Haynes, dass ein Nullbefund (kein Unterschied) in den Gehirndaten verschiedene Gründe haben kann. Wenn sich beispielsweise Gedanke A und Gedanke B im Signal nicht unterscheiden lassen, könnte das an einem Messfehler liegen; es könnte aber auch sein, dass das Messinstrument nicht genau genug ist.

Und die Verfahren der Hirnforschung reduzieren die Aktivität vieler tausend bis hunderttausend Neuronen und anderer Zellen auf ein einziges und zudem sehr grobes Signal; oder sie sind zwar sehr genau, erfassen aber nur sehr wenige Zellen gleichzeitig. Ersteres gilt insbesondere auch für die Verfahren, mit denen Haynes arbeitet, nämlich die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und Elektroenzephalographie (EEG).

Zwischenfazit

Aus dem Vorangegangenen folgt, dass weder die Abwesenheit gemessener Gehirnunterschiede die Existenz einer Seele beweist, noch ihre Anwesenheit diese widerlegt. Der Gedanke, die Seele im Gehirnscanner zu finden, ist in etwa so geistreich wie die Vorstellung, den "lieben Gott im Himmel" mit einer Weltraumsonde zu suchen. Die Leser von "Fenster ins Gehirn" werden also gleich am Anfang sowohl über die Verbreitung des Dualismus als auch über die Möglichkeiten der Hirnforschung in die Irre geführt.

Für an der Physik interessierte Leser gibt es eine interessante Analogie: Der Streit darüber, ob die Welt deterministisch ist, ist ähnlich alt wie die Diskussion über die Existenz der Seele. An bestimmten Punkten berühren sich die Diskussionen sogar, wo manche im naturwissenschaftlichen Indeterminismus ein Einfallstor für "übernatürliche" Entitäten sehen.

Formallogisch stimmt das sogar: Wo die Natur das Ergebnis nicht zwingend festlegt, könnte es (rein theoretisch) übernatürlich festgelegt werden. Es sollte aber klar sein, dass aus dieser (metaphysisch-spekulativen) Möglichkeit nicht folgt, dass es in unserer Welt wirklich so zugeht. Ich will hier aber auf etwas Anderes heraus:

Der Chaostheorie zufolge kann der Ausgang eines Versuchs unvorhersehbar (und in diesem Sinne indeterministisch) sein, auch wenn das System selbst deterministisch ist. Was hat das nun mit dem Dualismus zu tun? Ganz einfach: Wenn uns die Welt indeterministisch erscheint (Erkenntnis, Wissen; epistemische Ebene) ist das kein Beweis für ihre wirkliche Indeterminiertheit (Sein; ontologische Ebene). Wo Haynes und Eckoldt diese Ebenen vermischen, begehen sie einen Fehlschluss.

Noch ein philosophischer Punkt zum Dualismus: Warum sollte man überhaupt die Existenz einer Seele annehmen? Hierfür gibt es im Wesentlichen traditionell-religiöse und phänomenologische Gründe. Letztere bedeuten, dass man sich selbst - etwa bei außerkörperlichen Erfahrungen - als losgelöst von seinem Körper wahrnimmt. (Ich hatte solche Erlebnisse, insbesondere während meines Studiums der Philosophie des Geistes, ordnete diese aufgrund von Wahrnehmungsfehlern aber als Traum ein.)

Schein oder Sein?

Auch vom phänomenalen Schein können wir nicht ohne Weiteres auf das wirkliche Sein schließen, selbst wenn solche Erfahrungen für manche Menschen eine tiefe Überzeugungskraft besitzen. Ähnliches berichten Konsumenten halluzinogener Substanzen wie Ayahuasca oder LSD, die darum auch in spirituellen Kreisen beliebt sind. Da kommt man mit wissenschaftlichen oder Vernunftargumenten oft nicht weit.

Bei der Existenz der Seele handelt es sich - wie bei der Existenz eines Gottes - um eine Glaubensfrage. Es geht um Metaphysik, nicht Physik (Naturwissenschaft). Und es sollte sich irgendwann einmal herumgesprochen haben, dass man metaphysische Fragen nicht empirisch, also auch nicht mit wissenschaftlichen Experimenten lösen kann. Grundkurs Philosophie, Teil 1.

Die positivistischen Philosophen des Wiener Kreises (wie Moritz Schlick oder Rudolf Carnap) lehnten metaphysische Fragen daher gänzlich ab: Wenn die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage - etwa, dass es eine Seele gibt - keinen empirisch feststellbaren Unterschied macht, dann sei sie schlicht sinnlos. Und "sinnlos" ist für einen Philosophen noch schlimmer als "falsch". Jeder kann sich mal irren; aber sinnlose Sätze formulieren?

Im nächsten Teil beschäftigen wir uns mit der Frage, was Gedanken sind und wie wir Zugang zu ihnen bekommen.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.