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Idlib: Al-Nusra/HTS ist das gefährlichere Monster

HTS-Kämpfer rufen dazu auf, sich der" wahren syrischen Revolution" anzuschließen

Das IS-Kalifat verschwindet, für die Herrschaft der Dschihadisten in Idlib gibt es noch keine Lösung. Lawrow mahnt die Türkei vergebens

Der russische Außenminister Sergej Lawrow erinnerte gestern die Türkei an die Verpflichtungen, die sie vergangenen September mit Russland eingegangen ist. Im syrischen Idlib gebe es noch immer "Brutstätten terroristischer Präsenz", mahnt Lawrow laut Tass [1]: "Zu allererst betrifft dies die Hayat Tahrir al-Sham-Miliz (HTS), die provokante Überfälle gegen Zivilisten wie auch gegen das russische und syrische Militär unternimmt."

Der Wortlaut ist, soweit ihn die russische Nachrichtenagentur ins Englische übersetzt, nicht besonders scharf. Der Außenminister spricht davon, dass Russland die türkischen Partner dazu "ermuntere", seine Verpflichtungen aus dem gemeinsamen Abkommen zu erfüllen. Lawrow weiß, dass die Vorgabe, die Situation in Idlib zu "stabilisieren", nicht einfach ist.

Besonders schwierig gestaltet sich die Erfüllung des Passus aus dem Abkommen, der vorsieht, dass sämtliche Terroristen, worunter HTS, aka die al-Nusra-Front, ganz ausdrücklich gehört, aus der vereinbarten Deeskalationszone in Idlib abziehen sollen. Bislang sieht es überhaupt nicht danach aus.

Ganz im Gegenteil: Anfang des Jahres hat Hayat Tahrir al-Sham-Miliz seine Dominanz in Idlib ausgebaut und in den letzten Wochen gefestigt und niemand hat offensichtlich eine praktikable Lösung parat, wie der HTS-Herrschaft beizukommen ist. Daher rührt auch die relative Geduld der russischen Verhandlungspartner und deren syrischer Verbündeter. Es sind verschiedene Interessen im Spiel.

Verhandlungen zwischen USA und Türkei

Lawrows Interesse an der Ermahnung steht höchstwahrscheinlich im Zusammenhang mit Verhandlungen zwischen der Türkei und den USA. Derzeit ist eine US-Delegation in Ankara. Zu den Gesprächen gehört, wie der US-Think-Tank Washington Institute betont [2], das Thema türkisch kontrollierte "Pufferzone" in Nordsyrien. Eine solche "safe Zone" entlang der türkisch-syrischen Grenze [3], um die YPG auf Abstand zu halten bzw. zu bekämpfen, ist ein seit langer Zeit gehegter Wunsch von Erdogan. Der Erfüllung stand immer etwas im Weg.

Nun versucht Erdogan die Gelegenheit, die ihm der angekündigte Abzug der USA neu in die Hände spielt, geschickt zu nutzen. Die "Kooperation", die die US-Vertreter in Ankara mit türkischen Vertretern aushandeln, sollte nach Ansicht der Türkei darauf hinauslaufen, dass türkisches Militär und Verbündete die "Lücke" in der nordsyrischen Provinz Hasaka füllen, welche der Abzug des US-Militärs lassen würde.

Diese Hoffnungen finden sich in den strategischen Überlegungen des Think Tanks wieder. Man muss dazu im Hinterkopf haben, dass dergleichen Institutionen von den Konflikten leben und daher häufig Vorschläge offerieren, die eher nicht zur Deeskalation beitragen.

Das Paper [4] des US-Think Tanks geht so weit, die neoosmanisch inspirierte safe zone als "gemeiname vertrauensbildende Maßnahme" [5] zu schildern. Diese würde statt US-Truppenabzug sogar eine Verstärkung der amerikanischen Militärpräsenz verlangen (was momentan in der US-Führung auch überlegt wird). Die sei nötig, um den IS weiter zu bekämpfen (und wäre auch nötig, um die kurdischen US-Verbündeten vor türkischen Soldaten oder islamistischen Milizen zu schützen). Wichtiges Motiv dieser Vision des Washington Institute: der eigentliche Gegner Russland.

