Ab ins Nirwana?
Welche Bedeutung kann der buddhistischen Lehre in einer westlichen Kultur zukommen?
Schenkt man der Darstellung in den Medien Glauben, dann hat kürzlich ein Popstar von Weltrang für zehn Tage Deutschland bereist. Von einem „Gottkönig“, einem „Gott zum Anfassen“, vom „Hype in Orange“ war die Rede. Ein Riesenevent, der so riesig gar nicht war, wenn man ihn sich vor Ort anschaute. Bei aller Konzentration auf die Person des Dalai Lama wurde der eigentliche Inhalt der buddhistischen Lehre in den Medien kaum beachtet. Dabei ist diese Frage von entscheidender Bedeutung, wenn man verstehen will, was die östliche Philosophie und Religion des Buddhismus, der angeblich bereits über 250.000 Deutsche folgen, für uns im Westen bedeuten kann. Dabei werden einerseits romantische Idealisierungen deutlich, denen manche der neuen Buddhismus-Fans unterliegen. Andererseits mag sich uns eine alte Weisheit erschließen, die in unserem heutigen Leben unter den Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie ihre Wirkung entfaltet.
Auch wenn buddhistisches Gedankengut schon im 18. und 19. Jahrhundert von deutschen Denkern aufgegriffen wurde, so ist der aktuelle Hype anlässlich des Besuches des Dalai Lama in Deutschland doch vor allem eins: von den Medien gemacht. Schenkt man diesem medial vermittelten Bild Glauben, so haben wir es hierzulande mit den buddhistischen Schulen neben evangelischer und katholischer Kirche und vielleicht noch dem Islam bald mit einer weiteren großen Glaubensgemeinschaft zu tun. Tatsächlich war die fünftägige Hauptveranstaltung des Dalai Lama im Tennisstadion am Rothenbaum in Hamburg bei weitem nicht ausverkauft. Mit täglich 6.000 bis 7.500 Teilnehmern aus 32 Ländern ist jeweils ein Drittel bis ein Viertel der 10.000 Plätze frei geblieben. Verglichen mit dem Ansturm auf den alljährlichen Kirchentag oder auch nur dem Besuch eines Popkonzertes muten diese Zahlen eher bescheiden an.
Unklar ist weiterhin, wie man die im Auftrag des Spiegel durchgeführte Umfrage verstehen soll, welche die Vorbildfunktion des Dalai Lama mit der des Papstes Benedikt verglich. Auf ihre Ergebnisse haben sich eine Reihe von Berichten berufen und sie dabei sehr einseitig interpretiert.
Die genaue Frage lautete: „Immer wieder werden der Dalai Lama und Papst Benedikt als Vorbilder für Jugendliche genannt. Wer wäre für Sie ein Vorbild?“ Von den Befragten entschieden sich 44% für den tibetischen Lehrer, 42% für das katholische Oberhaupt, 10% wussten es nicht (die restlichen 4% machten schlichtweg keine Angabe)1. Eine andere Person zu benennen war jedoch nicht möglich, sodass Menschen, die den Papst nicht befürworten, ganz gleich ob Protestanten, Katholiken, Muslime oder Konfessionslose, kein alternatives Vorbild wählen konnten. Aus diesen Antworten kann man jedoch nichts über die Beliebtheit der Weltreligionen Buddhismus und Christentum in Deutschland ableiten. Dafür hätte man eher fragen sollen, ob Jesus Christus oder Gautama Buddha den Befragten ein religiöses Vorbild ist. Oder warum nicht gleich die Studienteilnehmer befragen, welche der zahlreichen Religionen man am besten findet?
Verpackung ohne Inhalt?
Viel wichtiger als die Frage, welcher Lehrer den medialen Wettbewerb um die Beliebtheit gewinnt, ist für uns im Westen, was wir mit dem Inhalt der entsprechenden Lehren anfangen können. Für den Buddhismus von großer Bedeutung sind hier die so genannten „vier edlen Wahrheiten“. Ihnen zufolge ist unser Dasein von Leiden geprägt. Dieses Leiden sei weiterhin von bestimmten Ursachen abhängig, etwa unserer Unwissenheit, mangelnder Disziplin und negativen Geisteshaltungen. Indem man diese Ursachen beseitige, sei es möglich, dem Leiden ein Ende zu bereiten, wofür der historische Buddha schließlich einen Weg der Befreiung lehrte2.
