Im Schatten des Israel-Gaza-Krieges: Nato-Partner Türkei im Dschihad-Modus

Nach außen hin will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan er die moderatere Form des Islam verkörpern. Symbolbild: ANF

Der andere Nahostkonflikt: Türkische Luftwaffe bombardiert zivile Infrastruktur und Dörfer in Nordostsyrien. Wo stehen Deutschland und die EU in diesem Fall?

Im Schatten der aktuellen Eskalation des Israel-Palästina-Konflikts durch den Angriff der islamistischen Hamas aus dem Gazastreifen eskaliert im Nahen Osten noch ein weiterer Krieg, der es seltener in die Schlagzeilen der großen westlichen Medien schafft. Auch wird in diesem Fall seltener die Frage gestellt, inwieweit EU-Gelder direkt oder indirekt Dschihadisten zugutekommen.

Seit Tagen zerstören türkische Kampfflugzeuge und Drohnen zivile Infrastruktur in Nordostsyrien. Sowohl Zivilpersonen als auch Sicherheitskräfte der autonomen Region kamen dabei ums Leben. Wenige Jahre, nachdem sich die Region erfolgreich gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) verteidigen konnte und dabei mit der US-Armee kooperierte, wird sie von einer anderen Nato-Armee einmal mehr zum Schlachtfeld gemacht.

Der türkische Außenminister Hakan Fidan hatte am Mittwoch auf einer Pressekonferenz Angriffe auf die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien angekündigt und deren gesamte Infrastruktur und Energieversorgung zum legitimen Angriffsziel erklärt.

Nach seiner Lesart sind die Bombardements eine gerechte Kollektivstrafe für den Selbstmordanschlag vom 1. Oktober auf die Generaldirektion für Sicherheit des Innenministeriums in Ankara, zu dem sich eine der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zugehörige Gruppe bekannte. Beide Angreifer seien aus Syrien gekommen, behauptete Fidan.

Die Autonomieverwaltung Nord- und Nordostsyriens (AANES) weist das zurück: "Es scheint, dass unsere Region immer dann ins Visier genommen wird, wenn die Türkei ein Problem oder eine Frage hat. Die Türkei vergisst bequemer Weise die extremen Verschärfungen an ihren Grenzen zu Syrien", erinnerte die Autonomieverwaltung am Donnerstag.

"Wir verstehen nicht, wie Grenzübertritte möglich sein sollen, wenn die Türkei selbst ihre eigenen Verfahren verschärft und hohe Barrieren an ihren Grenzen zu Syrien errichtet."

Ein Dementi kam auch vom Generalkommandanten der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), Mazlum Abdi, auf der Plattform X (ehemals Twitter) und schreibt: "Die Attentäter in Ankara sind nicht durch unsere Region gereist, wie türkische offizielle Stellen behaupten, und wir sind weder an dem internen Konflikt der Türkei beteiligt noch unterstützen wir eine Eskalation."

Die Türkei suche nach Vorwänden, um ihre anhaltenden Angriffe auf unsere Region zu legitimieren und eine neue militärische Aggression zu starten, so Abdi. "Die Drohung, die Infrastruktur, die wirtschaftlichen Ressourcen und bewohnte Städte der Region ins Visier zu nehmen, ist ein Kriegsverbrechen, wie wir es schon einmal erlebt haben."

UN-Generalsekretär warnt vor Eskalation

Eine Eskalation befürchtete auch der UN-Generalsekretär António Guterres. Er verurteilte den Anschlag in Ankara und appellierte an beide Seiten, eine Eskalation zu verhindern.

Das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad mahnte in einem Newsletter nach dem Anschlag in Ankara, dass der Weg für eine friedliche Lösung in Kurdistan geebnet und der Dialog mit der kurdischen Seite eröffnet werden müsse. Der Anschlag in Ankara mache die Dringlichkeit einer Wiederaufnahme der Friedensgespräche mehr als deutlich.

Der Dialog mit der kurdischen Seite sei der einzige Schlüssel zur Lösung des Konflikts. Wenn die internationale Staatengemeinschaft ernsthaft an einem Frieden in der Türkei und dem Nahen Osten interessiert sei, müsse sie den Druck auf die türkische Regierung erhöhen, damit sie ihre Kriegshandlungen einstelle. Nur so könnten Anschläge wie in Ankara in Zukunft verhindert werden.

Die Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan sei nicht nur ein Problem für die Kurd:innen, sondern auch ein vehementer Störfaktor in der internationalen Politik. Khaled Davrisch, der Vertreter der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Deutschland, betonte im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau, dass die Luftangriffe auf die Regionen Nord- und Ostsyriens zu erheblichen menschlichen und finanziellen Verlusten führen und eine tragische Flüchtlingskrise auslösen würden.

