"Ich bin eher spirituell als religiös …"
Verlieren Religionen zunehmend an Attraktivität und Bindekraft, weil viele Zeitgenossen sich mittlerweile mehr für das Spirituelle interessieren? Eine deutsch-amerikanische Studie erforscht, was diejenigen, die sich als "eher spirituell" bezeichnen, damit überhaupt meinen.
"Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?" – Auf die berühmte Gretchenfrage gab es schon vor gut 200 Jahren nur ausweichende Antworten. Goethes "Faust" war kein Freund von weltanschaulichen Bekenntnissen, und mit präzisen Definitionen hatte er auch so seine Schwierigkeiten: " Nenn es dann, wie du willst, / Nenn' s Glück! Herz! Liebe! Gott / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch, / Umnebelnd Himmelsglut."
So oder so ähnlich sieht es wohl auch der moderne Weltbürger, wenn man Umfragen, dem viel zitierten Zeitgeist und den Zwischenergebnissen einer interkulturellen Studie der Universität Bielefeld und der University of Tennessee in Chattanooga (USA) glauben darf.
Das Projekt "Spiritualität in Deutschland und den USA", das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird, ist noch nicht beendet, doch ein bemerkenswerter Umstand steht bereits fest. "Ich bin eher spirituell als religiös" – dieser Satz findet die Zustimmung der Hälfte aller Befragten, unabhängig davon, ob sie selbst einer Religionsgemeinschaft angehören oder nicht. Telepolis sprach mit der Diplompsychologin Dr. Barbara Keller über ein interessantes Phänomen.
Frau Keller, wie bewegt man die Deutsche Forschungsgemeinschaft dazu, eine Untersuchung zum Thema "Spiritualität" zu fördern?
Barbara Keller: Indem man eine wissenschaftlich bedeutsame Fragestellung formuliert und einen innovativen Forschungsansatz bietet. Beides ist uns gelungen. Außerdem konnten wir auf die Ergebnisse einer ähnlich gelagerten, ebenfalls kulturvergleichenden Studie verweisen, die wir bereits vor einigen Jahren durchgeführt haben. Die internationale Ausrichtung durch die Kooperation mit der University of Tennessee in Chattanooga hat sicher auch eine Rolle gespielt. Wir arbeiten dort unter anderem mit Ralph W. Hood, einem der bedeutendsten Religionspsychologen der USA, zusammen.
Methoden der Religionspsychologie
Religion und Psychologie – ist diese Verbindung ein Teil des innovativen Ansatzes?
Barbara Keller: Durchaus. In Deutschland gehört dieser Bereich nicht zum psychologischen Fächerkanon, wie etwa Klinische Psychologie oder Arbeits- und Organisationspsychologie, und führt eher ein Nischendasein. Mit der Einbettung von Religionspsychologie in die empirisch und biographisch forschende Theologie, die Heinz Streib aufgebaut hat, hat die Universität Bielefeld da wirklich ein Alleinstellungsmerkmal. Darüber hinaus bemühen wir uns, das Thema "Spiritualität in Deutschland und den USA" mit unterschiedlichen Methoden anzugehen.
Via Internet wurden zunächst knapp 2.000 Menschen in Deutschland und den USA befragt. Wir führen nun rund 50 biographische Einzelinterviews mit deutschen Teilnehmern und noch einige mehr mit Teilnehmern aus den USA durch. Außerdem werden Assoziationsexperimente gemacht. Wir wollen dadurch einerseits Bezüge zu vorliegenden Studien und großen Umfragen ermöglichen, aber auch sicherstellen, dass die Befragten nicht nur zwischen vorgegebenen Alternativen wählen, sondern auch aus ihrem innersten Empfinden antworten können.
Kommen wir also zum Inhaltlichen: Wer Nachrichten schaut und Zeitungen liest, mag nicht recht an eine Erosion des Religiösen glauben.