Um darüber hinaus die Bedeutung spiritueller Rituale zu verstehen, wie es sie vor allem in der tibetischen Ausprägung des Buddhismus in Form von Visualisierungen, Niederwerfungen und anderen Praktiken in großer Zahl gibt, ist ein Austausch mit einer religiösen Gemeinschaft, die genügend Erfahrung und Expertise besitzt, unerlässlich. Nun gibt es zwar in Deutschland einige buddhistische Gruppen – ihre Zahl wird inzwischen auf über 600 geschätzt –, doch bleibt offen, wie viele davon den umfassenden kulturellen Hintergrund vermitteln können, der für das richtige Verständnis der religiösen Rituale notwendig ist. Außerdem muss erwähnt werden, dass die buddhistische Landschaft keineswegs so homogen ist, wie es eine Fokussierung auf den Dalai Lama den Anschein erweckt. Tatsächlich gibt es zwischen den zahlreichen verschiedenen Schulen mitunter größere Unterschiede als etwa zwischen evangelischer und katholischer Glaubensgemeinschaft.
Betrachten wir ein konkretes Beispiel: Jemandem, der sich für den Buddhismus interessiert und in einer tibetisch orientierten Gruppe landet, könnte an einem Praxistag die „Grüne Tara“ begegnen. Diese ist ein weiblicher Buddha – man verehrt nämlich im tibetischen Buddhismus nicht nur den historischen Gautama Buddha, sondern eine ganze Reihe anderer Buddhas –, der die Eigenschaft besitzen soll, Hilfe in der Not zu spenden. Auf einer farbigen Abbildung, dem so genannten Mandala, sieht man die Grüne Tara auf einem Lotusthron sitzen, eine personifizierte Ikone, in beiden Händen eine Lotusblüte haltend. Im ersten Schritt der Praxisübung würde es darum gehen, sich diese Figur bildlich mit so vielen Details wie möglich vorzustellen. Das nennt man eine Visualisierungsübung. Gleichzeitig soll womöglich immer wieder ein Mantra aufgesagt werden, das ist ein bestimmter tibetischer Vers, der zu diesem Buddha gehört und bestimmte seiner Eigenschaften anspricht oder einfach zu seiner Ehre gedacht ist.
Gläubige Menschen mögen davon ausgehen, dass durch diese Visualisierung des Mandalas und die Rezitation des Mantras der weibliche Buddha in einer bestimmten Form realisiert wird, also Wirklichkeit annimmt. Besonders weit Fortgeschrittene werden sogar sich selbst als diesen Buddha vorstellen, um die von ihm verkörperten positiven Eigenschaften in sich zu verwirklichen. Doch was genau bedeutet die Visualisierung? Und was kann es heißen, einen Buddha zu realisieren, sich selbst in seiner Form vorzustellen? Man mag das freilich als eine Geistesübung auffassen, die einem bestimmten Zweck dient, hier der Hilfe in der Not. Bei dieser Verkürzung geht dann aber die tiefere spirituelle Bedeutung verloren.
Noch schwieriger lässt sich diese Übung verstehen, wenn man bedenkt, dass die Grüne Tara von zahlreichen weiteren Taras begleitet wird, die auch auf dem Mandala um sie herum abgebildet sind; mehr als zwanzig sind es an der Zahl. Jede dieser Neben-Taras könne verwendet werden, heißt es, um sich von einer bestimmten Furcht zu befreien oder gar eine konkrete Gefahr abzuwenden. So gibt es etwa die Tara, die aus Gefangenschaft befreien soll, oder auch die Tara, welche die Furcht vor wilden Elefanten nehmen soll. Der Sinn dieser Geistesübung lässt sich vielleicht mit einem Blick auf die Geschichte der tibetischen Kultur erahnen, in der willkürliche Gefangenschaft und wilde Elefanten existenzielle Bedrohungen gewesen sein mögen. Was es für uns heute im Westen aber bedeuten kann, einen Buddha-Aspekt zu realisieren, der vor Gefangenschaft oder wilden Elefanten schützt, das lässt sich nicht ohne Weiteres verstehen. Vielleicht kann man sich seinen Chef als wilden Elefanten vorstellen und ihm gegenüber durch diese Übung eine andere Geisteshaltung entwickeln?