Man müsse verhindern, dass die Türkei russische S-400-Flugwabwehrsystem kaufen. Das ist, wie Hürriyet Daily News [6] von den Verhandlungen zwischen den US-Vertretern und der türkischen Führung berichtet, ein zentraler Punkt.

Das Versprechen einer safe zone wäre ein geeignetes Gegenangebot, um dieses Geschäft zu verhindern, gerade jetzt, kurz vor den Kommunalwahlen, plädiert das Washington Institute. Die US-Regierung würde damit aber ihre kurdischen Partner in große Schwierigkeiten bringen. Dass die Türkei und ihre Verbündeten, einmal in östlichen Nordsyrien einmarschiert, Kurden der YPG verschonen würden, ist nicht wahrscheinlich.

HTS-Miliz in Idlib: Richter über Leben und Tod

Indessen demonstriert die HTS-Miliz in Idlib, dass sie dort über Leben und Tod richtet. Laut aktuellen Berichten hat sie zehn Mitglieder der IS-Miliz auf offener Straße erschossen [7], angeblich [8] weil diese am Tag zuvor einen Sprengstoffanschlag auf ein Restaurant verübt hatten.

Diese Version, die niemand offiziell stützen kann - wer sollte das auch können, da die HTS auch die Interimsregierung kontrolliert -, wird von leidgeprüften IS-Kennern [9] bestritten. Nach Aussagen von Theo Padnos gehören derartige Aktionen zum brutal-politischen Modell der HTS [10], die sich den nächsten Nachbarn greift, um ihre absolute Macht zu demonstrieren.

Kämpfe und Konkurrenzverhältnisse zwischen den im Kern der al-Qaida entstammenden [11] Milizen in Idlib, zwischen HTS und ihren "Brüdern", flammen sporadisch immer wieder mal auf, wie dies beispielhaft der französische Historiker Matteo Puxton [12] schildert. Puxton, der den IS sorgfältig anhand von Bildmaterial und Berichten verfolgt, geht dabei sehr ins Detail. Das ist etwas für interessierte Spezialisten. Außerhalb interessierter Kreise haben die Aktivitäten des IS in Idlib und dessen Konkurrenzkämpfe mit HTS bisher kaum Aufmerksamkeit erzielt.

Flucht der IS-Milizen Richtung Idlib?

Durch die Kämpfe in den letzten Resten des IS-Kalifats im Südosten Syriens ändert sich das etwas, da es nun Befürchtungen gibt, dass IS-Kämpfer nach Idlib fliehen, in das letzte Refugium des syrischen Dschihad. Konkrete Berichte, die solche Fluchtbewegungen in einem auffallenden Maß schildern, gibt es nur zur Flucht von IS-Kämpfern Richtung Irak [13]. Gut möglich, dass die brutale "Hinrichtungs-Schau" des HTS in Idlib auch darauf ausgerichtet ist, IS-Binnenflüchtlinge einzuschüchtern ("geht nur mit totaler Unterwerfung"), wenn nicht abzuschrecken.

Die al-Nusra/HTS-Medienarbeit, die seit einigen Jahren ihre dankbaren Abnehmer auch unter westlichen Publikationen findet, hat ihr oberstes Ziel darin, die Miliz als "syrische Opposition wie andere" auch darzustellen, als Truppe sunnitischer Revolutionäre von nebenan. Die vielen fremden Kämpfer der Konkurrenz, die obendrein ebenso einen Alleinherrschaftsanspruch hat, passen nicht ins Idlib-Konzept der HTS.

