Reduktionismus und die Erklärung von Alltagsphänomenen

Teil 2 der Serie über Bewusstsein, Philosophie, Religion und Naturwissenschaft

Im ersten Teil (Wissenschaft und Religion: Konflikt oder Kooperation?) gab es eine allgemeine Einführung in das Thema Wissenschaft und Religion. Wir haben uns darin auch mit ein paar grundlegenden Gedanken der Erkenntnistheorie beschäftigt.

Im zweiten Teil der Serie über Bewusstsein, Philosophie, Religion und Naturwissenschaft beschäftigen wir uns genauer mit dem Standpunkt des Reduktionismus und schauen uns dann wissenschaftliche Erklärungen von Alltagsphänomenen an: nämlich willentlichen Körperbewegungen und Glätte.

(K)ein Zwischenweg

Im ersten Teil sind wir beim nicht-reduktiven Materialismus stehengeblieben. Bei diesem schwächeren Materialismus lässt man die Möglichkeit offen, dass aus materiellen Strukturen Eigenschaften oder Phänomene entstehen können, die selbst nicht materialistisch beschrieben (und in diesem Sinne nicht auf Materie reduziert) werden können. Psychische Vorgänge wie Gedanken, Wünsche, Pläne, Absichten, Eindrücke und Gefühle könnten hierfür Paradebeispiele sein.

Nun wissen wir, dass aus der Unmöglichkeit so einer Beschreibung nicht zwingend folgt, dass diese Vorgänge auch wirklich nicht-materialistisch sind: Wir können hier nicht von der Beschreibung auf die wirkliche Welt, vom Schein auf das Sein schließen. Das ist auch die Quintessenz des erstens Teils.

Philosophen wie Jaegwon Kim (1934-2019) haben das Projekt des nicht-reduktiven Materialismus am Ende aber aus anderen Gründen fallengelassen: Es gelang nicht, psychische Vorgänge einerseits als so selbstständig aufzufassen, dass die Position nicht doch in einen reduktiven, also starken Materialismus kollabieren würde, ohne sie andererseits aus dem (natur-) wissenschaftlichen Gefüge ausbrechen zu lassen.

Entscheidend war hierfür auch die Frage der mentalen Verursachung, also ob psychische Vorgänge etwas in der Welt bewirken können. Unter der kausalen Lupe scheint die natürliche Welt sich selbst zu genügen, auch ohne die Annahme von "etwas Geistigem". Und wieso sollte man dessen Existenz sonst annehmen, wenn es nichts in der Welt bewirken kann? Unter Philosophen gibt es das geflügelte Wort: "Wirklich ist, was wirkt!"

Mit Begriffen wie Supervenienz oder Emergenz versuchte man, die Möglichkeit eines nicht-reduktiven Materialismus auszuloten. Deren Diskussion würde hier aber jetzt zu weit führen. Ich nenne sie hier nur für diejenigen, die sich weiter in die Diskussion vertiefen möchten. Es ist Zeit für eine Zwischenbilanz.

Zwischenbilanz

Manche Leserinnen und Leser sitzen wohl schon seit einer Weile auf glühenden Kohlen und fragen sich, warum es die ganze Zeit um Materie geht. Hat man die Vorstellung, dass Materie das grundlegende Prinzip der Welt ist, nicht längst hinter sich gelassen? Vielleicht. Ich selbst arbeite eher auf dem Gebiet der Philosophie von Psychologie und Neurowissenschaften als der Physik. Dennoch kommen mir hier die Begriffe Energie oder Information in den Sinn.

Für das vorliegende Problem ist es aber nachrangig, was genau das grundlegende Prinzip der Welt ist, so lange es physikalisch ist. Die damit verbundene Position nennt man dann auch Physikalismus. Hier muss man aber im Einzelfall aufpassen, ob man ihn aufs Sein oder aufs Erklären bezieht. Sie können sich nicht vorstellen, wie häufig es in dieser Frage zu Missverständnissen kommt!