Ähnlich mag es uns ergehen, wenn wir die Unterweisungen des Dalai Lama hören, in denen es heißt, der menschliche Körper sei förmlich ein wandelnder Kotbehälter. Zwar ließe sich auch dies wieder in dem Sinne psychologisch deuten, dass damit Mönchen und Nonnen die Lust nach Körperlichem genommen werden soll, doch sind die dahinter stehenden philosophischen Überlegungen viel komplexer als das. Der eigentliche Gedanke ist, dass der Körper stets Wandlungen unterliege, bis er schließlich zu einem Leichnam werde. Außerdem würde in ihm, indem man beispielsweise durch Nahrung reine Dinge zu sich nehme, Unreines entstehen. Es sei deshalb unverständlich, den Ort zu verehren, an dem alle reinen Dinge ihr Ende nähmen3. Ein Schlag ins Gesicht für die Anhänger unseres hiesigen Körperkults.
Dass es um unser Verständnis des Buddhismus nicht so gut bestellt ist, das wird vor allem aber dann klar, wenn man den buddhistischen Gedanken der Wiedergeburt betrachtet. Es ist mehr als nur ein bisschen paradox, wenn wir im Westen in ihm einen Trost sehen, da er beinhalte, dass unsere von uns selbst so hoch geschätzte Person auch mit dem Tod nicht enden werde. Diese Hoffnung ist in gleich zwei Weisen völlig verfehlt, da erstens für den Buddhisten gerade das Unterworfensein unter den Daseinskreislauf, die Wiedergeburt in einem der sechs Daseinsbereiche – im Reich der Götter, dem der Halbgötter, in der Sphäre der Menschen oder derjenigen der Tiere sowie im Bereich der Hungergeister oder schließlich einer der sechs Höllen –, das Leiden unserer Existenz ausmacht4. Zweitens ist es eine naive und völlig unzutreffende Vorstellung der Wiedergeburt, wenn wir davon ausgehen, man selbst werde als die Person, die man nun ist, ein weiteres Leben (oder vielmehr: unendlich viele bis zur Befreiung) geschenkt bekommen. Was da wiedergeboren werde, sei nämlich lediglich eine sehr subtile Form unseres Bewusstseins, die uns außerhalb tiefster Meditation verborgen bleibe.
Auch wissenschaftlich offene Buddhisten wie der Dalai Lama würden zugestehen müssen, dass viele, wenn nicht sogar alle unserer Charaktereigenschaften, die für uns Westler das „Ich“ ausmachen, an unser hier und in dieser Welt ausgeprägtes Gehirn, den Körper und unsere sozialen Beziehungen gebunden sind. Dass die Aktivität des Gehirns und des Körpers im Tod endet, das würden auch die meisten Buddhisten nicht bestreiten. Insofern ist es unbegründet, unter Berufung auf diese Lehre die Hoffnung zu hegen, sein „Ich“ werde zahlreiche weitere Existenzen erfahren. Dieser vermeintliche Trost ist nicht mehr als eine Selbsttäuschung, die auf einem oberflächlichen aber falschen Verständnis der Lehre beruht. Das tatsächliche Objekt der Wiedergeburt, der von manchen besonders weit fortgeschrittenen buddhistischen Praktizierenden erfahrene subtilste Bewusstseinsstrom, ist Nicht-Eingeweihten nämlich verborgen5. Es dürfte genauso schwer sein, sich die Existenz eines derartigen Bewusstseinsstroms vorzustellen, der letztlich nicht ans Gehirn gebunden ist, wie die Existenz einer immateriellen Seele, die mit dem Körper in Wechselwirkung steht und über seinen Tod hinaus fortbesteht.
