Hoch lebe die gerechte Gewalt!

Forderungen einer Mahnwache vor der russischen Botschaft in Berlin
Angesichts des Krieges in der Ukraine können sich die Deutschen wieder aus tiefster Ăberzeugung fĂŒr die militĂ€rische Eskalation begeistern. Dahinter steht eine Meta-ErzĂ€hlung (Teil 1)
Der Krieg in der Ukraine und der Geist der Zeit
Nicht diskutieren kann man dies: Wir sind inmitten der Gefahr eines militĂ€rischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafĂŒr trĂ€gt Russland die Verantwortung.
Frank-Walter Steinmeier, 13.2.2022 [1]
Jede und jeder einzelne von uns muss jetzt eine dezidierte und verantwortungsvolle Entscheidung treffen und Partei ergreifen.
Annalena Baerbock, 1.3.2022 [2]
Aber dennoch ist die Ăffentlichkeit das gröĂte Bildungsmittel fĂŒr die Staatsinteressen ĂŒberhaupt.
Hegel, 1821
Dass auch Deutschland im Krieg in der Ukraine inzwischen de facto, wenngleich noch nicht de jure, eine (Nato-)Kriegspartei ist, erfÀhrt der Einzelne alltÀglich am eigenen Leib: an der Inflationsrate, an der TanksÀule, beim Einkauf, angesichts seiner Energie-Rechnungen, die ihm ins Haus flattern, solange es Energie noch gibt.
Weiter in der politischen und massenmedialen Rund-um-die-Uhr-Betreuung und Kriegsberichterstattung. Protest, Massendemonstrationen und Generalstreiks dagegen gibt es nicht. Gekennzeichnet ist der gegenwĂ€rtige "Geisteszustand der deutschen Gesellschaft [3]" (Renate Dillmann) und der Geisteszustand der in den Nato-LĂ€ndern eingemeindeten Völkerschaften vielmehr dadurch, dass diese Völkerschaften in ĂŒberragender Mehrheit "als ParteigĂ€nger ihrer Regierungen im Krieg gegen Russland" (Suitbert Cechura [4]), die ukrainische Fahnen und FĂ€hnchen schwenken; und im Geiste vereint mit den USA und der Nato auf musikalisch-kĂŒnstlerischen Klein- und GroĂveranstaltungen singen und rufen: "Freiheit fĂŒr die Ukraine".
Weltweite Demonstrationen gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine (0 Bilder) [5]
Das seit Jahr und Tag dem zugrundeliegende, von der transatlantischen und deutsch-europÀischen politischen Klasse negativ gezeichnete Russland-Bild, zuoberst das des PrÀsidenten der Russischen Föderation, ist zweifelsohne recht erfolgreich bei den abendlÀndischen Völkerschaften angekommen.
Weshalb festzuhalten ist: "Auf diese sorgfĂ€ltig und mit eindeutiger Absicht ĂŒber Jahre aufgebauten Hassbilder fallen bedauerlicherweise sehr viele BĂŒrger herein." (Björn Hendrig [7])
Warum das so ist, scheint einer nĂ€heren Betrachtung wert. Dem nachzugehen, welchem NĂ€hrboden es sich verdankt, dass die staatlich produzierten Bilder des ausgemachten Feindes so fruchtbaren Anklang finden; dem nachzuspĂŒren, warum die Ăffentlichkeit, wie am Krieg in der Ukraine ersichtlich, "das gröĂte Bildungsmittel fĂŒr die Staatsinteressen ist" (Hegel) und es zustande bringt, den jeweils benötigten Geist der Zeit zu formen, auch das scheint lohnenswert.
Eine solche nĂ€here Betrachtung steht allerdings der bundesprĂ€sidialen Aufforderung, die Diskussion um die Ukraine-Frage habe beendet zu sein, entgegen; auch steht sie dem auĂenministeriellen Aufruf zur Pflicht entgegen, in der Ukraine-Frage gedanklich und praktisch Partei zu ergreifen.