Ontologisch (wie die Welt wirklich ist) lässt sich der Physikalismus - also als Aussage, dass alles, was es gibt, physikalisch ist - wohl nie beweisen; und epistemisch (wie man die Welt erklären kann) muss man einräumen, dass wir noch nicht einmal eine Vorstellung davon haben, wie eine vollständige physikalische Beschreibung von Gedanken, Überzeugungen, Gefühlen und so weiter aussehen würde. Daran beißen sich schon die Neurowissenschaftler die Zähne aus. Erinnern wir uns daran, was 2004 elf führende Hirnforscher in dem viel zitierten Manifest hierzu schrieben:

Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als "seine" Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen plant, all dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen. Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern.

Das Manifest elf führender Hirnforscher

Das ist nun schon eine Weile her. Im letzten Teil der Serie wird es eine Aktualisierung zum Thema Gehirn und Bewusstsein geben. Bleiben wir hier noch beim Physikalismus:

Die amerikanische Metaphysikerin Barbara Montero merkte in einem Fachaufsatz mit dem treffenden Titel "The Body Problem" aus dem Jahr 1999 an, dass es bei der Diskussion des Körper-Geist-Problems nicht nur eine Herausforderung ist, das Wesen des Psychischen zu definieren. Vergleichbare Schwierigkeiten gebe es auch auf der physikalischen, körperlichen Seite. Daher das "Körperproblem", nicht zu verwechseln mit dem Dreikörperproblem.

Aufgrund meiner beschränkten Kenntnis auf diesem Gebiet kann ich hier nur sagen, dass die Philosophie der Physik sowie die Theoretische Physik voller faszinierender Herausforderungen steckt. Die Theoretische Biologie (etwa: Was ist Leben?) kennt ebenfalls Herausforderungen. Solche Beispiele relativieren die mitunter sehr vehement ausgefochtenen Diskussionen um den Reduktionismus, wenn man noch nicht einmal genau weiß, was die grundlegende Ebene der Reduktion - und damit auch der Erklärung - sein soll. Betrachten aber wir nun erst einmal ein Alltagsbeispiel:

Körper und Geist im Alltag

Heben Sie innerhalb der nächsten Minute einmal den linken Arm. Damit haben Sie übrigens schon den berühmten Versuch des Neurowissenschaftlers Benjamin Libet (1916-2007) so gut wie wiederholt.

Es geht hier nun nicht um die Frage der Willensfreiheit, die man Libet nach seinem Versuch aufgezwängt hat. (Er selbst wollte die zeitliche Dynamik von Bewusstseinsprozessen erforschen, war Dualist und ging von der Möglichkeit von Willensfreiheit aus.) Vielmehr will ich darauf hinaus, dass es beim heutigen Kenntnisstand keine vollständige, rein naturwissenschaftliche Erklärung dafür gibt, was Sie gerade gemacht haben.

Sie haben meinen Text gelesen oder ihn sich vielleicht vorlesen lassen und angehört. Dann haben Sie die Bedeutung des Satzes, innerhalb der nächsten Minute den linken Arm zu heben, verstanden. Vielleicht haben Sie sich nach ein paar Sekunden dazu entschieden, es zu tun - und die Bewegung dann ausgeführt. (Wenn ja, dann dürfen Sie ihn jetzt wieder herunternehmen.)

Reise ins Gehirn

Die kursiven Wörter im vorherigen Absatz sind alle Beispiele für psychologisch-mentales Vokabular. Natürlich gibt es nun ansatzweise Erklärungsversuche dafür, wie es möglich ist, dass Sie die Anweisung verstehen, abwägen und schließlich entscheiden. Man konnte beispielsweise bestimmte Gehirnregionen identifizieren, die für das Verstehen und ausführen so einer Aufgabe notwendig sind, etwa im unteren Frontal- und oberen Temporallappen (Sprachverständnis) sowie in den prämotorischen und motorischen Gebieten im hinteren Frontallappen (Vorbereitung und Ausführung von Bewegungen).