Realität oder romantische Idealisierung?
Wenn man leichtsinnig und aufgrund eines oberflächlichen Verständnisses zum buddhistischen Glauben wechselt, dann birgt das nicht nur die Gefahr einer spirituellen Entfremdung, sondern auch ganz konkrete existenzielle Risiken. So besteht einer der Kernaspekte sämtlicher Religionen in ihrer Deutung des Todes und der Art und Weise, wie sie Menschen damit umzugehen anleiten. In unserem Kulturkreis hat das dazu geführt, dass es an förmlich allen Orten, wo Menschen sterben, eine institutionalisierte Form der spirituellen Sterbebegleitung gibt – meistens in der Form christlicher Seelsorger. Wer zum buddhistischen Glauben konvertiert, sollte sich daher auch klar machen, dass es für seine Weltanschauung hierzulande meistens keine institutionalisierte Begleitung in der letzten Not gibt. Dies erst auf dem Sterbebett feststellen zu müssen, könnte zu einer großen Verwirrung führen.
So berichtete auch der Dalai Lama von dem Fall einer Frau, die einst zum Buddhismus konvertiert sei. Als sie dann sterbenskrank geworden sei, habe sie wieder den christlichen Glauben angenommen und man habe gar nicht gewusst, in welcher Tradition sie nun zuhause sei. Wir können jedenfalls davon ausgehen, dass christliche Seelsorger uns am Kranken- und Sterbebett nicht die buddhistischen Dharma-Übungen vermitteln werden, wie sie beispielsweise dem Tibetanischen Totenbuch, dem Bardo Thödröl, zufolge vorgenommen werden sollen – von begleitenden tibetischen Lehrern und den Angehörigen übrigens über den Tod des Körpers hinaus, um eine bessere Wiedergeburt oder gar posthum, wie man westlich sagen würde, eine Erleuchtung zu bewirken6. Im hier vorhandenen Verwandten- und Freundeskreis könnten diese Praktiken hingegen auf starke Ablehnung stoßen. Ohne die nötige spirituelle Unterstützung könnte in einer derartigen Extremsituation die Gefahr bestehen, aus Angst und Unsicherheit heraus den für das Leben eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen und in seinen letzten Momenten zur christlichen Weltsicht zurückzukehren. Ob das zu einem guten Geisteszustand führt, in dem man diese Welt verlässt, sei dahingestellt. Die Konsequenzen eines Übertritts in den anderen spirituellen Kreis sind also nicht zu unterschätzen und mögen uns nur von der Perspektive unseres jetzigen Wohlstandes aus und in Gesundheit nicht klar sein. Vielleicht empfiehlt auch deshalb der Dalai Lama uns Westlern, doch bei unseren eigenen Traditionen zu bleiben.
Dass wir bei unserem Verständnis der östlichen Tradition des Buddhismus eigenen Projektionen und Hoffnungen bar jeder Rechtfertigung unterliegen, das wird nicht nur am häufigen Missverständnis der Wiedergeburt, sondern auch an der romantischen Idealisierung der buddhistischen Geschichte deutlich. Zwar ist es zutreffend, dass der Dalai Lama in seinen Reden und Schriften am Weg des Friedens und der Gewaltlosigkeit festhält; doch gab es sogar zu den Zeiten seiner Herrschaft in Tibet monastische Machtkämpfe und Willkür buddhistischer Äbte. Wenn man sich klar macht, wie etwa die buddhistischen Shaolin-Mönche, durch härteste Disziplin und Übungen zu perfekten Kampfmaschinen trainiert, im Auftrag des chinesischen Kaisers dabei halfen, Bauernaufstände niederzuschlagen7, dann wird deutlich, dass der Buddhismus ebenso wie auch das Christentum in seiner Geschichte blutige Episoden aufweist.
