Höchste Eisenbahn?

Stattdessen weniger Wagen, weniger Platz sowie mehr Stress für Fahrgäste und Beschäftigte.

"Das ist für uns als Mitarbeiter genauso unangenehm wie für Sie als Reisende. Wir kommen ja gar nicht mehr durch den Zug hindurch bei den Menschenmassen", sagt der ausgesprochen freundliche Zugbegleiter des privaten Bahnunternehmens ODEG, ein bebrillter Mann von circa 35 Jahren, der aus verständlichen Gründen hier nicht namentlich genannt sein möchte.

Es ist ein früher Mittwochnachmittag im Frühling, und der RE1 von Frankfurt/Oder über die Berliner Stadtbahn und Potsdam nach Magdeburg ist überfüllt, als wäre es hoher Berufs- oder Feiertagsverkehr. Ist es aber nicht. Sondern der anscheinend ganz normale Bahn-Wahnsinn, hier mit einer anscheinend neuen Weichenstellung in Richtung "Kürzen, bis es noch mehr quietscht".

Beim vergangenen Fahrplanwechsel am 11. Dezember 2022 hatte der Betreiber der Linie RE1 gewechselt. Diese Regionalexpress-Linie 1 ist eine der deutschlandweit meistgenutzten Regional-Bahnlinien mit enormen Pendleraufkommen zwischen Berlin, Potsdam und dem Umland. Betreiber dieser RE1 ist nicht wie 28 Jahre lang bisher die Deutsche Bahn, sondern nunmehr die "Ostdeutsche Eisenbahn GmbH" (ODEG).

Gefordert waren und versprochen wurden modernere Züge und deutlich mehr Kapazität an Sitzplätzen und nicht zuletzt für Fahrräder, Rollstühle, Kinderwagen und Gepäck. Gerade für die Linie RE1 war die Rede von 30 Prozent mehr Raum für die Fahrgäste.

Und die grün-gelben, laut Medienberichten 29 fabrikneuen Doppelstockzüge vom Typ Siemens Desiro HC sahen zunächst nicht nur gut aus, sondern boten tatsächlich mehr Kapazität. Statt der bisher fünf roten Doppelstockwagen der DB fuhren die ODEG-Züge meist mit sechs Wagen: vorn und hinten ein einstöckiger Triebwagen und in der Mitte vier Doppelstockwagen. Sicher nicht 30 Prozent mehr Platz als bisher, aber als treuer Bahnkunde ist man ja schon dankbar für etwas weniger Enge und Stress.

Nun aber, im März, fahren hier und jetzt auf einmal nicht mehr sechs, auch nicht fünf, sondern nur noch vier Wagen, davon lediglich zwei Doppelstockwagen (natürlich bleibt die gähnend leere RE 1. Klasse in einem der beiden Obergeschosse erhalten – soviel Platz muss sein). Das ist eine Senkung der Kapazität gegenüber den schlechten, alten DB-Zeiten um mindestens 30 Prozent.

Warum das denn, frage ich den erwähnten netten Zugbegleiter. Das habe, sagt er, der VBB veranlasst, also der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg. Denn Fahrgastzählungen hätten ergeben, dass die neuen, längeren Züge auf der RE1 nicht ausgelastet seien. Nun nehme die Herstellerfirma Siemens – auf Anordnung des den Schienenverkehr koordinierenden VBB – aus jedem der bisherigen Sechs-Wagen-Züge zwei komplette Doppelstock-Waggons heraus (klar, gerade die 2. Klasse).

Was mit diesen Wagen geschehe? Nun ja, vielleicht kämen die in China oder einem anderen Land zum Zuge, das den Schienenverkehr ernster nimmt als Verantwortliche hierzulande. Dabei hatte gerade derselbe VBB, der jetzt komplett in die andere Richtung zu fahren scheint, noch im Dezember vollmundig deutliche Verbesserungen in vieler Hinsicht versprochen.

Auf meine entsprechenden Fragen antwortet Joachim Radünz, der Sprecher des Verkehrsverbundes VBB: Ihm zufolge habe man keine veranlassten Kürzungen vorgenommen. "Das Kapazitätsangebot ist seit Fahrplanwechsel am 11. Dezember 2022 nicht verändert worden. Bereits seit Fahrplanwechsel, und damit so wie von den Aufgabenträgern bestellt, fahren einzelne Züge in der 4-Wagen-Komposition." Das sind laut Plan allerdings Fahrten in Rand- und Nachtzeiten, nicht am helllichten Tage. Solche Fahrten sind auch nicht Thema dieses Beitrages. Sondern normale Werktagsfahrten. Der Sprecher fährt fort:

Gleichwohl kommt es immer wieder zu vereinzelten Abweichungen aufgrund von Störungen. Im März war das der Fall bei weniger als drei Prozent der bestellten Leistungen. Wir gehen davon aus, dass sich dieser Prozentwert in den kommenden Monaten noch verringert. Wir befinden uns immer noch in der Einschwingphase des neuen Verkehrsvertrages.

Dann hätten der von mir im Zug befragte Bahner und ich offenkundig deutlich überproportional viel von diesen "weniger als drei Prozent" erleiden müssen. Mathematisch nicht ausgeschlossen, aber offen gesagt wenig wahrscheinlich.

Dem VBB-Sprecher zufolge hat es auch keine neueren Fahrgastzählungen gegeben: Die aktuell fahrende Kapazität sei "seit Fahrplanwechsel unverändert". Es sei auch nicht der Fall, dass Züge, wie vom befragten Bahnkollegen beschrieben, baulich gekürzt würden. Zu etwaiger Überfüllung in Zügen der Linie RE1 lägen "keine Kundenbeschwerden" vor. Insgesamt lasse sich feststellen, dass der Zugbetrieb auf der RE1 sehr gut funktioniere, die Sitzplatzkapazitäten ausreichten und sogar noch Reserven bestünden. Der VBB-Sprecher abschließend:

Wir sind gespannt, wie sich das Deutschlandticket auf die Verkehrsnachfrage auswirkt.

Der Bahn-Experte und Autor Winfried Wolf wiederum äußert auf Nachfrage, er halte es für "Unsinn", dass sich gerade auf dieser besonders viel genutzten Verbindung die Fahrgastzahl reduziert haben sollte. Er erlebe im Raum Berlin beinahe täglich, dass die Verhältnisse in Bahn und S-Bahn "chaotisch" seien. Die Bahn sei insgesamt "schlicht kaputt", Beschwerden landeten "meist im Reißwolf".

Was die Entscheidungen und Finanzierungen bei Verkehrsverbünden wie hier dem VBB angehe, sei die Lage wie folgt: Der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) werde von den Ländern bestellt und dabei weitgehend aus Bundesmitteln, den "Regionalisierungsgeldern", bezahlt. Wenn wie hier beim RE1 Kapazitäten vermutlich gekürzt würden, liege die Verantwortung dafür primär bei den Verkehrsministerien der beteiligten Bundesländer. Diese würden dann eventuell auf höhere Kosten (z.B. für Trassengebühren u.ä.) verweisen.

Laut Christfried Tschepe vom Berliner Fahrgastverband IGEB gab es "große Probleme" beim RE1 im Dezember/Januar.

Aber danach bis zum Beginn der Bauarbeiten zwischen Erkner und Fürstenwalde mit SEV fuhren die Züge weitgehend zuverlässig.

Christfried Tschepe