Wissenschaft und Religion: Konflikt oder Kooperation?

Neue Artikelserie über das philosophische Rückgrat unserer Kultur

Die anhaltenden Kirchenaustritte sprechen eine deutliche Sprache: In Deutschland scheint man sich zunehmend von seiner christlichen Vergangenheit abzukehren. Das schreibe ich übrigens in den noch säkulareren Niederlanden: Hier meldete das nationale Statistikbüro schon 2018, dass sich nur noch weniger als die Hälfte der Bevölkerung einer Religion zuordnet. Man hat sich daran gewöhnt, dass aus Kirchen Technoclubs (gute Akustik), Skateparcours oder mietbare Eventlocations etwa fürs alljährliche Whiskey-Festival geworden sind.

Dabei sollte man sich noch einmal daran erinnern, dass das Goldene Zeitalter der Niederlande (16./17. Jahrhundert) wesentlich vom Calvinismus geprägt war, also einer Form des Protestantismus: Gott habe jeden Menschen von vorneherein entweder zum ewigen Leben oder der ewigen Verdammnis bestimmt (doppelte Prädestination). Ändern könne man daran nichts. Allein durch Erfolg in diesem Leben könne man zeigen, dass man zu den Auserwählten gehört.

Es liegt auf der Hand, dass so eine "kulturelle DNA" Individuen zur Höchstleistung anspornt. Denn ewige Verdammnis ist. Echt. Ewig! So gab es auf der einen Seite kulturell-ökonomischen Aufschwung der seefahrenden Nation: Man denke allein an die Meistermaler (etwa Rembrandt, Frans Hals, Vermeer), deren Kunstwerke noch heute Touristen aus aller Welt anziehen. Oder die Entstehung des Kapitalismus mit seiner ersten Börsenblase und erstem Crash (die Tulpenmanie von 1636/37).

Und auf der anderen Seite gab es Kolonialismus mit Unterdrückung, Ausbeutung und Sklaverei. Mit dieser Schattenseite des Aufschwungs würde später der übrigens nach Deutschland emigrierte und dort gestorbene Schriftsteller Eduard Dekker a.k.a. Multatuli (1820-1887) die niederländische Gesellschaft konfrontieren - und schockieren. Sein "Max Havelaar" wird noch heute in vielen Schulen gelesen.

Soziale Funktion von Religion

Das lasse ich erst einmal als Fallstudie dafür stehen, dass Religion mehr ist als nur Glaube: Sie ordnet auch das Zusammenleben einer Gesellschaft, gibt dem Menschen Sinn und einen Platz im Universum. Auch Max Webers "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" von 1904/1905 ist nach wie vor lesenswert.

Man könnte überlegen, ob der vom erfolgreichen Feldherrn Mohammed gegründete Islam etwas damit zu tun hat, dass selbst die technologisch-wissenschaftlich so hochgerüstete US-Armee in Afghanistan unterliegt. Im nun schon seit zwanzig Jahren(!) anhaltenden Krieg scheinen die Taliban das letzte Wort zu behalten, während amerikanische und europäische Soldatinnen und Soldaten mit post-traumatischem Stress zu kämpfen haben. (Früher sprach man auch vom Golfkriegssyndrom oder von Kriegszitterern.)

Östliche Spiritualität populär

Im Westen erfreut sich übrigens trotz Abkehr vom Christentum die östliche Spiritualität großer Beliebtheit. Buddhabilder sind zum Marketingsymbol geworden. Die meditierenden Figuren - oder auch der Elefantengott Ganesha - bevölkern so manchen Garten, wo früher Zwerge standen. Das ist nicht unbedingt neu, man denke nur an die Theosophie (v.a. 19 Jh.), die auch die bis heute verbreitete Anthroposophie prägte.

Vor ein paar Jahrzehnten pilgerten scharenweise Hippies nach Indien, im VW-Bus oder per Anhalter, übrigens durch Zonen, die inzwischen Kriegsgebiet sind. Der moderne Pilger setzt sich natürlich ins Flugzeug, sucht aber immer noch den Sinn des Lebens im fernen Asien. Bis der Corona-Bruch kam, ging es um dutzende Millionen Touristen pro Jahr, Tendenz steigend.