Als mindernde Umstände lässt sich hier nicht anführen, dass sich diese Mönche durch ihren Glauben daran gehindert sahen, Waffen wie Speere oder Schwerter zu tragen. Durch ihre harte Kampfausbildung waren sie nämlich bloß mit Stöcken oder einfach mit ihren Händen und Füßen tödliche Gegner. Es heißt, im Kampf gegen rebellische Bauern sei nicht einer von ihnen umgekommen. Auch findet man in den japanischen Samurai eine Kriegerkaste, die buddhistische Praktiken dazu benutzte, ihren Kriegergeist zu perfektionieren und etwa durch Zen-buddhistische Meditation der Leerheit die Angst vor dem Tod zu überwinden und die Geistesklarheit zu verfeinern – letztlich mit dem Ziel, besser töten zu können8.
Es scheint fast so, als würde sich jede Kultur aus einem Glaubenssystem das heraussuchen, was ihr am meisten nutzt. Um nicht in romantische Schwärmerei zu verfallen, ist es aber wichtig, ebenso wie der christlichen Tradition gerne die grausamen Episoden ihrer Geschichte vorgeworfen werden, sich auch mit der gewaltsamen Vergangenheit – und Gegenwart – des Buddhismus auseinander zu setzen. Mit Blick auf die Gegenwart erzählte der Dalai Lama von einer buddhistischen Sekte, die ihm nach dem Leben trachte. Diese Anhänger eines bestimmten Schutzgeistes würden außerdem Gläubige anderer buddhistischer Strömungen unter Druck setzen und ihnen beispielsweise damit drohen, ihr Schutzgeist werde sie Schlechtes widerfahren lassen, wenn sie ihre abweichenden religiösen Schriften nicht weggäben. In den 1990er Jahren habe es sogar Attentate im engsten Umfeld des Dalai Lama in seinem Kloster in Dharamsala gegeben, die von dieser buddhistischen Sekte initiiert worden seien.
Achtsamkeit und die Aufmerksamkeitsökonomie
Wenn es nicht so ohne weiteres möglich ist, eine Form des Buddhismus inklusive seiner Rituale und seines traditionellen Kontextes zu übernehmen, dann bleibt die Frage, ob wir etwas mit dem Kern seiner Lehre, dem Dharma, in unserer westlichen Gesellschaft anfangen können. Der Dharma widmet sich der existenziellen Problematik, der wir in unserem Leben ausgeliefert sind und bleibt damit auch heute, nach mehr als 2.000 Jahren, vielleicht noch aktuell.
Wie wir gesehen haben, ist da vor allem die Tatsache des Leidens zu nennen, die unser Dasein charakterisiere. Man könnte auch biologisch sagen, dass unsere Körper nicht zum Glücklichsein optimiert und wir ewig in dieser hedonistischen Tretmühle gefangen sind, das heißt, für jedes Glücksmoment große Anstrengungen unternehmen zu müssen; und wenn wir uns mühsam einen derartigen Zustand erarbeitet haben, geht er von selbst wieder vorbei, ehe wir es uns versehen. Auch die aktuelle psychologische Forschung stützt, dass unser Glück, sei es bedingt durch eine Gehaltserhöhung9 oder einen Umzug ins sonnige Kalifornien10, nur von kurzer Dauer ist und wir uns schon bald an die besseren Umstände gewöhnt haben. Wir wissen, dass selbst Millionäre und Stars, denen es nach der kapitalistischen Logik an nichts mangeln dürfte, in Persönlichkeitskrisen geraten, Drogen oder anderen Süchten verfallen und in ihrem Ruhm und Reichtum keinen Lebenssinn finden.