Dieses läuft darauf hinaus, dass die Gruppe realpolitisch als Opposition akzeptiert wird, dass sie keine russischen Luftangriffe und keine Bodenoffensive der syrischen Armee und ihrer verbündeten Milizen befürchten muss. Dies zu arrangieren, ist im Grunde unmöglich, da weder die syrische Regierung noch die russische davon abrücken wird, die HTS als Terroristen zu bezeichnen. Die Schlüsselrolle in dieser Situation hat die Türkei.

Es wird sehr schwierig für die Garantiemacht Türkei, in Gegnerschaft zur HTS für Ruhe und Ordnung in Idlib zu sorgen, geschweige denn einen Abzug der Miliz herbeizuführen - außer alle HTS-Milizen verschwinden im Gewand von FSA-Einheiten.

Gerade hat die HTS eine anstrengende Kurs-Diskussion mit astreinen al-Qaida-Dschihadisten hinter sich gebracht, die darauf hinauslief, dass HTS die Kontrolle über die Waffen behält und vielleicht ideologisch nicht völlig auf Linie ist, wie es die Dschihad-Hardliner wünschen, aber doch so, dass es einen gemeinsamen Nenner gibt (vgl. dazu Strategische Spiele um die Terroristenhochburg Idlib [14]). Und den gibt es anderseits auch mit der Türkei. Wie sich dieser Nenner aber praktisch auf längere Frist in Idlib umsetzen wird, ist noch offen.

Die militärische Lösung

Die militärische Lösung - Angriffe auf al-Nusra - ist für Syrien und Russland nicht ganz einfach, weil man Verluste befürchten muss, nicht nur in den Reihen der syrischen Armee und ihrer Verbündeten, sondern auch in der Bevölkerung.

Internationale Schlagzeilen mit vielen Opfern durch Angriffe auf Idlib hätten ungünstige politische Auswirkungen - zum Beispiel auf den sich gerade noch einmal von den USA gebremsten Annäherungsprozess [15]mit anderen arabischen Staaten. Dazu kommen die Nöte in der Bevölkerung durch die US- und die europäischen Sanktionen ("Der neue Krieg" [16]).

Das sind keine günstigen Voraussetzungen für eine aufreibende Offensive. Deswegen zögern Russland und Syrien die Offensive auch hinaus und deswegen sind die mahnenden Worte Lawrows nicht wirklich scharf.


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Links in diesem Artikel:
[1] http://tass.com/politics/1047227
[2] https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/view/a-turkish-safe-zone-in-syria-prospects-and-policy-implications
[3] https://twitter.com/FabriceBalanche/status/1101953163819708417
[4] https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/view/a-turkish-safe-zone-in-syria-prospects-and-policy-implications#.XHp-cqG-ibs.twitter
[5] https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/view/a-turkish-safe-zone-in-syria-prospects-and-policy-implications#.XHp-cqG-ibs.twitter
[6] http://www.hurriyetdailynews.com/us-officials-visit-ankara-for-syria-and-s-400-talks-141614
[7] https://twitter.com/p_vanostaeyen/status/1101875899178340353
[8] https://syria.liveuamap.com/en/2019/2-march-as-response-on-the-suicide-attack-on-a-restaurant
[9] https://www.nytimes.com/2018/03/14/opinion/syria-hostage.html
[10] https://twitter.com/TheoPadnos/status/1102326056302886913
[11] http://www.francesoir.fr/en-coop-matteo-puxton/syrie-comment-al-qaida-reprend-pied-en-zone-djihadiste
[12] http://www.francesoir.fr/rubrique/matteo-puxton
[13] https://apnews.com/3b31a01ef86d4e6184fa9d6e5420f3d2
[14] https://www.heise.de/tp/features/Strategische-Spiele-um-die-Terroristenhochburg-Idlib-4308683.html
[15] https://twitter.com/EHSANI22/status/1102393090722201605
[16] https://twitter.com/EHSANI22/status/1100935086344728576