Barbara Keller: Wir sprechen auch nicht von einer spirituellen Revolution, nicht einmal von einem Rückzug der Religionen. Wir haben allerdings - schon im Rahmen der Dekonversionsstudie – festgestellt, dass sich immer mehr Menschen als spirituell beschreiben. Diese Tendenz belegen auch andere Untersuchungen und zahlreiche Umfragen. Der Begriff taucht außerdem immer häufiger in der Selbstbeschreibung von wissenschaftlichen Vereinigungen, Zeitungen und anderen Publikationen auf.
Religionen werden weiter eine große Rolle spielen - und religiöse Fanatiker wohl auch in Zukunft die Schlagzeilen bestimmen. Doch wenn sich jeder zweite Teilnehmer unserer Studie als "eher spirituell als religiös" bezeichnet, deutet das auf einige grundlegende Veränderungen hin.
Es ist natürlich vollkommen unstrittig, dass Religionen nicht nur durch die Hinwendung zum "Spirituellen", was immer das sein mag, an Binde- und Überzeugungskraft verlieren. So hat beispielsweise der katholischen Kirche ein Missbrauchsskandal, der immer weitere Kreise zog, massiv geschadet.
Oberflächlich betrachtet unterscheiden sich Deutschland und die USA in diesem gesamten Themenkomplex grundlegend voneinander. Sehen Sie das auch so?
Barbara Keller: Ja und nein. Nach einer 2008 veröffentlichten Studie des Pew Research Center glauben 90 Prozent der Amerikaner an Gott. Das sieht hier anders aus. Die Stellung der Kirchen und Gemeinden ist ebenfalls völlig unterschiedlich. Eine so staatsnahe Positionierung wie in Deutschland gibt es in den USA nicht.
Andererseits konnten wir bereits in der Vorgängerstudie feststellen, dass sich in Deutschland und in den USA sehr viele Mitglieder religiöser Organisationen "eher spirituell" definieren. Ihr Anteil war in den USA mit 37 Prozent sogar doppelt so hoch wie in Deutschland, wo er bei 18,3 Prozent lag.
Versuch einer Begriffsbestimmung
Nun aber: Was verstehen die Teilnehmer unter dem Begriff Spiritualität?
Barbara Keller: Da gibt es – wie kaum anders zu erwarten - eine schier endlose Bandbreite. Leute, die sagen: "Ich glaube an Gott, bin aber nicht Mitglied einer Kirche." Andere, die an irgendetwas glauben, aber "nicht so naiv sind", den alten Mann mit Bart für den lieben Gott zu halten. Wieder andere, die eine innige Verbundenheit mit dem Kosmos verspüren oder Spiritualität als eine Ausdrucksweise ihres religiösen Glaubens sehen. Gerade im Katholizismus gibt es ja verschiedene Strömungen in dieser Richtung.
Das ist alles nicht verwunderlich, denn wir erleben auch eine rege Diskussion über die wissenschaftliche Dignität solcher Begriffe. Ist Spiritualität das Umfassende und die Religion nur eine Spielart, oder verhält es sich genau umgekehrt?
Und Sie wollen das jetzt semantisch auseinanderdividieren. Kann dabei ein anderes Ergebnis herauskommen als das berühmte Bonmot des Alten Fritz, demzufolge jeder nach seiner Fasson selig werden soll?
Barbara Keller: Die Frage ist ja, warum er sich für eine Variante entscheidet und welche Konsequenzen daraus entstehen. Die biographischen Einzelinterviews werden eine wichtige Rolle spielen. Hier analysieren wir die Entwicklung individueller Glaubensvorstellungen, um sie in Beziehung zu den einzelnen Lebensgeschichten zu setzen.
Es geht allerdings nicht nur um eine Sammlung individueller Befindlichkeiten und ihre Dokumentation. Das Projekt will die Semantiken, die mit der Selbstbeschreibung "spirituell" verbunden sind, dokumentieren und, wenn möglich, unter bestimmten Gesichtspunkten systematisieren. Deshalb forschen wir nach der Funktion von Selbstbeschreibungen wie Religiosität und Spiritualität, um sie im Kontext psychologischer und soziologischer Größen zu betrachten. Dabei geht es um Persönlichkeitsmerkmale, Wohlbefinden, Generativität, aber auch um Faktoren wie Bildung, Einkommen oder auch Geographie und Geschichte, wenn Sie etwa an den Unterschied zwischen den neuen und den alten Bundesländern denken.