Dem Dharma zufolge besteht nun eine der wesentlichen Aufgaben darin, die Unwissenheit zu beseitigen, die uns daran hindere, die wahren Ursachen für unser Leiden wahrzunehmen. Hier seien vor allem die Täuschungen zu erwähnen, denen wir ständig unterlägen: Dass wir beispielsweise glaubten, dieser oder jene Besitz, diese oder jene Ergänzung unseres Selbst, dieses oder jenes Festhalten an etwas, so wie es uns auch ständig die Werbung vorspiegelt, werde uns glücklich machen und unser Leiden vermindern. Täglich können wir erleben, dass dem nicht so ist, dennoch verweilen wir in der hedonistischen Tretmühle. Erst dann, wenn diese Ursachen erkannt seien, so der Dharma weiter, könne man auch die nötigen Schritte unternehmen, um sie zu beseitigen. Es handelt sich also um eine Lehre der Befreiung, die darauf abzielt, durch Achtsamkeit und Meditation diejenigen Geisteshaltungen in uns selbst zu erkennen und schließlich zu beseitigen, die angeblich für unser Leiden verantwortlich sind.
Hierin könnte der größte Nutzen der buddhistischen Lehre für uns bestehen, dass wir uns durch Übungen diejenigen motivierenden Faktoren bewusst machen können, denen wir in unserem Denken und Handeln unterworfen sind. Insbesondere ergibt sich an dieser Stelle auch ein Anknüpfungspunkt an die moderne Hirnforschung, die uns vermuten lässt, dass wir häufig aus anderen Motiven heraus handeln, als wir selbst glauben, dass es Einflussfaktoren in unserem Bewusstsein gibt, die nicht unserer bewussten Steuerung unterliegen, wenn es heißt: „Die meisten der Strebungen und Motive, die uns letztlich dazu gebracht haben, etwas Bestimmtes und nicht anderes zu tun, bleiben uns verborgen.“11 Ein Gedanke, den übrigens auch schon Arthur Schopenhauer formulierte, der wiederum einer der frühen Denker war, die sich mit dem Buddhismus beschäftigt haben. Auch wenn man einmal die metaphysische Diskussion um die Willensfreiheit beiseite lässt, die in den letzten Jahren in verkürzter Weise in den Feuilletons und TV-Shows viel Aufmerksamkeit erfahren hat, kann man feststellen, dass wir in Wirklichkeit in unseren Handlungen vielleicht seltener frei sind, als wir es glauben.
Dass wir außerdem vieles erst im Nachhinein rational interpretieren, um ein zusammenhängendes Bild unseres Selbst zu erfinden, um in unserer Vorstellung der gute Mensch zu sein, für den wir uns stets halten, darin dürften die moderne Psychologie und der Buddhismus übereinstimmen. In der weiteren Deutung gehen die beiden Sichtweisen jedoch auseinander: Psychologisch gesprochen würde man hier von der Vermeidung kognitiver Dissonanz oder der Aufrechterhaltung personaler Kohärenz reden – ganz „normalen“ kognitiven Prozessen, an denen per se nichts auszusetzen sei. Im buddhistischen Sinne wären dies hingegen Täuschungen, an die wir uns klammerten, um kurzfristig eine Besserung zu erfahren, die in sich jedoch leidhafter Natur seien und deshalb langfristig viel größeren Schaden anrichteten. Im Erkennen und schließlich in der Überwindung solcher Einflussfaktoren könnten uns Dharma-Übungen Methoden an die Hand geben, die uns auch dabei helfen würden, die knappe Ressource Aufmerksamkeit zu verwalten, an der es uns in unserer gegenwärtigen Aufmerksamkeitsökonomie so mangelt. Im Gegensatz zu einer psychologischen Symptombehandlung würde es im buddhistischen Sinne um eine Beseitigung der Ursachen gehen.
Wenn man den Dharma so versteht, dann deckt er sich mit dem Aufklärungsprojekt unserer Geistesgeschichte, das seinen Anfang spätestens in der sokratischen Bewegung der griechischen Antike nahm. Das Prinzip wäre, seiner Vernunft so weit zu folgen, wie sie einen trägt – das ist der Rechtfertigungsgedanke (altgriechisch logon didonai; dt. etwa Rechtfertigung ablegen) – und dabei durch genaue Beobachtung voreilige Schlussfolgerungen zu vermeiden. Der Biologe und Philosoph des 19. Jahrhunderts Thomas Huxley bezeichnete dies als den „agnostischen Glauben“12. Entsprechend wurde der Buddhismus schon als „agnostische Religion“ bezeichnet oder der Gedanke eines Buddhismus ohne Glauben entwickelt, was nur auf den ersten Blick wie ein Widerspruch erscheint13.