In Deutschland war und ist der tibetanische Buddhismus sehr beliebt (Ab ins Nirwana?). Man identifizierte sich mit dem vertriebenen Völkchen aus den Himalajas, wo schon Naziforscher die Arier suchten. TP-Autor Marcus Hammerschmitt hinterfragte diesen buddhistischen schönen Schein schon 1999 in seinem Buch "Instant Nirwana. Das Geschäft mit der Suche nach dem Sinn".

Nur mal so gefragt: Würden wir es katholischen Herrenclubs zugestehen, kleine Knaben aus ihren Familien zu holen, um sie unter sich im Kloster aufzuziehen? Schlicht mit der Begründung, weil sie in dem Jungen die Reinkarnation ihrer alten Freunde wiederzuerkennen glauben. Im tibetanischen Club scheint uns das ebenso wie die fragwürdige Stellung der Frau plötzlich viel weniger zu stören.

Wissen schafft

Das hier sei als kurze Einführung gedacht, dass Religion nicht bloß ein Phänomen aus dem Geschichtsbuch ist - sondern den Alltag vieler Milliarden(!) Menschen nach wie vor prägt. Im Westen sind nun viele stolz auf die Wissenschaft, die manche Denker übrigens auf den griechischen Gott Apollo zurückführen, für den es im indischen Pantheon keine Entsprechung gibt. Ist Wissenschaft ein Ersatz für Religion? Etwas völlig anderes? Kann Wissenschaft die Menschheit endlich von altem Aberglauben befreien?

Es überraschte mich, dass meine Studierenden (der Psychologie) über viele Jahre hinweg "Wissenschaft und Religion" zur Sprache brachten, wenn ich ihnen eine freie Themenwahl gab. Dass das die Jugend von heute umtreibt, wäre mir nicht im Traum eingefallen.

Aber auch in der Blogosphäre leistet man sich bis heute Grabenkämpfe: In der Terminologie Richard Dawkins' stehen auf der einen Seite die Schlauen (engl. Brights), die wissen wollen, dass die Welt in Wirklichkeit nur aus Elementarteilchen und Elementarkräften besteht. Und auf der anderen Seite die Übers (engl. Supers), die auch von einer übernatürlichen Sphäre ausgehen, die der (Natur-) Wissenschaft prinzipiell verschlossen bleibe.

Ich persönlich hielt die folgende, sechsteilige Serie für "zu philosophisch" für Telepolis. Auf Wunsch der Redaktion bereite ich die zuvor in meinem Blog erschienenen Texte aber gerne noch einmal auf. Zu meiner Überraschung rief die Serie dort von Mitte Januar bis Ende März 2021 über 3.500 Kommentare hervor. Das wird auch daran liegen, dass vielen Menschen im Lockdown andere Beschäftigungen fehlen.

Aber das Eingeschlossensein bietet auch eine Chance für die Beschäftigung mit Fragen jenseits des Alltagsgeschehens. Die folgenden Texte sind im Wesentlichen philosophisch, mit einem Hauch Wissenschaftstheorie, Religionswissenschaften und Religionssoziologie. Alle Leserinnen und Leser sind herzlich dazu eingeladen, ihre Gedanken und eigenen Perspektiven im Forum mit den anderen zu teilen.

Die Serie

Ich werde mit einigen Definitionsvorschlägen zu bestimmten Standpunkten in der Philosophie Beginnen: Materialismus und Reduktionismus. Der Unterschied zwischen Ontologie (Aussagen darüber, "wie die Welt wirklich ist") und Epistemologie (Aussagen darüber, was wir erkennen/wissen können) wird für die gesamte Serie wichtig bleiben.

Im zweiten Teil werden wir uns den Begriff der Erklärung genauer anschauen und ein paar Alltagsbeispiele betrachten. Das ist insofern relevant, als sich im 18./19. Jahrhundert die Meinung verbreitete, man brauche jetzt Religion beziehungsweise Gott nicht mehr zum Erklären der Welt. Im dritten Teil kommen wir auf die Position des Naturalismus und noch einmal den Unterschied zwischen Ost und West zu sprechen.

Im vierten Teil betrachten wir Untersuchungen zur Verbreitung religiöser Überzeugungen unter (Natur-) Wissenschaftlern. Im fünften Teil ziehe ich ein Zwischenfazit und im sechsten und letzten Teil beschäftige ich mich intensiver mit dem Rätsel Bewusstsein. Ich wünsche Ihnen vor allem viel Spaß und würde mich freuen, hier und dort einen Gedankengang anzuregen.