Wissenschaft und Religion: Konflikt oder Kooperation?

Seite 2: Begriffliches

Wenn man Phänomene wie Bewusstsein oder Willensfreiheit aber auch Positionen ("Ismen") wie Materialismus, Naturalismus oder Dualismus diskutiert, dann sollte zumindest grob klar sein, worüber man spricht. Andernfalls produziert man vielleicht viele Worte, redet aber aneinander vorbei und nicht miteinander.

Zum Materialismus beziehe ich mich auf ein Lehrbuch der niederländischen Philosophen Sacha Bem und Huib Looren de Jong, das ich selbst jahrelang in meiner universitären Lehre verwendet habe - bis uns übrigens der Verlag den Stecker für die Online-Ausgabe gezogen hat, wohl um eine neue Printausgabe besser zu verkaufen. Jedenfalls definieren die beiden die Position so (in deutscher Übersetzung):

"Materialismus: Eine metaphysische Doktrin in der Philosophie, dass alles in der Welt und alle ihre Entitäten und Phänomene, einschließlich psychologischer Phänomene, Manifestationen raumzeitlicher Materie sind."

Danach erklären sie, dass man diese Position in mehr oder weniger starker Weise vertreten kann:

"Es gibt starke und mehr oder weniger schwache Varianten. Die starken Varianten implizieren Reduktionismus: Mentale Phänomene müssen als Manifestationen von körperlichen oder Gehirnprozessen gesehen werden und müssen wissenschaftlich auf diese Prozesse reduziert werden." (Bem & de Jong (2006), S. 277; dt. Übers. d. A.)

Reduktionismus

Reduktionismus äußert sich oft in Aussagen der Form:

"Wir verwenden heute zwar psychologisches Vokabular - etwa, dass wir an etwas denken oder etwas fühlen - aber in Wirklichkeit handelt es sich hierbei nur um Gehirnprozesse, die in zukünftiger Forschung genauer identifiziert werden."

Man stellt sich das also so vor, dass die Alltagssprache und auch die Wissenschaftssprache von Psychologie und Kognitionswissenschaft in eine Sprache über Nervenzellen und ihre Aktivitäten überführbar ist.

Es gibt dann noch unterschiedliche Meinungen darüber, ob man nach dieser Reduktion weiter das psychologische Vokabular verwenden kann, etwa aus rein pragmatischen Gründen, oder dieses eigentlich als falsch aufgegeben werden müsste. Letzteres nennt man darum "eliminativen Materialismus".

Als ich Philosophie studierte (2000-2005), war man in der Analytischen Philosophie des Geistes auf der Suche nach einem Zwischenweg: Gibt es zwischen einem starken Materialismus auf der einen Seite und einem Leib-Seele-Dualismus auf der anderen noch eine Position, die sowohl philosophisch als auch wissenschaftlich haltbar ist?

Der Dualismus unterteilt körperliche und psychische Prozesse in zwei unabhängige Seinsweisen. Dies schließt übrigens, anders als oft behauptet wird, nicht aus, dass es gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen den Seinsweisen gibt. Schon René Descartes (1596-1650) ging davon aus, dass Leib und Seele - über die Zirbeldrüse (Epiphyse) im Gehirn - nach bestimmten Regeln interagieren. Darum betrieb er auch physiologische Forschung und sezierte beispielsweise Tiere.

Nicht-reduktiver Materialismus

Doch bleiben wir bei der Suche nach dem Zwischenweg: Solche Positionen nennt man in der Regel nicht-reduktiven Materialismus. Damit räumt man zwar der Materie eine Vorrangstellung ein, will aber auch zum Ausdruck bringen, dass - zumindest in einem bestimmten Sinn - nicht alles Materie ist. Hier sollte man zwei Ebenen unterscheiden: die der Erklärung (epistemisch) und die des Seins (ontologisch). Was bedeutet das?

Man muss sich bewusstmachen, dass unser Zugang zur Welt - sofern wir nicht direkt etwas sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen - vor allem sprachlicher Art ist. Wohlgemerkt: Es kann also einen Unterschied zwischen dem geben, was grundlegend und wirklich ist, und dem, was wir beschreiben und erklären können.

Auch Wissenschaftler bedienen sich nach wie vor der Sprache, um ihre Ergebnisse und Theorien zu formulieren und mit anderen auszutauschen, anstatt sie etwa zu tanzen oder zu malen. Natürlich können aber (eher bildliche) Illustrationen und Animationen eine Rolle spielen.