Bad Guy – Good Guy
Kirchen und Religionsgemeinschaften pflegen aus unterschiedlichsten Gründen soziale Aspekte und verbinden mit ihrer heilsgeschichtlichen Botschaft immer wieder politische Aufträge. Was wird daraus, wenn sich Menschen vorwiegend spirituell empfinden?
Barbara Keller: In der amerikanischen Literatur werden bereits Trends beschrieben, unterschieden wird zwischen institutionell erstarrter Religiosität als dem "Bad Guy", und der individuell verankerten Spiritualität als "Good Guy". Da geht es also gar nicht darum, dass Spiritualität zu einer Flucht aus sozialer und politischer Verantwortung führen kann, sondern um positive Assoziationen wie Freiheit, Unkonventionalität bis hin zu vielen New-Age-Klischees. Mit Religiosität als "Bad Guy" ist hingegen die Vorstellung enger, regelorientierter, sehr hierarchischer Systeme verbunden.
Dementsprechend hatten wir auch Teilnehmer, die Spiritualität nur vage beschreiben konnten, dafür aber ein klares semantisches Profil für Religionen formulierten, die sie als unflexibel, autoritär, intolerant oder destruktiv empfanden.
Ihre Frage wird sich genauer beantworten lassen, wenn wir die Interviews ausgewertet haben. Wir untersuchen hier auch die Beziehungen zu verschiedenen Gruppen sowie das Verhältnis zu Werten und Verpflichtungen. Daraus können dann wieder Rückschlüsse auf soziale Auswirkungen oder politische Ambitionen gezogen werden.
Spirituelle Atheisten
Wagen Sie einen Blick in die Zukunft! Wie könnten Ihre Umfrageergebnisse in 20 Jahren ausfallen?
Barbara Keller: Das kann ich unmöglich prognostizieren. Es hängt viel davon ab, wie sich die großen Zusammenhänge entwickeln. Religion und "Spiritualität" interagieren mit politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Prozessen, die jetzt niemand voraussagen kann. Wir werden vermutlich eine Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Haltungen und Überzeugungen beobachten, der Begriff "Patchwork" hat sich auch in diesem Bereich bereits etabliert.
Man darf besonders gespannt sein, wie unterschiedliche, auf Religiöses bezogene Identifikationen mit- und gegeneinander den sozialen Raum oder auch ganz konkret die Stadtbilder gestalten. Dort stoßen sie jetzt schon aufeinander, etwa beim Streit um den Bau von Moscheen in Deutschland. Wie schnell sich die Ansichten und Einstellungen ändern können, zeigt, um beim Thema zu bleiben, auch der viel zitierte Satz des zurückgetretenen Bundespräsidenten. Vor 20 oder 30 Jahren wäre die Feststellung, dass auch der Islam zu Deutschland gehört, völlig undenkbar gewesen.
A propos undenkbar. Gab es ein Ergebnis im Rahmen Ihrer Untersuchung, mit dem Sie überhaupt nicht gerechnet hätten – das vielleicht sogar weitere Forschungen nach sich ziehen könnte?
Barbara Keller: Ja, das gab es. Wir haben fünf Gruppen unterschieden: Theisten, die eher religiös als spirituell sind, Theisten, die beides gleichrangig betrachten, und Theisten, die sich als "eher spirituell" definierten. Dazu kam eine Gruppe von Atheisten und Nontheisten, die mit Religion und Spiritualität nichts anfangen konnten, sowie Atheisten und Nontheisten, die sich als eher "spirituell" beschrieben.
Atheisten und Nontheisten mit einem Hang zur Spiritualität?
Barbara Keller: Ja, um die geht es. Diese Gruppe ist sehr klein, aber natürlich extrem auffällig. Dieser Zusammenhang hat uns wirklich überrascht, und wir hoffen, dass die DFG nach dem Abschluss des laufenden Projekts eine weitere Studie zu diesem Thema unterstützen wird.