Aufmerksamkeit und Steuerung, sogenannte "exekutive Funktionen", die mit anderen Bereichen des Frontal- und Parietallappens in Zusammenhang gebracht werden, dürften auch eine Rolle gespielt haben. Und wenn Sie den Text gelesen, also auch gesehen haben, kommt schließlich der Okzipitallappen mit seinen visuellen Arealen dazu und ist die Großhirnrinde komplett. Beim Vorlesen lassen und Hören sollte hingegen das Wernicke-Zentrum im Temporallappen stärker aktiviert worden sein.

Fazit: Schon bei so einem einfachen Vorgang wie dem Heben des Arms auf Anweisung haben wir keine vollständige wissenschaftliche, geschweige denn naturwissenschaftliche Erklärung, sondern bestenfalls nur eine Blaupause dafür, wo man ansetzen könnte. Jeder von uns kann sich beliebig komplexere Beispiele ausdenken.

So las ich vor Kurzem etwa in einem Buch, dass kriegstraumatisierte Männer häufiger Potenzprobleme haben. Laut einer Studie in einer medizinischen Fachzeitschrift betrifft dies 85 Prozent der Veteranen mit einer diagnostizierten posttraumatischen Stressstörung, im Vergleich zu 22 Prozent ohne die Diagnose. Viel Erfolg dabei, dieses Phänomen vollständig wissenschaftlich zu erklären!

Warum ist Eis glatt?

In der Physik kenne ich mich, wie gesagt, nicht so gut aus. Im Mai 2018 überraschte mich aber eine Meldung in der Fachzeitschrift Nature, Experimente und Simulationen von Physikern würden eine ältere Theorie darüber widerlegen, warum Eis glatt ist. Glätte ist ein schönes Beispiel für eine emergente Eigenschaft, weil kein Wassermolekül für sich selbst glatt ist, sondern sich das erst in einer größeren und komplexeren Anordnung von Molekülen ergibt.

Laut der Meldung dachte man vorher, wenn man beispielsweise mit Schlittschuhen auf Eis steht, würde wegen des Drucks etwas Eis schmelzen. Auf dem so entstehenden Wasserfilm könne man dann gleiten (oder auch ausrutschen). Für Feldversuche müssen die meisten wohl bis zum nächsten Winter warten. Doch mancherorts erreichen die Temperaturen noch den Gefrierpunkt.

Eine neue Erklärung

Das neue Modell von Forschern an der Universität von Amsterdam und dem Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz erklärt Glätte aber anders: Auf der obersten Eisschicht seien die Wassermoleküle weniger verbunden und könne man über sie wie über Baumstämme rollen. Mit dem neuen Ansatz könne man auch erklären, warum Eis bei -7°C am glattesten sei und die Glattheit bis -70°C abnehme.

Wer hätte das gedacht, dass man sich im 21. Jahrhundert noch darüber auseinandersetzt, warum Eis glatt ist? Ich will mich hier keinesfalls über Physiker lustig machen und habe die Gespräche mit Vertretern dieses Fachs oder auch der Physikochemie oft als bereichernd empfunden.

Mir geht es darum, dass man nicht so tun soll, als habe man die Welt im Wesentlichen schon verstanden und sei der Rest nur noch eine Frage der Zeit. Wer weiß übrigens, ob es nicht irgendwann ein noch besseres Modell geben wird, das Glätte wieder anders erklärt?

Nach einer Zwischenbilanz und einem Ausflug zum nicht-reduktiven Materialismus und Physikalismus haben wir uns im zweiten Teil mit Alltagsbeispielen und wissenschaftlichen Erklärungen beschäftigt. Im dritten Teil betrachten wir den Naturalismus näher.