Mit einem blinden Glauben an einen wie auch immer gestalteten Gott, an einen religiösen Führer wie den Dalai Lama oder auch der Projektion von Heilssehnsucht auf das geheimnisumwitterte Tibet, das es zu befreien gelte, hat diese Geisteshaltung jedoch nicht viel gemein. Es sei daran erinnert, dass der historische Buddha seine Jünger stets dazu aufrief, kritisch zu bleiben, keinen Irrlehren zu folgen, ja selbst seine eigene Lehre abzulehnen14. Vielleicht ist es das, was Herman Hesse ausdrücken wollte, wenn er in seiner indischen Dichtung den Brahmanensohn Siddharta bei seiner Begegnung mit dem Buddha erwidern lässt15:
[K]einem wird Erlösung zuteil durch Lehre! [...] Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft fortsetze – nicht um eine andere, eine bessere Lehre zu suchen, denn ich weiß, es gibt keine, sondern um alle Lehren und Lehrer zu verlassen und allein mein Ziel zu erreichen oder zu sterben.
Ethik und der Gedanke der Abhängigkeit
Wenn diese Überlegungen einen der essenziellen Bestandteile des menschlichen Daseins treffen, ein Wesensmerkmal der conditio humana, was jeder letztlich für sich selbst beurteilen muss, dann bleibt die Frage, was mit dieser Erkenntnis angefangen werden kann. Was bleibt zu tun, wenn vieles in unserem Denken von Faktoren abhängt, die wir in unserem normalen Geisteszustand nicht selbst steuern können, die wir überhaupt nur durch intensives geistiges Training erkennen und nur bedingt beeinflussen können? In unserem Alltag, im Mikrokosmos des Einzelnen ebenso wie im Makrokosmos der Weltpolitik, könnten wir versuchen, ganz im Sinne des Buddhismus in unseren Konkurrenten und Gegnern nicht so sehr den Feind zu sehen, sondern den Menschen, der genauso wie wir nach Glück strebt und den Leiden unserer menschlichen Daseinsform unterworfen ist, der genauso aus Unwissenheit handelt wie wir und mit seinen derart motivierten Handlungen Leid erzeugt.
Es würde sich dann ein ethisches Prinzip der Menschlichkeit anbieten, das beinhaltet, den anderen wenigstens nicht zu schaden, wenn wir ihnen schon nicht aktiv Gutes tun können, was auch die buddhistische Ethik in ihrem Kern trifft16. Dieser Gedanke deckt sich ebenfalls mit der Idee der Menschenwürde unseres Grundgesetzes in Artikel 1 Absatz 1, das uns in Absatz 2 ausdrücklich mahnt, ihre Einhaltung nicht nur auf deutschem Boden zu gewährleisten, sondern die Menschenrechte „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“ anzuerkennen.
In einer Zeit der bewaffneten Konflikte, der Kriege, des Terrors und Gegenterrors kommt diesem Denken eine besonders wichtige Rolle zu. An dem Aufkeimen internationaler Konflikte, wie auch bei Konflikten in unserem zwischenmenschlichen Leben, wird uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, wie sehr unser eigenes Wohlbefinden auch vom Wohl anderer abhängt. Die Abhängigkeit aller Phänomene und damit auch unserer Geisteshaltungen von anderen Faktoren ist wiederum ein buddhistischer Kerngedanke. Eine derart durch Einsicht motivierte Form des Respekts anderen gegenüber könnte womöglich mehr Gutes bewirken und mehr Leiden vermeiden, als den „Gott zum Anfassen“ zu verehren, der für zehn Tage unser Land besuchte, oder Riten zu praktizieren, deren Bedeutungen uns an der Oberfläche verborgen bleiben.