Der moderne Gebrauch des Verstandes und sein Kompass
Die Maxime, dass das Denken, dass der Gebrauch des Verstandes eines "Wegweiser oder Kompass" (Kant 1786)1 [8] bedarf; einer grundlegenden "Orientierung" (Kant), die allem Denken und Nachdenken a priori innewohnt und dem Verstandesgebrauch dahingehend eingeschrieben sein soll, er möge in all seinem gedanklichen Tun angesichts der Welt des politischen Geschehens vor Augen haben und daran denken, was dieses oder jenes (auĂen- und welt-)politische PhĂ€nomen oder Ereignis fĂŒr "Uns", fĂŒr "unser Wir" bedeutet.
An diese Maxime erinnern die "offiziell bevollmÀchtigten Priester der Erinnerung"2 [9] ohne Unterlass, mögen sie Frank-Walter Steinmeier, Annalena Baerbock, Olaf Scholz, Joseph Biden, Emmanuel Macron, Boris Johnson oder sonstige Politiker sein.
Zur Unterstreichung dieser Maxime gerne assistiert durch politologisch geschulte Fachexperten fĂŒr welt- und geopolitische Fragen aus den sogenannten Denkfabriken, die ihrer stolzen Namensgebung durchaus gerecht werden.
Prinzipiell sehen die offiziellen Priester der Erinnerung keinerlei Grund, am "klaren Wertekompass" (Baerbock, Rede zur nationalen Sicherheitsstrategie [10], 18.03.2022) des modernen, des staatsbĂŒrgerlich gebildeten und politisierten Denkens und Nachdenkens zu zweifeln.
Bekommen sie doch alltÀglich, auch in jeder demokratischen Wahl und der darauffolgenden Legislaturperiode ganz praktisch bestÀtigt, dass der "klare Wertekompass" dem modernen Gebrauch des Verstandes zugrunde liegt und die Richtung weist, mithin wunschgemÀà funktioniert.
Die "Orientierung" (Kant) des Denkens und Nachdenkens am erfolgreichen Fortgang des als reinen Wert, als pure Abstraktion betrachteten "unser Wir" ist lĂ€ngst zur subjektiven Maxime, zum unbedingten, zum kategorischen Imperativ des Urteilens und theoretischen SchlieĂens geworden; und findet sich auf diese Weise in eins mit dem staatlichen Interesse am erfolgreichen Fortgang des verehrten "Wir". Dementsprechend sehen die theoretischen Urteile und SchlĂŒsse andererseits auch aus.
Keineswegs also lĂ€sst es der moderne, der staatsbĂŒrgerliche Gebrauch des Verstandes daran mangeln, bei all seinem Denken und Nachdenken in Anbetracht der (welt-)politischen Ereignisse sich konstruktiv zu fragen, was all das fĂŒr "uns", fĂŒr "unser Wir" bedeutet: Eingedenk dieser IdentitĂ€t, eingedenk dieses "höchsten Gutes" (Kant), das der staatsbĂŒrgerliche Verstand und Verstandesgebrauch fĂŒr sich weiĂ und als Dogma fixiert hat, kommt er in seinen Urteilen und SchlĂŒssen auch zu keinem anderen theoretischen Ergebnis, als die (welt-)politischen PhĂ€nomene und Ereignisse fĂŒr "gut" oder "schlecht", "vorteilhaft" oder "nachteilig" zu befinden â fĂŒr "uns".
Und denkt entlang dieses "höchsten Gutes" darĂŒber nach, was er, seiner privaten Meinung nach "besser" oder "am besten" fĂ€nde fĂŒr das heimatliche, fĂŒr das deutsche Wir, auch im Ukrainekrieg; und bekundet, auf der StraĂe befragt, in seinem Urteil eine ausgeprĂ€gte Gewaltbereitschaft und Liebe zur Gewalt: "Warum hat Deutschland so lange gezögert, endlich Waffen an die Ukraine zu liefern? Was, nur 5.000 Helme? Kann wirklich keine Flugverbotszone in der Ukraine errichtet werden?"