Türkei ignoriert internationale Appelle und Warnungen

Die türkische Regierung ignorierte alle Appelle und startete am Donnerstag großflächige Luftangriffe auf überwiegend zivile Infrastruktureinrichtungen in Nordsyrien, die bis zum Sonntagabend noch anhielten.

Türkische Kampfjets und Kampfdrohnen drangen in den von den USA kontrollierten Luftraum der Autonomieregion ein und bombardierten bis Samstag zunächst 29 Dörfer und Städte, fünf Umspannwerke, sieben Ölförderanlagen, zwei Trinkwasserstationen, eine Gasförderanlage, Tankstellen, Fabriken, ein Camp für Geflüchtete aus dem 2019 türkisch besetzten Sere Kaniye sowie den Staudamm von Cil Axa. 17 Todesopfer wurden bis Samstagabend bestätigt.

Am Sonntag setzte die türkische Luftwaffe ihre Angriffe mit der Bombardierung der City von Ain Issa fort, mindestens eine Zivilistin kam ums Leben. Am Montag starben dort zwei Kinder im Grundschulalter durch Artillerieangriffe, meldet die kurdische Nachrichtenagentur ANF. Ebenfalls am Sonntag wurde das 15 Kilometer von Dêrik entfernte Ain Diwar mit Haubitzen aus der Türkei beschossen.

Durch die Bombardierungen wurde unter anderem die Energieinfrastruktur von Hesekê, Qamişlo und Amûdê zerstört, weite Teile der Regionen sind von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten.

Bei einem Luftangriff der türkischen Armee am Ortseingang von Dêrik (Al-Malikiya) ist ein Krankenhaus, das auf die Behandlung schwerer Covid-19-Verläufe spezialisiert war, komplett zerstört worden. Zusammen mit der dortigen "mobilen Klinik", einem Gesundheitsprojekt des Berliner Vereins Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik und der Stiftung der Freien Frau in Syrien (WJAS), war das Corona-Krankenhaus für zahlreiche Menschen im ländlichen Umland Dêriks die einzige Anlaufstelle.

Vorsätzliche Luftangriffe auf Krankenhäuser stellen nach dem Völkerrecht Kriegsverbrechen dar.

Bewusste Angriffe auf rein zivile Ziele sind Kriegsverbrechen, egal, ob sie in Nordsyrien, in der Ukraine oder sonst wo stattfinden... Die Zerstörung ziviler Ziele ist auch nicht durch das Recht zur Selbstverteidigung nach Artikel 51 der Uno-Charta gedeckt. Es handelt sich hierbei um völkerrechtswidrige Angriffe.(...)

Dass die Menschen in Nordsyrien ohne Wasser, Strom und Gas kaum überleben können, dürfte für jeden Menschen klar sein. Wir befürchten in den nächsten Monaten eine weitere Zunahme von Geflüchteten nach Europa.


Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e. V.

Die zivilgesellschaftliche Initiative "Make Rojava Green Again" (MRGA) berichtete gegenüber Telepolis aus Dêrik, die zentrale Stromversorgung sei dort ausgefallen. Momentan würden "Nachbarschaftsgeneratoren" betrieben. "Dadurch kann zumindest eine minimale Stromversorgung aufrechterhalten werden." Insgesamt sei "ein riesiger Schaden entstanden, von dem noch unklar ist, inwieweit er in nächster Zeit behoben werden kann".

Die Bevölkerung sehe nun "noch einmal deutlicher, dass das alltägliche Problem der Versorgung der Bevölkerung ihre wesentliche Ursache in der Feindschaft der Türkei gegenüber der Selbstverwaltung hat." Ein Großteil der Bevölkerung wisse "auch sehr gut, dass das Problem nicht die PKK ist und dass die feindliche Haltung der Türkei auch unabhängig von ihr besteht - und es immer wieder zu Angriffen kommen kann".

Sonntagnacht wurde außerdem die Zentrale der Sicherheitskräfte (Asayîş) der Autonomieverwaltung in Dêrik zum Angriffsziel der türkischen Luftwaffe. 29 Sicherheitskräfte seien dabei getötet und 28 verletzt worden, meldete die kurdische Nachrichtenagentur ANF.

EU-Grenzwächter produziert selbst Fluchtursachen

Mit der Verfolgung der Minderheiten, der Hasspropaganda staatlich kontrollierter Medien und der aggressiven Außen- und Innenpolitik produziert die türkische Regierung sowohl im eigenen Land als auch im Irak und in Syrien immer wieder neue Fluchtursachen.