Beschreibung und Welt

Genau an dieser Stelle wird der genannte Unterschied zwischen der epistemischen und der ontologischen Ebene bedeutsam: Vielleicht können wir nicht alles beschreiben und erklären, was ist. Dann könnte es sein, dass zwar alles in der Welt materiell ist, sich aber nicht so formulieren lässt, als ob es materiell wäre.

Das heißt nun im Umkehrschluss, dass es zwei Interpretationsweisen gibt, wenn sich etwas nicht materialistisch (will heißen: als ob es Materie ist) beschreiben lässt: Entweder ist das, was beschrieben werden soll, wirklich nicht materialistisch; oder es sieht, salopp gesagt, nur so aus.

Dieser Unterschied ist bedeutsam, weil er uns die Grenzen unseres Erkenntnismittels, unserer Sprache, vor Augen führt. Wir sollten nie vergessen, dass Beschreibung und Welt zwei verschiedene Ebenen sind, so wie ein Wort, ein Begriff, ein Name nicht dasselbe ist wie das Phänomen, das damit beschrieben werden soll.

Der junge Ludwig Wittgenstein (1889-1951) merkte an, dass die Grenze seiner Sprache die Grenze seiner Welt bedeutet (Tractatus, §5.6). Und Friedrich Nietzsche (1844-1900) kritisierte, dass wir - auch in der Wissenschaft - oftmals die Begriffe mit den Phänomenen verwechseln (Fröhliche Wissenschaft, §58).

Ich sehe das so wie Nietzsche und halte Diskussionen wie die um Materialismus und Reduktionismus für gute (also kritikwürdige) Beispiele für seinen Punkt: Man streitet sich so sehr um Begriffe, dass man die Phänomene aus den Augen verliert. Wittgenstein würde ich widersprechen, dass uns jenseits der Sprache die direkte Erfahrung bleibt - nur können wir das so Erfahrene eben nicht oder nur eingeschränkt mit anderen teilen: mit-teilen.

Seit jeher bezeugen die Poeten aller Kulturen die Schwierigkeit der sprachlichen Vermittlung unserer Erfahrungen. Vergessen wir aber nicht, dass empirisch in "empirische Wissenschaft" auf das verweist, was erfahren - und etwa nicht nur aufgrund von Überlieferung geglaubt - werden kann. Erfahrung steht also in der (Natur-) Wissenschaft zentral.

Sein und Schein

Im Übrigen ist aber selbst die direkte Erfahrung leider kein Garant dafür, dass die Welt auch grundlegend und wirklich so ist; denn schließlich können wir ja nur das erfahren, was für uns erfahrbar ist, das heißt, wofür wir die nötigen Erkenntnismittel haben. Schon Immanuel Kant (1724-1804) nannte hier Kategorien unseres Verstandes - wie Einheit und Vielheit oder Ursache und Wirkung -, anhand derer wir die Welt erkennen. Und ich wüsste nicht, wie man an seiner Einsicht vorbeikäme, auch wenn ich die Kategorien vielleicht anders nennen würde.

Man stelle sich vor, dass man alles durch eine rote Folie sieht: Dann sieht alles rot aus, was aber an der Folie liegt und nicht an den Dingen. Um die Welt so wahrzunehmen, wie sie grundlegend und wirklich ist, müsste man sie ohne jegliche Folie sehen können. Wie soll das aber gehen?

In der Diskussion des Körper-Geist-Problems sagt man noch heute:

"Wäre das Gehirn so einfach, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir zu dumm, um es wirklich zu verstehen."

Auch wenn dieser Satz vielleicht keine tiefe philosophische Wahrheit ausdrückt, erinnert er uns daran, dass unsere Erkenntnis zwingend von unseren Erkenntnismöglichkeiten abhängt: Wir können uns, wenn überhaupt, nur von unserem Standpunkt aus und nicht jenseits von uns selbst verstehen.

Im zweiten Teil ziehen wir eine (definitorische) Zwischenbilanz und beschäftigen uns ausführlicher mit dem nichtreduktiven Materialismus sowie der wissenschaftlichen Erklärung von Alltagsphänomenen. (Und Leser, die sich an dem Gedanken stören, alles solle Materie sein, bitte ich noch um etwas Geduld. Das ist zum Teil einem historischen Sprachgebrauch geschuldet. Aber diskutieren Sie ruhig schon einmal darauf los.)

Literatur:

Bem, S. & de Jong, H. L. (2006). Theoretical Issues in Psychology: An Introduction. Sage.