Die Ukraine-Frage â eine geopolitische Erinnerung
In Kraft gesetzt ist mit dieser "Verstandeshandlung" (Kant, a.a.O.: 267) "ein Denken, das sich auf Heimat, das Vaterland, die Nation bezieht und dessen Motivation im Interesse des Fortkommens, des Erfolgs, der Durchsetzung eben des nationalen Kollektivs besteht."3 [11] AuĂer Kraft gesetzt ist mit diesem "Gebrauche der Vernunft" (Kant, a.a.O: 272) "der distanzierte und unvoreingenommene Blick" (J. Schillo, a.a.O: 79).
Mit dem Ergebnis: "Wahrheit als Kriterium des Denkens im objektiven Sinne tritt dann endgĂŒltig beiseite; sie macht den nationalen Wahrheiten Platz." (J. Schillo, ebd.) Die haben ihr Kriterium der Wahrheit am zum höchsten Gut, zum reinen Wert erhobenen MaĂstab des "unser Wir".
So ist Raum geschaffen fĂŒr "eine breit angelegte und als nationaler Besitzstand definierte Erinnerungskultur." (J. Schillo, ebd.: 7) Einer jederzeit renovierungsbedĂŒrftigen und renovierungsfĂ€higen Erinnerungskultur, die das deutsche GedĂ€chtnis lĂ€ngst als Teil "eines gemeinsamen GedĂ€chtnisses" (Steinmeier, Rede zum Volkstrauertag [12], 14.11.2021) definiert; als Teil nicht nur einer "gemeinsamen europĂ€ischen Erinnerung" (Steinmeier, Ebd.), sondern als Teil einer transatlantisch-deutsch-europĂ€ischen Nato-Erinnerungskultur, die mit der GrĂŒndung der Nato am 4. April 1949 das Licht der Welt erblickte.
In der Ukraine-Frage gilt in der abendlĂ€ndisch-westlichen Wertegemeinschaft diese vom obersten Priester der abendlĂ€ndischen Erinnerungskultur verkĂŒndete Nato-Wahrheit als internationaler, transatlantischer und deutsch-europĂ€ischer Erkenntnisstand:
Ein Krimineller will die Nato-Erweiterung als ein imperiales Projekt darstellen, das darauf abzielt, Russland zu destabilisieren. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Die Nato ist ein VerteidigungsbĂŒndnis. Sie hat nie den Untergang Russlands angestrebt.
J. Biden, Warschau-Rede [13], 26.3.2022
Was heiĂt: In der seit eh und je kriegstrĂ€chtigen Ukraine-Frage ist es den politischen und massenmedialen Produzenten der westlichen (Welt-)Ăffentlichkeit mittels ihrer konsequenten Erinnerungsarbeit weitgehend gelungen, in ihrer alles beherrschenden "Meta-ErzĂ€hlung" (Shlomo Sand, a.a.O.: 48) sachliche Hinweise dieser Art von der Ăffentlichkeit fernzuhalten, mithin aus dem kollektiven GedĂ€chtnis der Nato-Völkerschaften zu tilgen:
Als die Sowjetunion zusammenbrach, verschob sich ihre Westgrenze um fast 1.000 Meilen (ca. 1.609 km) nach Osten, von der westdeutschen Grenze bis zur russischen Grenze zu Belarus. Die russische Macht hat sich nun so weit nach Osten zurĂŒckgezogen wie seit Jahrhunderten nicht mehr [...] Die Russen sahen in den Ereignissen in der Ukraine einen Versuch der Vereinigten Staaten, die Ukraine in die Nato zu ziehen und damit die Voraussetzungen fĂŒr den Zerfall Russlands zu schaffen. Offen gesagt, war an dieser russischen Sichtweise etwas Wahres dran [...]
Was Russland nicht tolerieren kann, sind enge Grenzen ohne Pufferzonen und seine Nachbarn, die sich gegen es verbĂŒnden. Deswegen werden Russlands kĂŒnftige Aktionen zwar aggressiv erscheinen, in Wirklichkeit aber defensiv sein.