Die Wasserpolitik der Türkei mit ihren Staudamm-Projekten, die Syrien und dem Irak das Wasser abgraben, sowie die gezielte Sperrung oder Minimierung der vertraglich geregelten Durchflussmenge hat erhebliche ökologische und versorgungstechnische Folgen für die Bevölkerung in Nordsyrien und im Nordirak.

Wenn die Bauern ihr Land nicht bewässern und deshalb ihre Familien nicht mehr ernähren können, wandern sie entweder in die Metropolen ab oder migrieren. Das war auch einer der vielen Gründe für den Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien gegen das Assad-Regime: Die überwiegend staatenlose kurdische Bevölkerung des Nordens wanderte in die Metropolen ab und versuchte dort unter prekären Bedingungen zu überleben.

Weil das AKP-Regime die Türkei heruntergewirtschaftet hat, will es sich nun der einst willkommen geheißenen syrischen Geflüchteten entledigen. Dafür baut sie mit Hilfe von Katar billige Siedlungen in den von ihr besetzten nordsyrischen Gebieten Afrin, Sere Kaniye und Gire Spi.

Mit Versprechungen werden loyale arabisch-syrische Familien, sowie die Angehörigen der islamistischen Milizen dort angesiedelt, um einen demographischen Wandel zuungunsten der angestammten Bevölkerung zu bewirken. Im 2018 besetzten Afrin, das vorher zu 95 Prozent von Kurden bewohnt war, leben heute kaum noch 20 Prozent Kurden. Religiöse Minderheiten wie einst Eziden, Christen oder Armenier gibt es dort nicht mehr.

Sie sind allesamt entweder ins Ausland geflohen, oder, wer nicht das Geld zur Flucht hatte, lebt seit 2018 in den Flüchtlingscamps der Selbstverwaltung in der benachbarten Sheba-Region. Wegen der Besatzung weiterer Gebiete durch die Türkei und wegen der Nähe zu Gebieten, die das syrische Regime kontrolliert, ist die Selbstverwaltung kaum in der Lage, die Sheba-Region zu versorgen. Hier wäre dringend Unterstützung durch die großen internationalen Hilfsorganisationen nötig.

Es ist paradox: Die Türkei produziert durch ihre aggressive Politik immer neue Fluchtursachen, lässt sich aber zugleich mit europäischen Geldern dafür bezahlen, dass sie Flüchtende auf dem Weg nach Europa aufhält. Internationale Konflikte werden von ihr ausgenutzt, um sich selbst als Vermittler ins Spiel zu bringen – dabei verfolgt Erdogan immer nur seine eigenen Interessen.

Geschickt vermittelt er das Bild, eine moderatere Form des Islam als die radikalen Islamisten von Al Qaida und IS zu protegieren. Dabei finanziert die Türkei selbst die Söldner der sogenannten "Syrischen Nationalen Armee (SNA)", deren Mitgliedschaft zum Teil aus Al Qaida und IS-Terroristen besteht und die in den türkisch besetzten Gebieten Nordsyrien ein Terrorregime ausübt.

In Westeuropa wird das Agieren des Nato-Partners Türkei kaum zur Kenntnis genommen, während es aktuell durchaus Thema ist, welche EU-Gelder möglicherweise auch indirekt an palästinensische Bündnispartner der islamistischen Hamas geflossen sind. Die EU-Kommission setzt nun Zahlungen für Entwicklungsprojekte in Palästina vorerst aus: Alle Projekte und Organisationen sollen neu überprüft werden.

Auch in Deutschland funktionieren die AKP-Netzwerke ähnlich: Es wird auf die salafistischen Organisationen gezeigt, um den von der Religionsbehörde Diyanet in Ankara finanzierten Dachverband Ditib moderat erscheinen zu lassen.

Die bundesdeutschen Behörden, Wohlfahrtsverbände und Kirchenverbände gehen dem smarten, angeblich weltoffenen Auftreten der Ditib-Funktionäre auf den Leim, unterzeichnen Staatsverträge, lassen Ditib Islamunterricht an Schulen durchführen, lassen Ditib-Imame als "Seelsorger" in die Gefängnisse.

Westliche Medien und Politik reagieren auf die völkerrechtswidrigen türkischen Angriffe nur noch auf der phänomenologischen Ebene. Die Frage nach den Ursachen von Aufständen oder Anschlägen in der Türkei wird überhaupt nicht mehr behandelt. Dass die Entstehung der PKK ein Ergebnis der grausamen Unterdrückungs- und Assimilierungspolitik der türkischen Regierungen an der kurdischen Bevölkerung seit Atatürk ist, wird ausgeblendet.