George Friedman, Ukraine and the "Little cold War" [14], 04.03.2014
Oder, in anderen Worten: "Nicht wir rĂŒckten dicht an die Nato-Grenzen heran. Es ist die Nato, die bereits vor unserer HaustĂŒr steht. Russland kann nicht irgendwohin zurĂŒckweichen. Die Nato aber schon", so Sergej Netschajew, Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland [15] Ende Januar.
Gleichwohl war die Ukraine am 07.02.2019 so frei, das Beitrittsziel zu EU und Nato in der Verfassung zu verankern [16]. Dort heiĂt es:
Die Werchowna Rada der Ukraine entscheidet [...] BestĂ€tigung der europĂ€ischen IdentitĂ€t des ukrainischen Volkes und der Unverhandelbarkeit des europĂ€ischen und euro-atlantischen Weges der Ukraine [...] Festlegung der GrundsĂ€tze der Innen- und AuĂenpolitik, Umsetzung des strategischen Kurses des Staates zur Erreichung der Vollmitgliedschaft der Ukraine in der EuropĂ€ischen Union und in der Organisation des Euro-Atlantischen Vertrages.
Wie dem auch sei: fruchtbaren Boden findet die Meta-ErzĂ€hlung der Nato-Erinnerungskultur mit dem Narrativ von der Nato als einem nicht um die strategische Einkreisung Russlands bemĂŒhten VerteidigungsbĂŒndnis in der vorgefundenen, ausgeprĂ€gten Parteinahme und Parteilichkeit der in den Nato-LĂ€ndern eingemeindeten Völkerschaften fĂŒr ihr jeweiliges höchste Gut, fĂŒr ihr jeweils heimisches "unser Wir" und dessen Wohlergehen: im Interesse des Fortkommens, des Erfolgs, der Durchsetzung eben des nationalen Kollektivs (J. Schillo).
Vom Himmel gefallen ist dieses parteigewordene Denken fĂŒr "das groĂe Wir" (Ex-BundesprĂ€sident Gauck, 12.6.2012, "MutbĂŒrger in Uniform"-Rede [17]) allerdings nicht. Der eigentĂŒmliche Gebrauch des Verstandes, den der moderne StaatsbĂŒrger angesichts der Welt des Politischen sich zu eigen gemacht hat, muss ja einen Grund haben.
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[2] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2514698
[3] https://www.untergrund-blÀttle.ch/politik/deutschland/wie-deutschland-den-krieg-fuer-einen-nationalen-aufbruch-nutzt-6927.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Das-sind-die-Gewinner-und-Verlierer-des-Ukraine-Krieges-6608169.html
[5] https://www.heise.de/bilderstrecke/3360955.html?back=6672868;back=6672868
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[7] https://www.heise.de/tp/features/Jetzt-kennen-wir-keine-Parteien-mehr-6546837.html?seite=all
[8] https://www.heise.de/tp/features/Hoch-lebe-die-gerechte-Gewalt-6672868.html?view=fussnoten#f_1
[9] https://www.heise.de/tp/features/Hoch-lebe-die-gerechte-Gewalt-6672868.html?view=fussnoten#f_2
[10] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/baerbock-nationale-sicherheitsstrategie/2517738
[11] https://www.heise.de/tp/features/Hoch-lebe-die-gerechte-Gewalt-6672868.html?view=fussnoten#f_3
[12] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2021/11/211114-Gedenkrede-Volkstrauertag.html
[13] https://abcnews.go.com/Politics/full-transcript-president-bidens-speech-warsaw-russias-invasion/story?id=83690301
[14] https://worldview.stratfor.com/article/ukraine-and-little-cold-war
[15] https://russische-botschaft.ru/de/2022/01/31/gastbeitrag-des-botschafters-der-russischen-foederation-in-deutschland-sergej-j-netschajew-fuer-die-mitteldeutsche-zeitung/
[16] https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/2680-19?lang=uk#Text
[17] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/06/120612-Bundeswehr.html
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